Vor einem Jahr, am 14. Februar 2017, stellte sich der Türkei-Korrespondent der Tageszeitung «DIE WELT», Deniz Yücel der Polizei in Istanbul, nachdem er von Ermittlungen gegen ihn erfahren hatte. Zuvor hatte Yücel, wie einige weitere Journalist*innen auch, über eine Affäre um Berat Albayrak, dem Energieminister und Schwiegersohn des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan, berichtet. Die meisten der betreffenden Reporter*innen wurden daraufhin festgenommen und inhaftiert. Nach zwei Wochen in Polizeigewahrsam beantragte der Haftrichter Untersuchungshaft für Deniz Yücel. Seit dem ersten März 2017 ist Yücel im Gefängnis Silivri in der Nähe von Istanbul inhaftiert.
Silivri ist inzwischen eines der bekanntesten Haftanstalten der Türkei, weil dort hunderte Journalist*nnen, Intellektuelle und Oppositionelle einsitzen, häufig seit Monaten und ohne Anklage. Anders jedoch als viele Mitgefangene befand sich Deniz Yücel von März 2017 bis Dezember 2017 in verschärfter Einzelhaft, also in Isolationshaft. In diesen neun Monaten hatte er nahezu keinen Kontakt zu anderen Gefangenen. Seit Dezember 2017 kann er nun über einen gemeinsamen kleinen Hof mit dem Journalisten Oğuz Usluer von der Tageszeitung «Habertürk» sprechen.
Einzelhaft bedeutet für Deniz Yücel konkret, dass er auch zu Menschen außerhalb des Gefängnisses nur sehr spärlich Kontakt haben darf. Ausnahmen sind Anwalts- und Arztbesuche sowie die wöchentlichen Treffen mit seiner Frau Dilek. Aus der Forschung zur Isolationshaft ist bekannt, dass diese «solitary confinement» sehr oft zu psychischen und physischen Dysfunktionen führen kann. So verlieren etwa die Augen häufig die Fähigkeit nah und weit zu fokussieren, weil sie nichts sehen, was in der Ferne liegen würde. Weder Vögel im Himmel noch weit entfernte Bäume.
Obwohl Deniz Yücel seit einem Jahr inhaftiert ist, hat die Staatsanwaltschaft bis heute keine Anklageschrift präsentiert. Weil das Verfahren von der türkischen Justiz als «Geheimverfahren» eingeordnet wird, erhalten auch Yücels Anwälte keinen Einblick in die Ermittlungsunterlagen. So wissen weder sie noch Yücel selbst, was ihm genau vorgeworfen wird.
Gegen diese Art der verlängerten Untersuchungshaft, die man auch als «Strafe vor der Strafe» bezeichnen könnte, sowie gegen die Isolationshaft im Besonderen, haben die Anwälte von Deniz im Frühjahr 2017 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg Beschwerde eingelegt. Darin ging es auch darum, dass die genauen Vorwürfe, mit denen die Inhaftierung gerechtfertigt wird, nicht bekannt seien. In der Reaktion der türkischen Regierung am 28. November 2017 werden jedoch nur die gleichen Anschuldigungen wiederholt, die der Haftrichter im Februar 2017 zum Anlass nahm, die Untersuchungshaft zu beantragen.
Die türkische Regierung wirft Deniz Yücel «Terrorpropaganda» und «Volksverhetzung» vor. Die «Beweise» für diese Vorwürfe sind aber lediglich zwei journalistische Texte, die Deniz Yücel für DIE WELT verfasste: Zum einen geht es um ein Interview, das Yücel 2015 mit Cemil Bayık, einer leitenden Figur der kurdischen Arbeiterpartei PKK führte. Der zweite Vorwurf der «Volksverhetzung» ist fast noch absurder, weil es um einen Text um den Nordirak geht, in dem Yücel den folgenden, in der Türkei allseits bekannten kurdischen Witz zitierte:
Ein Türke und ein Kurde werden zum Tode verurteilt. ‹Was ist dein letzter Wunsch?›, wird der Kurde vor Vollstreckung gefragt. Er überlegt kurz und sagt dann: ‹Ich liebe meine Mutter sehr. Bevor ich aus dieser Welt scheide, möchte ich noch einmal meine Mutter sehen.› Dann darf der Türke seinen letzten Wunsch äußern. Ohne zu zögern antwortet er: ‹Der Kurde soll seine Mutter nicht sehen.›
Mit der Freilassung des Menschenrechtlers Peter Steudtner am 26. Oktober 2017 und der Journalistin Meşale Tolu am 18. Dezember 2017 wuchsen zunächst die Hoffnungen, dass die selbst nach türkischem Recht rechtswidrige Inhaftierung von Deniz Yücel auch bald ein Ende haben würde. So gibt es keine komplizierten Ermittlungen oder Vertuschungsgefahr, denn die «Beweise» in Form von Zeitungsbeiträgen liegen auf dem Tisch. Diese Hoffnungen zerschlugen sich jedoch rasch. So war bereits die Freilassung von Tolu davon überschattet, dass die Journalistin nach der eigentlichen Freilassung von Polizisten über mehrere Stunden festgehalten wurde. In zwei anderen Fällen, die des Publizisten Mehmet Altan und des Journalisten Şahin Alpay hatte das türkische Verfassungsgericht im Januar die Freilassung bis zum Prozess angeordnet und die Untersuchungshaft für rechtswidrig erklärt. Das untergeordnete Strafgericht in Istanbul revidierte die Entscheidung des Verfassungsgerichtes und die beiden blieben in Haft. Ähnlich erging es Ende Januar dem Präsidenten der türkischen Sektion von Amnesty International, Taner Kilic. Diese bizarren Vorgänge deuten indessen auf schwerwiegende Konflikte innerhalb der türkischen Justiz hin.
Jetzt, ein Jahr nach der Festnahme von Deniz Yücel, hat sich die allgemeine politische Lage in der Türkei weiter verfinstert. Das autokratische Präsidialsystem wurde inzwischen per Referendum abgesegnet und die Zahl der Inhaftierten steigt von Tag zu Tag. Seit dem Beginn der türkischen Offensive gegen Afrin in Nordsyrien am 20. Januar 2018 wurden mehr als 600 Menschen allein wegen kritischen Äußerungen in den sozialen Medien festgenommen. Andere Festnahmewellen gegen vermeintliche Gülen-Anhänger oder Sympathisant*innen der linken Oppositionspartei HDP gehen ebenso weiter.
Dennoch kämpfen die Angehörigen, Freund*innen und Kolleg*innen von Deniz Yücel mit beeindruckender Hartnäckigkeit und großer Unterstützung seitens vieler tausend Menschen in Deutschland und der Türkei weiter für seine Freilassung und die der weiteren 150 inhaftierten Journalist*innen.