Nachricht | Deutsche / Europäische Geschichte - GK Geschichte Die Geschwister Rosa und Anna Schapire

Leben um 1900 zwischen Sozialwissenschaft, Kunstgeschichte und Feminismus

Information

 

Dieser Sammelband enthält 12 Artikel zu Leben, Werk und Wirkung der Geschwister Rosa (1874–1954) und Anna Schapire (1877–1911). Rosa Schapire ist bisher vor allem als Kunsthistorikerin und Förderin der Künstler der Gruppe „Die Brücke“ bekannt (vgl. dazu die hervorragende Publikation „Rosa. Eigenartig grün. Rosa Schapire und die Expressionisten“ von Leonie Beiersdorf, 2009). Die früh verstorbene Anna ist Autorin und Nationalökonomin und die (erste) Ehefrau von Otto Neurath (1882-1945), dem in Wien beheimateten Arbeiterbildner und „Erfinder“ der sozialistischen Infografik.

Beide sind Pionierinnen in ihrem jeweiligen Feld, beide sind promoviert, beide Übersetzerinnen und freiberuflich tätig. In dieser Doppelbiografie werden nun historische Kontexte, Wechselbeziehungen und intellektuelle Profile der vielseitigen Schwestern aus verschiedenen Fachrichtungen heraus beleuchtet. Dabei spielen die Rahmenbedingungen der Zeit um die Jahrhundertwende ebenso eine Rolle wie Fragen von persönlicher Identität, Migration, Exklusion und Inklusion.

Die HerausgeberInnen berichten im ersten, längeren Beitrag was über die Biographien der beiden bekannt ist. Sie werden in Galizien geboren und kommen im jugendlichen Alter 1893 bzw. 1895 nach Hamburg. Rosa promoviert 1904 in Heidelberg in Kunstgeschichte, Anna 1906 in Nationalökonomie in Bern. Zum Vergleich: Die Universität Hamburg wird erst 1919 gegründet.

Rosa bleibt zeitlebens unverheiratet und kinderlos, Anna verstirbt kurz nach der Geburt ihres Sohnes. Rosa lebt bis 1939 in Hamburg, als sie mit 65 Jahren nach England emigrieren muss und wirkt dort weiter unermüdlich und wie es heute beschrieben werden würde, unter prekären Bedingungen als Autorin, Sammlerin und nicht zuletzt Ausstellungsmacherin zu und für die Kunstströmung des Expressionismus. Sie freundet sich vor allem früh mit Karl Schmidt-Rottluff an. Dieser hat sie auch immer wieder proträtiert, und von daher ist Rosa auch bekannt. Sechs Gemälde sind im Buch eindrücklich und in Farbe dokumentiert (vgl. S. 200f). Anna wird 1898 unter Verweis auf sozialistischen und feministischen Publikationen von der Fremdenpolizei aus Hamburg ausgewiesen.

Die folgenden Beiträge vertiefen dann einzelne Themen und Aspekte: Ulrike Schneider beschreibt die Situation jüdischer Studentinnen im Deutschland vor 1914 als eine einer durch Geschlecht und jüdischer Herkunft doppelten Außenseiterposition. Günther Sandner zeichnet danach ein intellektuelles Porträt von Anna als gewerkschaftliche und feministische Autorin und Übersetzerin und geht auf ihre Publikationen näher ein. Im Anhang des Buches ist eine Bibliografie der (bisher bekannten) Publikationen von und über Anna und Rosa Schapire abgedruckt.

Heinrich Dilly hat untersucht, wie viele Kunstgeschichtsstudierende es damals eigentlich gab und auch recherchiert, wie viele kunsthistorische Dissertationen und zu welchen Themen erstellt wurden. So gab es z.B. vor 1914 genau 18 Dissertationen von Frauen im Fach Kunstgeschichte. Zehn davon wurden bei Henry Thode in Heidelberg erstellt, eine davon war jene von Rosa Schapire. Rosa gründet auch, so berichtet Parvati Vasanta in ihrem Text, 1916 in Hamburg den Frauenbund zur Förderung deutscher bildender Kunst, der vermutlich 1921 aufgelöst wird. Dieser war eine reichsweite Lobbyorganisation für den Expressionismus, sollte aber auch dazu dienen, Kunstwerke anzukaufen und sie Museen zu stiften oder zu leihen.

Leonie Beiersdorf schreibt dann über die Publikationen von Rosa Schapire, es sind über 300. Nach der Ausweisung ihrer Schwester äußert sie sich nicht mehr explizit politisch. Bei den um Kunst kreisenden Publikationen fällt auf, dass das Kunstinteresse von Rosa relativ eng ist. Medien wie Film und Fotografie ignoriert sie zeitlebens völlig, und auch für dem Expressionismus benachbarte, avantgardistische Kunstströmungen wie etwa Neue Sachlichkeit, Verismus oder Futurismus kann sie sich gar nicht begeistern.

Die letzten drei Beiträge behandeln das Verhältnis von Rosa zu Schmidt-Rottluff, dann die Zusammensetzung und das Schicksal ihrer Kunstsammlung; um sich dann noch der Situation Rosas in England zuzuwenden: Dogramaci berichtet hier, dass Rosa dort trotz fortgeschrittenen Alters sehr aktiv war, bzw. gezwungen war, dies zu sein, um überleben zu können, aber leider auf wenig Resonanz stößt.

Dieser von vielen Quellenrecherchen getragene Sammelband verdeutlicht das engagierte Wirken zweier Frauen. Er hat ein deutliches Übergewicht bei Rosa, was vermutlich damit zusammenhängt, dass jene zum einen viel länger lebte als Anna Schapire, und es auch zu ihr bisher mehr Forschung gibt. Beider Werdegänge, ihre intellektuellen Netzwerke und wissenschaftlichen Arbeiten in den Feldern Sozialwissenschaft, Literatur, Feminismus und Kunstgeschichte werden eindrucksvoll ausgeleuchtet und ihnen so, ohne in Kitsch zu verfallen, ein bemerkenswertes Denkmal gesetzt.

 

Burcu Dogramaci/Günther Sandner (Hrsg.): Rosa und Anna Schapire – Sozialwissenschaft, Kunstgeschichte und Feminismus um 1900; AvivA Verlag, Berlin 2017, 288 Seiten, ISBN: 978-3-932338-87-8, 25 EUR