«Die Geisel» titelte die Tageszeitung Al-Akhbar über Saad Hariri, nachdem der libanesische Ministerpräsident am ersten November-Wochenende zurückgetreten war. Das Blatt steht der von Iran unterstützten schiitischen Parteimiliz Hisbollah nahe – Hariris mächtigster Koalitionspartner in der erst im Dezember 2016 gebildeten und nun geplatzten Regierung nationaler Einheit in Beirut. Dass der 47-Jährigige Sunnit seinen Rücktritt ausgerechnet in Riad bekannt gab, werten nicht nur Hisbollah-Kreise als Beleg dafür, dass Hariri lediglich eine Marionette Saudi-Arabiens sei. Oder eben eine Geisel des 15 Jahre jüngeren Kronprinzen Mohammed Bin Salman, dem neuen starken Mann des wahhabitischen Königshauses.
Hariris harsche Wortwahl in seiner Rücktrittserklärung scheint diese Lesart zu bestätigen. «Irans Arme in der Region werden abgehackt werden», sagte er mit Verweis auf angebliche Pläne der Hisbollah, ihn umzubringen. Die gleiche Tonart schlugen saudische Offizielle an, die seit der Ernennung Mohammed Bin Salmans zum Verteidigungsminister 2015 eine aggressive antiiranische Außenpolitik verfolgen: Man werde nicht akzeptieren, dass der Libanon «zu einer Plattform für die Verbreitung von Terrorismus in unseren Ländern» werde, erklärte der Minister für Golf-Angelegenheiten, Thamer al-Sabhan. Ein deutliches Signal an die Adresse der Hisbollah und die iranische Führung, der es sehr zum Missfallen Riads gelungen ist, seit Beginn der arabischen Aufstände 2011 ihr treue Regierungen in Damaskus, Bagdad und Beirut an der Macht zu halten.
Hariri selbst verglich die politische Situation im Libanon mit der vor zwölf Jahren, als sein Vater Rafik Hariri in Beirut ermordet worden war. Das 2007 eingerichtete UN-Sondertribunal für den Libanon (STL) in Den Haag hat vier Hisbollah-Mitglieder des am Valentinstag 2005 verübten Attentats bezichtigt. Für Hisbollah-Generalsekretär Hassan Nasrallah war das eine Kriegserklärung: «Wer glaubt, dass wir zulassen werden, dass einer unserer Gotteskrieger verhaftet oder festgenommen wird, irrt sich», drohte er nach Veröffentlichung der Anklageschrift im November 2010. «Wir werden die Hand, die sich nach ihm ausstreckt, abhacken.»
Sieben Jahre später fallen die Reaktionen der Hisbollah-Führung auf die scharfen Töne aus Riad deutlich milder aus. Zu sehr sind die Kämpfer der 1982 vom Iran gegen die israelische Besatzung gegründeten «Partei Gottes» inzwischen in den Syrien-Krieg involviert als dass sie sich eine bewaffnete Auseinandersetzung im eigenen Land leisten könnten. Damit konterkariert Nasrallah Einschätzungen, dass der Libanon nach dem Jemen und Syrien das neue Schlachtfeld für den iranischen-saudischen Hegemonialkonflikt werden könnte. Knapp eine Woche nach Hariris Rücktritt gibt es keine Anzeichen, dass eine Wiederholung der Konfrontation droht, die mit dem Einmarsch von Hisbollah-Kämpfern in Westbeirut im Mai 2008 gewaltsam eskalierte.
Im Gegenteil: Bislang scheint das komplizierte libanesische Proporzmodell als Bollwerk gegen neue Kämpfe zu halten. Zwar ist eine längere Phase ohne Regierung möglich; auch die für Mai 2018 terminierten Parlamentswahlen könnten verschoben werden. Doch neu ist das nicht: Wegen des Patts zwischen den vom Iran auf der einen sowie den von Saudi-Arabien und dem Westen unterstützten Kräften auf der anderen Seite hatten die Abgeordneten erst im November 2014 ihr Mandat um mehr als dreißig Monate eigenständig verlängert; bereits zum zweiten Mal. Auch das Präsidentenamt war zwischen Mai 2014 und Oktober 2016 vakant, ehe der christlich-maronitische Hisbollah-Verbündete Michel Aoun zum Staatsoberhaupt ernannt wurde – im 46. Anlauf.
Trotz des Machtvakuums ist es der politischen Klasse des Landes so gelungen, den Libanon vor einem Überborden des Syrien-Kriegs zu bewahren. Zwar ist die wirtschaftliche und soziale Situation angesichts rund 1,2 Millionen syrischer Flüchtlingen angespannt. Doch nach einer Reihe schwerer Anschläge sunnitischer Dschihadisten 2015 einigten sich die Hisbollah und Hariris Partei Al Mustaqbal auf eine Sicherheitszusammenarbeit. Die hat seitdem gehalten – und ist Medienberichten zufolge trotz der scharfen Vorwürfe Hariris und saudischer Regierungsvertreter an die schiitische Parteimiliz weiter intakt.
Ein Fortbestand der sunnitisch-schiitischen Kooperation hinter den Kulissen ist die Grundlage für eine friedliche Regelung des neu entfachten Machtkampfes. Das traditionell prekäre institutionelle Gefüge ist dabei Stärke und Schwäche zugleich: Es wahrt den konfessionellen Proporz, der den Präsidentenposten stets einem maronitischen Christen zusichert, den des Regierungschefs einem Sunniten und den des Parlamentspräsidenten einem Schiiten. Innerhalb des Libanons wird das nicht infrage gestellt. Die Gefahr droht von Saudi-Arabiens Kronprinz Mohammed Bin Salman, der mit aller Macht versucht, Hariri als libanesischen Handlanger in seine Allianz antiiranischer sunnitischer Staaten einzubinden, die von Ägypten über Bahrein und die Vereinigten Arabischen Emirate reicht. Ein Spiel mit dem Feuer.
Markus Bickel ist Diplompolitologe und Absolvent der Deutschen Journalistenschule (DJS) in München. Von 2005 bis 2008 arbeitete er als Reporter für deutsche Zeitungen in Beirut, von 2012 bis 2015 als Nahostkorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Kairo. 2017 erschien von ihm «Die Profiteure des Terrors – Wie Deutschland an Kriegen verdient und arabische Diktaturen stärkt».