Ergebnisse von Meinungsumfragen zur aktuellen Entwicklung im Osten sind (fast) immer spannend. Aber was ist eigentlich langfristig und grundsätzlich gesehen, über aktuelle Stimmungen und häufig taktisches Wahlverhalten hinaus, seit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik in den Köpfen junger Ostdeutscher, in ihrem politischen Bewusstsein vor sich gegangen?
Sind sie mittlerweile froh, in einem geeinten kapitalistischen Deutschland zu leben oder hätten sie lieber die DDR zurück? Was halten sie nach dem selbst erlebten Zusammenbruch des Sozialismus noch von sozialistischen Idealen? Wie zuversichtlich sehen sie ihre eigene Zukunft und die ihrer Kinder?
Diesen und vielen weiteren Fragen geht die »Sächsische Längsschnittstudie« des Leipziger Soziologen Prof. Peter Förster nach, der gerade die Untersuchung der 20. Erhebungswelle abgeschlossen hat. Die Längsschnittstudie ist eine besondere Art sozialwissenschaftlicher Untersuchung, die leider nur noch selten praktiziert wird, aber einen wesentlich genaueren Einblick in latente individuelle Veränderungsprozesse bietet als andere Methoden. Sie befragte zwischen 1987 und 2006, also über den Systemwechsel hinweg, nicht 20-mal verschiedene Personen, sondern 20-mal dieselben. Auf diese Weise entstand eine umfangreiche, zusammenhängende Dokumentation über wichtige Etappen des Lebensweges einer identischen Gruppe von jungen Menschen, die in der DDR aufwuchsen, in ihr sozialisiert wurden, und die sich mit 17 Jahren unerwartet und ungefragt in einem ganz anderen Land und einem völlig anderen Gesellschaftssystem wiederfanden.
Ein Fazit der bis 2006 vorliegenden Trends ist die Feststellung, dass der Zeitraum von mehr als anderthalb Jahrzehnten nicht ausgereicht hat, um einen nennenswerten Teil der jetzt 33-Jährigen politisch für das jetzige Gesellschaftssystem einzunehmen. Sie haben sich diesem System gegenüber nicht „entfremdet“, sondern stehen ihm faktisch schon von der Wendezeit an mehrheitlich skeptisch oder ablehnend gegenüber. Diese kritische Haltung verstärkte sich bereits am Ende der Regierungszeit von Schwarz-Gelb, den kurzfristig wachsenden Hoffnungen nach dem Regierungswechsel 1998 zu Rot-Grün folgte ein noch stärkerer Absturz als zuvor, der sich auch nach den jüngsten Bundestagswahlen 2005 fortzusetzen scheint.
Das äußert sich besonders augenfällig in der signifikant zurückgehenden Bejahung der Wende, dem bisher folgenreichsten politischen Ereignis im Leben dieser jungen Ostdeutschen, nachweislich vor allem hervorgerufen durch die stark gestiegene persönliche Betroffenheit von Arbeitslosigkeit. Sie hat maßgeblich zur „Entzauberung“ der Verheißungen des Kapitalismus beigetragen. Das betrifft in besonderem Maße die jungen Frauen, die der jetzigen Gesellschaft noch kritischer gegenüberstehen als die jungen Männer.
Die Rosa-Luxemburg-Stiftung fördert seit 2002 die Weiterführung der Sächsischen Längsschnittstudie. Die Ergebnisse der 20. Welle erscheinen in der Reihe »rls papers«, sind aber jetzt bereits in einer vorläufigen Fassung verfügbar: Download [pdf]
Förster, P. unter Mitarbeit von Berth, H. & Stöbel-Richter, Y. (2007). Kippt das Erleben von Arbeitslosigkeit die Bejahung der Wende? Beispiel: Die 33-Jährigen. Ergebnisbericht zur 20. Welle der Sächsischen Längsschnittstudie.
Homepage der Sächsischen Längsschnittstudie:
Nachricht | Auf dem Weg in den realen Kapitalismus
Eine Studie des Soziologen Prof. Peter Förster begleitet seit 1987 rund 400 junge Ostdeutsche. Die Ergebnisse der 20. Untersuchung erscheinen jetzt bei der RLS.