Nachricht | Staat / Demokratie - Parteien / Wahlanalysen - International / Transnational - Westasien - Libanon / Syrien / Irak - Westasien im Fokus Abstimmen im Bürgerkrieg: Regionalratswahlen in Rojava

Das Lager um die syrisch-kurdische PYD gewann die Wahlen. Doch nicht alle Parteien haben mitgemacht.

Information

Parallel zu den militärischen und geopolitischen Entwicklungen in der Region, gibt es im kurdischen Rojava auch eine Reihe innenpolitischer Prozesse: Während der Kampf der Kurd*innen gegen den IS auch nach der Befreiung weitergeht und die Türkei weiter mit einer Offensive gegen die westliche Rojava-Region Afrin droht, fanden am 22. September Kommunalwahlen in Rojava statt. Am ersten Dezember folgten Regionalratswahlen, bei der das Lager um die syrisch-kurdische PYD gewann. Für den Januar 2018 schließlich sind Wahlen zum «Volkskongress», dem «Parlament» von Rojava, anberaumt.

Die Bedeutung und der Ausgang der Wahlen in Rojava sind im Einzelnen allerdings nicht selbsterklärend. So sind die Ergebnisse der Kommunalwahlen am 22. September 2017 für Außenstehende kaum zu entschlüsseln, weil nicht unterschiedlichen Parteien angetreten sind, sondern lokale Politiker*innen als Einzelpersonen. Ob es auf der kommunalen Ebene einen politischen Umschwung gab oder nicht, lässt sich nur feststellen, indem untersucht wird, welchem politischen Lager die jeweils gewählten Kommunalpolitiker*innen nahe stehen. Das wäre angesichts der 7464 Co-Vorsitzenden von insgesamt 3732 Kommunen eine kaum zu leistende Mammutaufgabe. Ich möchte deshalb versuchen, anhand der Ergebnisse der Regionalratswahlen vom ersten Dezember 2017 die politischen Verhältnisse in Rojava zu entschlüsseln. Hier standen mehrere Parteien und Parteienbündnisse zur Wahl, so dass diese Wahlergebnisse Rückschlüsse auf die jeweilige Stärke der angetretenen politischen Lager ermöglichen.

Eines lässt sich jedoch nicht ablesen, nämlich wie stark diejenige Opposition ist, die das politische System von Rojava fundamental ablehnt. Keine der Parteien und Parteienbündnisse, die an den Regionalratswahlen teilnahmen, betreiben eine grundsätzliche Kritik am Projekt Rojava. Der «Kurdische Nationalrat» (ENKS), ein Bündnis aus kurdischen Parteien, welche die in Rojava dominierende «Partei der Demokratischen Union» (PYD) und das politische System ablehnen, hat die Wahlen boykottiert. Wie groß die Anhängerschaft der ENKS ist, bleibt damit unklar.

Folgende Parteien und Parteienbündnisse nahmen an der Wahl teil:

«Liste der Demokratischen Nation» («Lîsteya Hevgirtina Neteweya Demokratîk», LND): Besteht aus 17 kleineren Parteien, die der PYD nahestehen und im Rahmen der politischen und sozialen Strukturen von Rojava agieren und eingebunden sind. Es sind nicht nur syrisch-kurdische Parteien, sondern auch Parteien der anderen Bevölkerungsgruppen in der LND organisiert. Die Stimmen für diese Liste können als Unterstützung für das Projekt Rojava unter der Führung der PYD verstanden werden.

«Kurdische Nationale Allianz in Syrien» («Lîsteya Koalîsyona Neteweyî ya Kurd a Sûriyeyê», LKNKS): Besteht aus fünf Parteien, von denen vier zuvor innerhalb der ENKS organisiert waren. Sie wurden von der ENKS ausgeschlossen, weil sie mit der PYD zusammen arbeiten. Die LKNKS lässt sich als grundsätzlich systemloyale und stärker kurdisch-nationalistische Opposition bezeichnen.

Daneben stellten sich unabhängige Kandidat*inen sowie eine kleine und eher unbedeutende Liste zur Wahl. Die Beteiligung lag bei 69 Prozent.
 

Wahlergebnisse

Cizre-Region:

Gesamtzahl der Sitze in allen Räten, die zur Wahl standen: 2902

  • LND: 2718 Sitze
  • LNKS: 40 Sitze
  • Unabhängige: 144 Sitze

Euphrat-Region:

Gesamtzahl der Sitze in allen Räten, die zur Wahl standen: 954

  • LND: 847 Sitze
  • LNKS: 40 Sitze
  • Unabhängige: 67 Sitze

Afrin-Region:

Gesamtzahl der Sitze in allen Räten, die zur Wahl standen: 1175 Sitze

  • LND: 1056 Sitze
  • LNKS: 72 Sitze
  • Unabhängige: 40 Sitze
  • Liste der syrischen Allianz: 8 Sitze

(Alle Ergebnisse nach Angaben der Nachrichtenagentur ANHA)

Damit hat die LND fast 92 Prozent aller Sitze in den Regionalräten erhalten. Die LNKS, das einzige Oppositionsbündnis, erhielt gerade mal drei Prozent der Sitze. Die Zusammensetzung und politische Zugehörigkeit der unabhängigen Kandidat*innen bleibt unklar.
 

Die Wahlergebnisse lassen zwei, sich widersprechende Lesarten zu

Einerseits zeigen die Regionalratswahlen dass die Wähler*innen in Rojava mit einer überwältigenden Mehrheit hinter dem Projekt Rojava unter der Führung der PYD stehen und ihre politischen Interessen von der PYD und deren Verbündeten vertreten fühlen. Die Opposition, sei es in ihrer moderaten (LNKS) oder fundamentalen (ENKS) Ausprägung, genießt keine nennenswerte Unterstützung in der Bevölkerung.

Andererseits legt ein Wahlergebnis von 92 Prozent für das regierende politische Lager nahe, dass es sich möglicherweise nicht um wirklich demokratische Wahlen handeln konnte, sondern vielmehr eine echte Opposition gegen das Projekt Rojava unterdrückt wird. Die Wahlbeteiligung von 69 Prozent kann in dieser Sichtweise ebenfalls als eine Ablehnung der Regionalratswahlen von 31 Prozent gewertet werden.

Eine Prognose ist allerdings unabhängig von der Lesart möglich: Bei den Wahlen im Januar 2018 zum «Volkskongress» von Rojava dürfte ebenfalls das Lager um die PYD siegreich sein. Eine starke Opposition im Parlament ist nicht abzusehen. Allerdings scheint, unabhängig von der politischen Bewertung der bisherigen Opposition, das Fehlen einer starken Opposition für ein Projekt wie Rojava, in der die Basisdemokratie eine der tragenden Säulen ist, keine sehr positive Entwicklung zu sein. Die Gefahr, dass Machtstrukturen sich verfestigen weil regierende Politiker*innen keine starke Opposition befürchten müssen, ist durchaus gegeben.