Am Beginn dieser kritischen Edition steht das Schülertagebuch. Der erste Eintrag datiert vom 23. Mai 1884. Ganze Passagen daraus hat Landauer (geboren 1870) später in die Novelle «Ein Knabenleben» übernommen. Bis 1889 – Landauer studiert inzwischen in Berlin – dominiert die Korrespondenz mit dem Jugendfreund Emil Blum-Neff, die hier erstmals nachgelesen werden kann. Die Originale lagern schwer zugänglich im Archiv der Israelischen Nationalbibliothek (neben der Sammlung im IISG in Amsterdam das wichtigste Nachlassarchiv). In der Schulbibliothek in Karlsruhe stöberten die beiden oft gemeinsam nach Literatur und bei sommerlichen Ausflügen in die umliegende Natur lasen sie einander abwechselnd daraus vor. Dazwischen Einsprengsel familiärer Briefe an den Vetter Siegfried, die Cousine Rosa. Auch hier ist Landauer, trotz Spannungen, um Freundschaft bemüht, die ihm «immer das Wichtigste» (308) gewesen sei. Am 4. September 1889 der erste Brief an Ida Wolf, tags zuvor hatte Landauer sich in sie verliebt. Alle Versuche, sie einer bürgerlichen Existenz zu entreißen, sind im Juli 1891 endlich gescheitert. Ab Frühjahr 1892: Clara Tannhauser, im November dann wiederum Abschied. Er bricht ihr das Herz. Die nächste Zeit gehört Margarethe Leuschner (missglückte Räuberhochzeit in der Schweiz) und zunehmend auch der Antipolitik.
Bereits im Mai 1891 hatte er Emil seine keimende Begeisterung für die Arbeiterbewegung mitgeteilt. (143) Nun folgt aus Zürich, fast im Telegrammstil, der Bericht seiner Politisierung: «In Berlin hatte ich kurz vor unserer Abreise angefangen, öffentlich aufzutreten. Hier habe ich dieser Tage einmal über den Berliner (socialdemokratischen) Parteitag referiert. Morgen und übermorgen bin ich mit meiner Frau in Luzern; abends spreche ich morgen in einer Versammlung über die Opposition gegen die officielle Socialdemokratie; Sonntag aber folgt Naturgenuss; Vierwaldstätter See!» Seit Februar 1892 gehört Landauer den «sogenannten Unabhängigen [an]; meinetwegen kannst Du sie auch Anarchisten nennen.» (296) Ein Jahr später ist er Redakteur des «Sozialist» und bis 1898 in der anarchistischen Bewegung derart aktiv, dass es ihm an Zeit fehlt, «persönlich zu leben.» (498)
Dennoch ist anarchistische Korrespondenz aus jenen Jahren kaum überliefert. Oft waren Empfänger gehalten, Briefe, die bei Haussuchungen gefunden werden könnten, nach der Lektüre zu vernichten, und schon für einen «Jugendband» versammelte Dokumente wurden noch beim Machtantritt der Nazis ebenfalls verbrannt. In der schmalen Übersicht der erhaltenen Dokumente zeigt sich das Weiterwirken der historischen Verfolgung.
Ein Brief an Emil vom Dezember 1889 enthält den ersten Hinweis auf Fritz Mauthner, der nun zunehmend eine feste Größe wird. Es geht viel um Geschäftliches und Möglichkeiten zur Publikation, später auch um die Arbeit an der «Sprachkritik». Hier ein Brief an Wilhelm Bölsche, ebenfalls publizistischen Charakters, dort einer an den Bruder Friedrich, den Vater Hermann. Dazwischen: Bettelbriefe an Vetter Hugo, der politisch sympathisiert und Landauer finanziell unterstützt. Ein vereinzelter Brief an Max Nettlau, einer an August Bebel. Der hatte Landauer beim Kongress in Zürich, en passant und schon zum zweiten Mal, öffentlich der Spitzelei verdächtigt. Landauer fordert Richtigstellung, nennt ihn einen «Ehrabschneider» (307).
Ab Mitte Oktober 1893 sitzt er erstmals ein. Das Gefängnistagebuch enthält die zusammenhängendsten Reflexionen; erfrischend darin etwa die «verachtungsvolle Härte [...] gegen die Herren der Wissenschaft, die Liebediener des Staates und der heutigen Gesellschaft sind», mehr noch aber die ehrliche Empörung über ihren „platte[n] Stil!», ihre dummfeige «Drückebergerei!» in Seichtigkeiten herum. Landauer flucht und ist dennoch subtil. Er lobt Schopenhauer, selbst seinen «lächerlichste[n] Irrtum [...] turmhoch über d[ie] ‚Wahrheiten‘ unserer liberalen Gelehrten.» (379) Das ist schon Nietzsche, und auch Nietzsche nicht mehr. Dem würden Ideal, Verständnis des Sozialismus und Güte fehlen: «Nietzsche in Ehren, aber es ist nichts mit der Bosheit» (338).
So geht es weiter: ein Brief an Moritz von Egidy, einer an Julius Hart, Wilhelm Liebknecht, wieder Nettlau, auch manches Dokument aus entlegenen Archiven. Dazwischen viel Mauthner und die Frauen: der Zerfall der Beziehung zu Margarethe, die Freude über die Begegnung mit Hedwig Lachmann, der großen geistigen Liebe und Arbeitsbeziehung bis zuletzt. Überall eingewoben sind Einzelheiten über redaktionelle Dinge, Prozesse, Haussuchungen, Versammlungen und Kongresse.
Doch selbst die Gespräche mit Hedwig sind eigentlich Monologe. Gegenbriefe sind insgesamt nur sehr wenige bekannt. Berücksichtigt werden sie im Kommentar, der so umfangreich ist wie die Briefe selbst. Gegenstand sind außerdem literaturhistorische Kontexte und zeitgenössische Diskussionen, Kurzviten und Genealogien. Durch die Aufteilung auf zwei Bände können Fließtext und Stellenkommentar gut parallel gelesen, der erste Band aber auch gesondert als Lesebuch behandelt werden.
Wir lernen den Menschen Landauer besser kennen, was trotz mancher juvenilen Schrulle ein großes Lesevergnügen ist. Die «Bibliothek der Freien» (Berlin) zeichnete die kritische Edition «Gustav Landauer: Briefe und Tagebücher 1884-1900» als «Buch des Jahres 2017» aus.
Christoph Knüppel (Hg.): Gustav Landauer: Briefe und Tagebücher 1884 – 1900, 2 Bände (Band 1: Briefe und Tagebücher. Band 2: Kommentar), herausgegeben und kommentiert von Christoph Knüppel, Verlag V&R unipress, Göttingen 2017. 1346 Seiten (in zwei Bänden) ISBN 978-3-8471-0456-8, 130 EUR
Eine Initiative in Berlin will an Landauer zu seinem 100. Todestag 2019 mit einem Denkmal erinnern: https://gustav-landauer.org/denkmal