Ohne Arbeitsmigration wäre Indiens rasantes Wirtschaftswachstum nicht möglich. Auf der Suche nach Arbeit und in der Hoffnung auf ein besseres Leben machen sich alljährlich Millionen Menschen auf den Weg in die städtischen Ballungszentren. Dort erwarten sie jedoch oftmals neue Probleme wie schlechte Lebens- und Arbeitsbedingungen und unzureichende soziale Absicherung. Die Organisation Society for Labour and Development (sinngemäß: Gesellschaft für Arbeit und Entwicklung, SLD) engagiert sich für Menschen, die vom Land in die Städte ziehen – unter anderem unterstützt durch das Büro der Rosa Luxemburg Stiftung in Neu Delhi. Unsere Mitarbeiterin Nadja Dorschner hat mit der Gewerkschaftsaktivistin und SLD-Gründerin Anannya Bhattacharjee gesprochen.
RLS: In vielen Teilen Delhis sitzen jeden Morgen mit Werkzeugen ausgestattete Männer an Straßenrändern und warten darauf, von Bauunternehmen oder Privatleuten zur Arbeit abgeholt zu werden. Studien zufolge zieht der Bausektor die meisten Arbeitskräfte aus ländlichen Gebieten an. Wie groß ist das Ausmaß der Arbeitsmigration in Indien?
Anannya Bhattacharjee: Arbeitsmigration hat die Bevölkerungsverteilung zwischen ländlichen und städtischen Gebieten in Indien stark verändert. Wir sprechen hier über mehrere Millionen Menschen pro Jahr, die innerhalb des Landes auf der Suche nach Arbeit umziehen. Indien war immer ein Land, in dem der Großteil der Bevölkerung in Dörfern lebte. Das ist auch heute noch so, aber über die letzten Jahrzehnte sind unsere Städte unglaublich schnell gewachsen. Heute steigt die Bevölkerungszahl in den Städten schneller als auf dem Land. Teilweise gibt es auch Migration zwischen ländlichen Gebieten, wo Arbeitsmigrant*innen saisonal in der Landwirtschaft angestellt sind. Aber maßgeblich ist auf jeden Fall die Arbeitsmigration vom Land in die Städte.
Warum verlassen die Menschen ihre Heimat?
Anannya Bhattacharjee: Aus wirtschaftlicher Not. Viele haben keinen Zugang mehr zu Ackerland und die Grundlage für Landwirtschaft und damit ihr Einkommen verloren. Sie hoffen darauf, in den Städten Arbeit und ein besseres Leben zu finden. Sie träumen davon, für sich und ihre Familien Geld zu verdienen, für ein eigenes Haus zu sparen, ihren Kindern eine Schulausbildung zu finanzieren. Aber diese Erwartungen werden meist enttäuscht, denn die wenigsten finden eine Anstellung in gesicherten Arbeitsverhältnissen. Viele arbeiten als schlecht bezahlte Tagelöhner auf Baustellen oder sortieren Wertstoffe wie Stofffetzen oder Metallreste aus dem Müll, die sie dann in einem undurchsichtigen und ausbeuterischen System für ein paar Rupien an Mittelsmänner verkaufen. Fakt ist: Die Mehrheit der Wanderarbeiter*innen lebt am Existenzminimum.
Welche Herausforderungen begegnen ihnen im Alltag?
Anannya Bhattacharjee: Aufgrund langer Arbeitszeiten und mangelhafter Ernährung leiden viele unter gesundheitlichen Problemen. Auch Alkohol- oder Drogenmissbrauch ist nicht selten. Die Abwanderung zerreißt Familien, da zunächst oft nur ein Mitglied auf die Reise geht und den anderen Geld schickt. In Fällen wo ganze Familien umziehen, leiden häufig die Kinder. Als Kinder von ständig weiterziehenden Arbeitsmigrant*innen können sie nicht die notwendige behördliche Registrierung aufweisen, um eine Schule zu besuchen. Manche Eltern arbeiten während der Erntesaison auf Plantagen und kehren danach wieder in die Städte zurück. Dieses Hin und Her kann die Bildung von Kindern extrem beeinträchtigen. Hinzu kommen auch kulturelle Unterschiede und sprachliche Barrieren.
Inwiefern?
Anannya Bhattacharjee: Im Süden Indiens etwa haben viele internationale Unternehmen der Textil- und Automobilzuliefererindustrie ihre Produktionsstätten angesiedelt, die Arbeitskräfte aus dem ganzen Land anziehen. Dort wird kein Hindi gesprochen, weshalb es aus dem Norden Zugewanderten schwer fällt, sich an die Sprache und Kultur ihrer neuen Lebensräume zu gewöhnen. Mehr noch: Skrupellose Geschäftsleute nutzen fehlende Sprachkenntnisse oft aus, um Migrant*innen auszubeuten. Die meisten leben in Elendssiedlungen an Stadträndern. Die Vermieter dieser Slumhütten zwingen die Menschen häufig, ihre Lebensmittel aus bestimmten Läden zu überteuerten Preisen zu beziehen, wenn sie nicht ihr Dach über dem Kopf verlieren wollen.
Was tut der indische Staat?
Anannya Bhattacharjee: Laut Gesetz stehen Bedürftigen Sozialleistungen zu. Doch leider erschweren bürokratische Hürden deren Umsetzung. Der indische Staat verteilt etwa subventionierte Lebensmittel an Menschen, deren Einkommen unter einer gewissen Grenze liegt. Das Problem ist jedoch, dass sie diese Rationen nur an dem Ort beziehen können, an dem sie gemeldet sind. Arbeitsmigrant*innen sind aber oft weder von den Behörden in ihren Heimatorten, noch von den Behörden in den Städten formell registriert und verlieren somit den Anspruch auf staatliche Dienstleistungen. Auch ihre Bürgerrechte werden eingeschränkt, da sie ihr Wahlrecht nicht an ihrem neuen Wohnort geltend machen können, aber auch nicht in Abwesenheit in ihrem Herkunftsort wählen können. Indiens Behörden bieten bislang keinerlei Lösungen und Flexibilität, um diese Rechte jenseits der Herkunftsorte zu garantieren. Deshalb fallen viele aus den Versorgungssystemen und der Staat kann sich seiner Verantwortung entziehen.
Was müsste sich verändern?
Anannya Bhattacharjee: Die Regierung muss unbedingt die behördliche Registrierung von Migrant*innen in den Griff bekommen, damit sie ihre Rechte überall im Land geltend machen können. Das gilt für die Inanspruchnahme von Nahrungsmittelhilfen, für Gesundheitsversorgung, Bildung und natürlich auch für das Wahlrecht. Auch Unternehmen haben noch Handlungsspielräume, um sich für die Rechte ihrer Angestellten einzusetzen. Die hindu-nationalistische Regierung von Premierminister Narendra Modi setzt aber vor allem auf wirtschaftliches Wachstum und agiert dabei sehr arbeitgeberfreundlich. Eine Verbesserung der Situation für die Arbeiter*innen oder die Bekämpfung struktureller Ursachen der Landflucht hat auf ihrer politischen Agenda keinen Platz.
Was tut SLD, um die Situation von Arbeitsmigrant*innen zu verbessern?
Anannya Bhattacharjee: Wir arbeiten vor allem im Norden Indiens, denn aus den ländlichen Regionen der Bundesstaaten Uttar Pradesh, Bihar oder Jharkhand kommen besonders viele Menschen nach Delhi. Für sie haben wir auch mit Unterstützung der Rosa Luxemburg Stiftung in den Herkunftsregionen Anlaufstellen eingerichtet, in denen wir sie über die Situation in der Stadt sowie ihre Rechte aufklären. Zudem haben wir das Multimedia-Tool «Lockstitch Lives» entwickelt, mit dem man einen virtuellen Rundgang durch die Slums an den Stadträndern von Delhi unternehmen kann.
Was versprechen Sie sich davon?
Anannya Bhattacharjee: Mit Hilfe des virtuellen Rundgangs können wir den Menschen noch vor dem Weggehen ein konkretes Bild davon vermitteln, wie ihr Leben in der Stadt aussehen könnte. Gleichzeitig können wir damit international über die zum Teil katastrophalen Lebensumstände von Arbeiter*innen in Indien informieren und zivilgesellschaftlichen Druck zur Verbesserung ihrer Lage aufbauen. Außerdem bilden wir Menschen aus, die Migrant*innen rechtlich beraten können. Auch in einem Slum am Stadtrand von Delhi haben wir eine Anlaufstelle eingerichtet, in der wir ebenso Aufklärung zu Arbeitsrechten anbieten und die Arbeiter*innen mit Gewerkschaften vernetzen. Wir bilden Allianzen zwischen Organisationen, die in den Herkunftsorten aktiv sind und solchen, die in den Städten arbeiten, damit wir unsere Arbeit koordinieren und gemeinsame Forderungen an die Regierung formulieren können. Das ist auch wichtig, um an den Ursachen der Migration ansetzen zu können und Alternativen zur Abwanderung zu schaffen, vor allem im Hinblick auf die demographische Entwicklung ländlicher Gebiete.