Nachricht | Arbeit / Gewerkschaften «Ohne uns läuft hier nichts!»

Die studentischen Beschäftigten der Berliner Hochschulen nehmen Kurs auf einen unbefristeten Streik.

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Jasper Stange,

Streikende Studierende demonstrieren im Mai 2018. Foto: Lukas Laier

Am 17. Mai bietet der Leopoldplatz im «Roten Wedding» Berlins ein ungewohntes Bild. Wo es sonst höchstens beim Wochenmarkt voll wird, finden sich heute gut tausend Studierende um eine große Bühne ein. Rot-weiße Fahnen der Gewerkschaften Ver.di und GEW (Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft), dazwischen die Banner linksradikaler Gruppen und von Hand bemalte Transparente sind zu sehen. Von vorne sprechen Vertreter_innen der Gewerkschaften und Studierende. Ein Gefühl des Aufbruchs herrscht: Es ist die zentrale Aktion eines einwöchigen Warnstreiks, dem bisherige Höhepunkt der seit 2015 geführten Tarifinitiative «TV Stud» für die studentischen Beschäftigten. Als nächster Schritt soll nun ein unbefristeter Streik vorbereitet werden. Was ist da los in Berlin?

17 Jahre Lohnverfall und ein Ende in Sicht

Eine Universität könnte heute nicht ohne die Arbeit studentischer Beschäftigter funktionieren. Etwa 8000 von Ihnen sind in verschiedensten Bereichen der Berliner Hochschulen tätig. Studentische Beschäftigte leiten Tutorien, sind also ganz unmittelbar in der Lehre involviert. Sie unterstützen Dozierende bei der Vorbereitung ihrer Seminare und Vorlesungen. Sie recherchieren, beschaffen, sortieren und scannen Literatur und Quellen für die Forschung von Professor_innen und dem akademischen Mittelbau. Sie beraten ihre Kommiliton_innen bei Fragen zu Kursen, Prüfungsordnungen, Studiumsplänen und manchmal auch ganz persönlichen Problemen. Sie verwalten die Computer, Server, Websites und die Social Media-Kanäle von Instituten und Lehrstühlen, geben Auskunft an Infoständen und sortieren die Bücher in Bibliotheken. Es gibt praktisch keinen Aspekt der Uni, der nicht von studentischer Arbeit mitgetragen wird. «Ohne uns läuft hier nichts», so einer der Slogans im Warnstreik.

Und dennoch: bei der Lohnauszahlung ist von all dem wenig zu spüren. Schon, dass es überhaupt einen Tarifvertrag für studentische Beschäftigte gibt, ist bundesweit ein Einzelfall. Außerhalb Berlins werden die Löhne einseitig von den Ländern entschieden, oft noch weit unter dem Niveau von Berlin. Der Tarifvertrag der studentischen Beschäftigten (TV Stud) konnte hier 1986 erst durch einen mehrwöchigen Streik erkämpft werden. Und nun warten die studentischen Beschäftigten bereits seit 17 Jahren auf eine Lohnerhöhung. Nachdem ihr Tarifvertrag 2001 von den regelmäßigen Lohnerhöhungen des übrigen öffentlichen Dienstes abgekoppelt wurde, lässt die Inflation den damals festgelegten Stundenlohn von 10,98 Euro real stetig sinken. 2004 wurde dann noch das Weihnachtsgeld ersatzlos gestrichen. Insgesamt bedeutet das einen Lohnverfall von 25% seit 2001.

2015 gründeten Ver.di und GEW daher eine neue Tarifinitiative, die Anfang letzten Jahres den Hochschulen ihren Forderungskatalog überbrachte. Ganz oben auf der Liste: eine Lohnerhöhung auf 14 Euro pro Stunde und eine Rückankopplung an die regelmäßigen Lohnerhöhungen der Beschäftigten unter dem Tarifvertrag der Länder (TV-L), die die Inflation ausgleichen sollen. 14 Euro klingt nach viel, ist aber tatsächlich der bis 2001 ausgezahlte Lohn, nur eben nach Ausgleich der seitherigen Inflation. Die Ankopplung an den TV-L, meist «Dynamisierung» genannt, soll sicherstellen, dass sich eine jahrelange Lohnstagnation nicht wiederholt. Hinzu kommen Forderungen nach einer Wiedereinführung des Weihnachtsgeldes, Schutz vor Arbeitsverdichtung und nach längerer Lohnauszahlung im Krankenfall (bisher gilt «sechs Wochen krank, dann blank», wie es ein Schild auf einer TV-Stud-Kundgebung treffend zusammenfasste). Explizit abgelehnt werden unterschiedliche Lohnstufen nach Qualifizierung, so dass etwa eine Studierende mit Bachelorabschluss mehr verdient als ihr Kommilitone im ersten Semester. Für die Streikenden steht fest: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit.

Bevor die Kampagne jedoch in konkrete Verhandlungen treten und Warnstreikaktionen organisieren konnte, musste zunächst ein Fundament für eine schlagkräftige Bewegung gelegt werden. Bereits ab Mitte 2015 trafen sich Aktivist_innen monatlich, um die Kampagne vorzubereiten und erste Materialien zu erstellen. Vernetzungstreffen mit Hochschulgruppen, Plakate und kreative Aktionen mündeten in der 2016 begonnenen Initiative, tausend neue Gewerkschaftsmitglieder unter den Beschäftigten zu gewinnen. Auch das Engagement einzelner studentischer Beschäftigter spielten dabei eine Rolle: durch Gespräche mit ihren Kolleg_innen verankerten sie die Kampagne organisch an ihren jeweiligen Arbeitsplätzen. In einer groß angelegten Beschäftigtenumfrage wurde ausgelotet, welche Forderungen den Beschäftigten besonders wichtig waren, wobei sich ein Großteil für Lohnsteigerungen und Dynamisierung des Tarifvertrages aussprachen. Mit dem Rückhalt der neu gewonnenen Gewerkschaftsmitglieder begannen dann 2017 die Tarifverhandlungen, die von zahlreichen Demonstrationen, Störungen von Universitäts-Gremien und anderen Aktionen begleitet wurden. Die heute laufende Kampagne ist also keineswegs spontan entstanden, sondern der langfristigen Organisationsarbeit von Aktiven aus Gewerkschaften, politischen Gruppen und der studentischen Hochschulpolitik zu verdanken.

«Der Lohn geht der Existenz voraus»

Nachdem die Hochschulen die gewerkschaftliche Verhandlungskommission ein Jahr lang in Verhandlungen hinhält, legen sie im Dezember ein letztes Angebot von 12,13 Euro Lohn pro Stunde vor, ohne die geforderte Dynamisierung. Die Gewerkschaftsseite sieht die Verhandlungen als gescheitert an und kündigt zum 1.1.2018 den TV Stud. Von Mitte Januar bis Mitte Februar wird während vier Warnstreiks die Arbeit niedergelegt. In diesen Tagen entfaltet sich eine Dynamik, die man an den (zu Unrecht) als zunehmend unpolitisch verschrienen Hochschulen nur selten erlebt. Gruppen von Streikenden ziehen durch die Mensen, um lautstark für Solidarität mit dem Streik zu werben und zu den Streikkundgebungen zu mobilisieren. Von diesen aus ziehen nicht selten spontane Demonstrationen durch die Gebäude der Unis. In fast allen Instituten sind Bürotüren mit Plakaten geschmückt, die auf den Streik aufmerksam machen: «Der Lohn geht der Existenz voraus» und «Niemand hat das Recht einem ungerechten Tarifvertrag zu gehorchen» heißt es da, nur halb ironisch, in Anspielung auf Sartre und Hannah Arendt. Auch klassische Gewerkschaftstaktiken kommen zum Einsatz: Mittels Bürorundgängen, auch «Blitze» genannt, kommen die Streikenden mit ihren Kolleg_innen ins Gespräch und können die Streikbereitschaft in unterschiedlichen Instituten ermitteln. Und immer wieder finden kreative Aktionen statt: So zieht nach der Kundgebung des ersten Streiktages eine Gruppe von Studierenden ins Grimm-Zentrum, die zentrale Hochschulbibliothek der Humboldt-Universität. Dort leihen sie wahllos Bücher aus und geben diese direkt wieder zurück. Was passiert, wenn keine studentischen Beschäftigten da sind, um diese wieder einzuräumen, sieht man in den nächsten Tagen ganz plastisch: In den Fluren reihen sich Wagen voller unsortierter Bücher aneinander.

Stärken und Schwächen der Bewegung

Aktionen wie diese offenbaren sowohl Stärken als auch Schwächen der Streikbewegung. Anders als in klassischen Betrieben sind das Studium und oft auch die studentischen Beschäftigungsverhältnisse keine nine-to-five-jobs; die Streikenden können im Regelfall ihre Zeit flexibler zwischen Studium, Arbeit und politischer Aktivität aufteilen, als es in einer Autofabrik oder einem Krankenhaus der Fall ist. In vielen Fällen bringen sie auch ein ausgeprägtes politisches Bewusstsein mit sich, und die Streikbewegung kann sich auf eine vielfältige politische Infrastruktur aus linken Organisationen, Jugendgruppen der Gewerkschaft, Fachschaftsinitativen usw. stützen, die den Streik auf unterschiedliche Weise stärken.

Andererseits müssen die Aktiven sich mit der Problematik auseinandersetzen, dass ihr Streik meist nicht direkt die Hochschulleitungen trifft, sondern in den meisten Fällen die Studierenden und Lehrenden, etwa wenn Tutorien ausfallen. Diesen Druck nach «oben» weiterzuleiten, etwa indem Dozent_innen Beschwerdebriefe über die unhaltbare Situation der studentischen Beschäftigten an die Hochschulleitungen schicken, hat bisher nicht immer gut funktioniert. Dennoch haben die Streikenden bisher viel Solidarität von Seiten der Lokalmedien, den Lehrenden und Studierenden erfahren. Bei Letzteren hängt dies wohl auch damit zusammen, dass sie eine gemeinsame Lebenssituation mit den Streikenden teilen. Sie alle wissen, wie schwierig es beispielsweise ist, in Berlin eine bezahlbare Wohnung zu finden. Eine Lohnerhöhung von drei Euro in einer Stadt zu fordern, deren Mietenspiegel in den vergangenen sieben Jahren um über 70% gestiegen ist kommt einem vor dem Hintergrund dieser Erfahrung fast schon bescheiden vor.

Vom Warnstreik zum Vollstreik?

Inzwischen zeigen die Aktionen durchaus Wirkung. Versuchte die Freie Universität im Januar noch, die Streikenden mit der Behauptung zu verunsichern, der Streik sei illegal, legten die Hochschulen im März ein neues Angebot vor und neue Verhandlungsrunden fanden statt. Obwohl sich die Hochschulen auf die Forderungen der Gewerkschaften zubewegten, blieben ihre Angebote bisher unbefriedigend. Obwohl es für die Tarifbewegung nicht ganz einfach war, den niedrigen Aktivitätsgrad während der Semesterferien zu überbrücken, scheinen die Kräfteverhältnisse derzeit zu ihren Gunsten zu liegen. Neben Unterstützung von Professor_innen, wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Mitarbeitern sowie Kommiliton_innen haben die Streikenden nun auch den Rückhalt der Berliner Regierungsparteien. In einer gemeinsamen Pressemitteilung stellten diese sich explizit hinter die Forderungen der Gewerkschaften: «Die Hochschulen haben sich in den Hochschulverträgen bereits dazu verpflichtet, die Gehälter ihrer studentischen Beschäftigten regelmäßig an die steigenden Lebenshaltungskosten anzupassen. Eigentlich muss diese Verpflichtung jetzt nur noch über den Tarifvertrag eingelöst werden», heißt es da. Doch auch weiterhin bleiben die Angebote der Hochschulen unbefriedigend, insbesondere in Bezug auf die Dynamisierung des Tarifvertrages scheuen sie sich vor konkreten Zugeständnissen. Während einer weiteren von Aktionen und Demonstrationen begleiteten Warnstreikwoche entschlossen sich die Beschäftigten daher auf einer Streikversamlung am 15. Mai mit großer Mehrheit, den Druck noch einmal zu erhöhen und einen unbefristeten Streik in Angriff zu nehmen. Den Berliner Hochschulen könnte also ein heißer Sommer bevorstehen.

TV Stud – eine Chance auch über Berlin hinaus?

Und auch über Berlin hinaus hat die TV Stud-Bewegung Ausstrahlungskraft entfaltet. Bis heute ist Berlin das einzige Bundesland, in dem die Gehälter studentischer Beschäftigter über einen Tarifvertrag geregelt sind. Viel Luft nach oben also im Rest der Republik! Bereits in mehreren Städten haben sich erste lose Bündnisse gebildet, die über einen möglichen Streik studentischer Beschäftigter beraten. Und so könnte es bald auch anderswo in Deutschland heißen: «Ohne uns läuft hier nichts!»

Jasper Stange ist Stipendiat der Rosa-Luxemburg-Stiftung, arbeitet als studentischer Beschäftigter und befindet sich im Streik. Politisch organisiert ist er im Studierendenverband Die Linke.SDS.