Nachricht | International / Transnational - Krieg / Frieden - Westasien - Libanon / Syrien / Irak - Türkei - Westasien im Fokus Begrenzte Offensive, erhebliche Verluste

Militärische Aspekte des türkischen Angriffs auf Afrin

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Einen stetig aktualisierten Überblick über die Kämpfe gibt SyrianCivilWarMap.com. Türkischer Belagerungskrieg in Afrin, Courtesy of OpenStreetMap.de — © SyrianCivilWarMap.com

Schon seit Jahren wurde über einen Großangriff der Türkei und verbündeter Kräfte gegen die kurdischen Selbstverwaltungsstrukturen in Nordsyrien spekuliert. Dafür sprachen die wiederholten Ankündigungen der türkischen Regierung, dagegen die Schwächung der Türkischen Streitkräfte durch die zurückliegenden Säuberungskampagnen. Diese Kampagnen laufen nicht erst seit dem Putschversuch vom 15. Juli 2016, sondern schon weitaus länger und haben zur Entlassung oder Verhaftung eines Großteils des militärischen Fach- und Spitzenpersonals geführt. Die erheblichen Schwierigkeiten bei ihrer letzten Offensive gegen einen bereits geschlagenen IS in Syrien verstärkten diese Zweifel. Dennoch: Seit dem 14. Januar 2018 wird die kurdische Enklave Afrin von drei Seiten angegriffen.

Die Zahlen der eingesetzten Truppen variieren je nach Quelle zwischen 6.400 Soldaten der Türkischen Streitkräfte und etwa 10.000  Kämpfer*innen der Freien Syrien Armee (FSA). Anders als ihr Name nahelegt, ist die FSA ein Konglomerat verschiedener islamistischer und dschihadistischer Milizen, die direkt von Ankara bezahlt werden. Seitens der Türkei wurden neben Infanteristen, schwere Waffensysteme, wie Artillerie und Panzer sowie Flugzeuge und Kampfhubschrauber eingesetzt. Theoretisch kann bei einem Einsatz von Drohnenaufklärung jeder Punkt Afrins unter präzises Artilleriefeuer genommen werden. Die Zahl der kurdischen Verteidiger*innen ist schwierig zu bestimmen, dürfte jedoch höher als die vielfach angegebenen 8.000-10.000 Kämpfer*innen liegen, weil die Mobilisierung für den Verteidigungskrieg noch anläuft.

Beschränkte militärische Fähigkeiten der Türkei

Der Angriff auf Afrin erfolgt bislang an nur wenigen Punkten, die nicht nur vom Gelände sondern auch von den schwer passierbaren türkischen Grenzsicherungsanlagen vorgegeben werden, womit mit den Offensivaktionen an vielen Stellen das Überraschungsmoment fehlt. Angriffe mit gepanzerten Fahrzeugen konnten die kurdischen Verteidiger*innen auch dank panzerbrechender Waffen bislang effektiv abwehren. Fabrikate russischen Ursprungs sind scheinbar so reichlich verfügbar, dass sie gar gegen ungepanzerte Fahrzeuge eingesetzt werden. Dies deutet auf intakte Nachschubwege in das von der syrischen  Regierung dominierte Aleppo hin. So konnte die Koalition aus Türkischen Streitkräften und FSA bislang nur wenige grenznahe Dörfer und taktisch bedeutsame Hügel in verlustreichen Kämpfen erobern.

Kurdische und türkische Angaben über die Opfer des Krieges variieren deutlich. Die syrische Beobachtungstelle für Menschenrechte spricht mit Stand vom 12. Februar von 29 getöteten türkischen Soldaten und 173 toten FSA-Kämpfern. Auf Seiten der Verteidiger*innen sollen 159 Kämpfer*innen und 74 Zivilist*innen getötet worden sein – letzteres erscheint indessen als sehr niedrig angesetzt – das Informationsprojekt SyrianCivilWarMap nennt zum Beispiel 191 tote Zivilist*innen.

Die geringen Erfolge sowie die hohen Verluste, ohne auch nur den grenznahen Raum verlassen zu haben, bestätigt Zweifel an den realen Fähigkeiten der Türkei ihre großen Kapazitäten einzusetzen. Sie bliebt unter ihren technischen Möglichkeiten. Dies deutet auf erhebliche Koordinierungsdefizite im Militär hin. Und entgegen ihrer Ankündigung, stellt die Offensive keinen umfassenden Großangriff dar.

Offensive gegen zivile Ziele und lebensnotwenige Infrastruktur

Allerdings fällt die exhibitionistisch zur Schau gestellte Brutalität der Angreifer auf. Die Bilder reichen von Folterungen von Zivilisten bis zu Vergewaltigungen und Verstümmelungen gefangener Kämpferinnen sowie der gezielten Zerstörung von Kulturgütern. Bereits in den ersten Tagen der Offensive tauchten Berichte über Angriffe auf zivile Ziele und Infrastruktur auf. So sollen sich Staudämme in Folge von Luftangriffen in einem kritischen Zustand befinden. Ferner gibt es Angriffe auf medizinische Einrichtungen und einzelne Dörfer sollen durch Luftangriffe nicht nur beschädigt, sondern komplett vernichtet worden sein. Mangelnde Fähigkeiten am Boden konnte die Türkei zumindest teilweise durch eine brutal geführte Luftkampagne ausgleichen. Nach türkischen Angaben wurden in den ersten Tagen des Angriffs ein Viertel(!) aller türkischen Kampfflugzeuge eingesetzt. Hinzu kommen die deutlich ausgeweiteten Raketen- und Artillerieangriffe, die inzwischen auch das Zentrum von Afrin Stadt erreichen. Diese Angriffe haben das Potential, eine größere humanitäre Krise zu verursachen, die das Widerstandspotential der Verteidiger*innen mittelfristig erheblich schwächen und damit eine militärische Wende auf dem Boden herbeiführen könnte. Ein der türkischen Regierung zuarbeitender Think Tank (EDAM) nennt diese Option inzwischen ganz offen «Belagerungskrieg». Er sieht darin eine Alternative zu Häuserkämpfen, die für die Türkischen Streitkräfte verlustreich wären. Wider besseren Wissens, behauptet EDAM, dass diese Form der Kriegführung legal sei und sorgt sich zugleich um das mögliche internationale Medienecho. Allerdings motivieren gerade diese Brutalität und die berechtigte Sorge vor türkischen Massakern, die Bevölkerung zum Widerstand.

Sperrung des Luftraums über Afrin?

Die Türkischen Streitkräfte hatten ihre Offensive im Januar begonnen, nachdem sie wussten, dass der Luftraum über Afrin weder von der syrischen Regierung noch von Russland verteidigt werden würde. Doch der türkisch-russische Konflikt um die Provinz Idlib wirkt sich inzwischen erheblich auf die Afrin-Offensive aus: Während Russland und die syrischen Regierungstruppen versuchen, die westsyrische Provinz in einer brutalen Kampagne zurück zu erobern, unterstützt die Türkei dort dschihadistische Rebellengruppen, wie Hayʼat Tahrir al-Sham. Nach dem Abschuss eines russischen Jets am vierten Februar durch diese Gruppe, wurden bis zum achten Februar keine türkischen Luftangriffe auf Afrin mehr geflogen. Nach Konsultationen zwischen der türkischen und der russischen Regierung sind die Luftangriffe jedoch wieder aufgenommen worden. Vermutlich hatte die Türkei Russland ein Entgegenkommen in der Idlib-Frage zugesichert. Die vielfach vertretene These, dass die Aufhebung der Luftraumsperrung über Afrin in Zusammenhang mit einem US-Luftangriff auf Regime-nahe Kräfte am Euphrat südöstlich von Deir ez-Zor stehe, unterschlägt die Tatsache, dass sowohl Russland als auch die USA versuchen, den Vorfall herunter zu spielen. Beide Seiten haben Syrien de facto in Einflusszonen aufgeteilt. Östlich des Euphrat liegt die US-amerikanische-, westlich die russische Zone. Der türkische Angriff auf Afrin steht also in einem deutlichen  Zusammenhang zu den Ereignissen in Idlib. Im Falle erneuter Interessenskonflikte zwischen der Türkei und Russland ist wieder mit einer Sperrung des Luftraumes über Afrin zu rechnen.

Axel Gehring, Marburg, arbeitet zur Hegemonie, Staatstheorie, Politischen Ökonomie, Europäischen Integration, Geschichte und Gegenwart der Türkei sowie ihrer Regionalpolitik. Seine Dissertation «Wider den Staatsmythos – Europäisierte Regulation der Türkei» erscheint in 2018.