Salma Kahhale ist geschäftsführende Direktorin von Dawlaty[1], einer syrischen Nichtregierungsorganisation mit Sitz in Beirut. Miriam Younes, Leiterin des Beiruter Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) und Mohamad Blakah, Praktikant bei der RLS, sprachen mit ihr über die Situation in Syrien, über Visionen und Realitäten der syrischen Revolution sowie über derzeitige Möglichkeiten für politischen Aktivismus und Gestaltung in einer scheinbar hoffnungslosen Situation.
Seit wann sind Sie politisch aktiv?
Ich wurde in Syrien geboren und habe dort gelebt bis ich 15 Jahre alt war. Dann bin ich nach Kanada gezogen. Schon zu meiner Zeit an der Universität war ich politisch aktiv und nach meinem Bachelorabschluss wollte ich zurück nach Syrien, um herauszufinden, welche progressiven Politikströmungen in Syrien existieren. Ich bin 2003 nach Syrien gegangen, aber es war damals sehr schwierig, Kontakt zu existierenden Aktivist*innen-Netzwerken herzustellen. Ich bin mir sicher, dass es solche Netzwerke gab, aber sie waren sehr klein und ich schaffte es nicht, mit ihnen in Kontakt zu treten. Nach Ausbruch der Revolution wurde ich dann bei Dawlaty aktiv und so fand ich endlich die Gruppe, nach der ich gesucht habe. Ich bin bei Dawlaty seit 2013 aktiv, erst als Vorstandsmitglied und seit 2014 als ausführende Direktorin. Diese Stelle habe ich bis heute.
Wie würden Sie Ihren persönlichen Weg seit 2011 beschreiben?
Als die Revolution 2011 anfing, habe ich im Büro der First Lady Asma al-Assad an einem Projekt zur Organisation von Jugend und Gemeinschaft gearbeitet. Es war sehr frustrierend und offensichtlich, dass, als die Proteste in Dara‘a und Damaskus anfingen, die wahre Veränderung nicht aus dem System heraus kommen würde. Aus diesem Grund habe ich meine Stelle im April 2011 gekündigt und ich war erst unsicher, wie ich auf die Ereignisse in Damaskus reagieren sollte. 2012 bin ich dann nach Beirut gegangen und habe von Beirut aus angefangen, auf Konferenzen über die Ereignisse in Syrien zu sprechen. Ich fing an, mit verschiedenen internationalen Nicht-Regierungsorganisationen zu arbeiten, aber nach einer Weile fand ich diese Arbeit sehr frustrierend. Syrer*innen wurden dort vor allem als Hilfsempfänger*innen betrachtet und die Distanz zwischen denjenigen, die die Programme entwarfen und den Syrer*innen war sehr groß. Ich wurde vor allem deshalb angestellt, weil ich kanadische Staatsbürger*in bin, Syrer*innen selbst hatten wenige Chancen auf eine solche Stelle. Aus diesem Grund habe ich angefangen, innerhalb von syrischen Initiativen zu arbeiten, und ich habe alle diese jungen Leute kennengelernt, Syrer*innen, die kleine Initiativen ins Leben gerufen haben, sehr mutige Menschen mit tollen Ideen. Ich war so inspiriert davon und trat so in eine neue Beziehung mit vielen Syrer*innen, tollen Aktivist*innen. Immer wieder treffe ich viele Leute, die ich seit sieben Jahren nicht mehr gesehen habe, und es ist unglaublich festzustellen, wie wir uns neu entdecken. Es ist ein Prozess, in dem Syrer*innen sich selbst neu entdecken. Das ist die Revolution…
Wie schätzen sie die aktuelle Situation in Syrien?
Die Situation ist… momentan fühle ich mich vor allem hilflos. Für mich fühlt es sich so an, als hätte die Welt akzeptiert, dass das Regime gewinnen wird, vor allem militärisch. Bisher war niemand bereit, wirklich Druck auszuüben. Die militärische Niederlage heißt nicht, dass unsere Arbeit als Menschenrechtsaktivist*innen und demokratische Aktivist*innen zu Ende ist, aber irgendetwas ist zu Ende gegangen und wir müssen darüber nachdenken, was unsere Rolle jetzt sein kann. Wir sind nun in einer komplett anderen Phase und müssen darüber nachdenken, was es heute heißen kann, sich zu organisieren oder gewaltfreie Bewegungen zu unterstützen, weil, ich bin mir gar nicht sicher, ob da noch eine Bewegung ist, die man unterstützen kann. Ich denke, die momentane Stimmung ist sehr hoffnungslos, aber für einige von uns ist auch klar, dass dies der Weg ist, den wir gehen müssen. Wir können uns weiterhin für Demokratie und Menschenrechte einsetzen… es wird sowieso zehn bis 20 Jahre, vielleicht sogar länger dauern, bis sich wirklich etwas ändern wird.
Gibt es auch eine positive Wirkung der Aufstände von 2011?
Ich bin mir nicht sicher, ob wir das alles gemacht hätten, wenn wir 2011 gewusst hätten was passieren wird, aber ich habe so viele tolle Menschen kennengelernt, die z.B. als kleine Gruppe angefangen haben, Unterricht für Kinder zu organisieren und jetzt ganze Schulen eröffnet haben. Menschen, die niemals gehofft hatten, dass sie einmal ihre Meinung sagen können oder dass eine Zukunft ohne Assad möglich ist. Die Gelegenheit, etwas in Frage zu stellen und Widerstand zu leisten, ist etwas sehr Positives. Für mich war es sehr wichtig zu sehen, dass die Menschen nach mehr als 40 Jahren unter dem Assad-Regime noch so kreativ und widerstandsfähig sein können, kreativ in ihrem Protest, in ihren Hilfeleistungen, in ihrer ganzen Reaktion auf die schreckliche Situation… Ich denke, diese Kreativität ist wirklich inspirierend. Ich war neulich auf einer Konferenz in Brüssel und es ist frustrierend zu sehen, wie überrascht viele Europäer*innen waren, dass die Syrer*innen so eloquent sind. Da ist immer diese ständige Überraschung, dass wir tatsächlich für uns sprechen und unsere Argumente und Anliegen vorbringen können.
Welche Strategie verfolgt das syrische Regime derzeit?
Es ist eine Strategie des Aushungerns unter Belagerung, um die Menschen in oppositionellen Gebieten zum Aufgeben zu bringen. In den oppositionellen Gebieten ist diese Strategie sehr deutlich, aber selbst in den Regionen, die vom Regime kontrolliert werden, werden junge Leute aufgegriffen, an die Frontlinien geworfen, ohne Munition oder irgendein Training. Dies passiert vor allem in den Regionen, in denen die Menschen in den letzten Jahren an irgendeinem Punkt gegen das Regime protestiert haben. Und aus denselben Regionen, aus denen die Menschen heute vertrieben werden, wurden schon früher Menschen vertrieben. Die Menschen wurden vertrieben und die Gegend wurde neu aufgebaut, so wie Homs oder die Vororte von Damaskus. Das wird als Strategie verfolgt: ein neues Syrien zu kreieren, das von jedem gefürchtet wird, innerhalb und außerhalb Syriens. Diese Strategie folgt einer einfachen Logik: eine Dualität zu schaffen, in der es nur das Regime oder die Islamisten gibt. Das war von Anfang an das Ziel des Regimes, als sie anfingen, friedliche Demonstrant*innen zu verhaften und die Islamist*innen aus den Gefängnissen zu lassen. Und das zeigte sich in den letzten Monaten in Daraya: Daraya musste besiegt werden, weil es symbolisch für etwas zwischen Regime und Islamismus stand. Die Stadt steht für eine Alternative, wenn auch noch sehr klein, und eine solche Alternative musste zerstört werden.
Wie sehen Sie die Rolle der internationalen Gemeinschaft in den vergangenen Monaten?
Ich denke nicht, dass irgendeine Regierung wirklich Druck auf das Regime oder seine Verbündeten ausüben wird. Die neue Politik der EU, die sie im Februar verabschiedet hat, sieht auf den ersten Blick sehr positiv aus: Unterstützung der Zivilgesellschaft, Forderung nach Rechenschaft - aber es gibt keine Art von Druck, außer, dass die internationale Gemeinschaft nicht für den Wiederaufbau zahlen wird. Das alleine bringt das Regime nicht dazu, zu verhandeln. Einige Regierungen üben etwas mehr Druck aus, aber letzten Endes tut dies niemand wirklich. Ich denke Russland und Iran sind zu tief in den syrischen Krieg verwickelt, als dass sie sich noch zurückziehen können. Ich glaube nicht, dass sie wirklich befürworten, was das Regime macht, aber sie haben schon zu viel investiert, um sich jetzt zurückzuziehen. Das syrische Regime weiß das. Ich glaube nicht, dass irgendjemand tatsächlich das syrische Volk unterstützt, weder die, die mit dem Regime noch die, die gegen das Regime sind. Es geht um regionale oder internationale Allianzen, um Politik und Interessen und um sonst nichts.
Was sollte die Rolle von linken Akteuren in Bezug auf Syrien sein?
Die Rolle von linken Akteuren sollte vor allem sein, die syrische Handlungskompetenz anzuerkennen, sowie, dass es in Syrien nicht nur um regionale und internationale Politik geht. Viele linke Akteure bleiben in einer Analyse des Weltsystems und internationalen Allianzen verharren und vergessen, dass es in Syrien Menschen gibt, die wirkliche Veränderung anstreben. Eine zweite Rolle sollte die sein, syrischen Stimmen eine Plattform zu geben, auch wenn sie nicht unbedingt mit ihnen einer Meinung sind. Aber es ist wichtig, diese Menschen zu verstehen und sie ihre Version der Geschichte erzählen zu lassen. Und eine dritte Rolle sollte die sein, sich als Partner für syrische Gruppen anzubieten, sich zu fragen, was wir gemeinsam tun können, wie wir helfen können, mit Syrer*innen in einen Dialog zu treten, um gemeinsam Fragen zu stellen und gemeinsam zu reflektieren. Die politische Opposition repräsentiert viele Syrer*innen nicht, sie vertreten nicht Syrien, die Revolution oder ihre Werte. Als linker Akteur ist es wichtig, nicht mit dem Regime oder der politischen Opposition zu sprechen, sondern mit unabhängigen linken Aktivist*innen in Syrien.
Was ist Ihre eigene politische Vision für Syrien?
Meine Vision für Syrien ist, dass weiterhin Nischen bestehen bleiben, in denen die Arbeit, die in den letzten Jahren geleistet wurde, fortgesetzt wird. Dass die Akteure, die angefangen haben, für die Revolution zu arbeiten, in der Lage sind, weiter zu arbeiten. Meine Angst ist, dass wir so enden wie die iranische Opposition, die außerhalb des Landes agiert und völlig abgekoppelt ist, von dem, was im Land passiert. Ich hoffe, dass, was auch immer passiert, wir in der Lage sein werden, mit Syrer*innen innerhalb Syriens zusammen zu arbeiten.
[1] Dawlaty ist eine syrische Nichtregierungsorganisation, deren Ziel es ist, syrischen politischen Aktivist*innen eine Plattform zu geben, in der die Zukunft eines syrischen Staates diskutiert wird. Dawlaty ist tätig in Bereichen von Bildung, Oral History, Transitional Justice, Dokumentation von Kriegsverbrechen, sowie der Unterstützung von gewaltfreien Gruppen. Mehr zu Dalawty unter: dawlaty.org/ar/.