Am 18. April verkündete Staatspräsident Erdoğan überraschend vorgezogene Neuwahlen für den 24. Juni. Die demokratische, linke und kurdische Opposition musste sich in kürzester Zeit auf einen Wahlkampf vorbereiten, der ihrer Einschätzung nach unter unfairen und undemokratischen Bedingungen stattfinden würde: Mehr als 5000 Politiker*innen und Aktivist*innen der Linkspartei HDP (Demokratische Partei der Völker) sitzen seit Monaten und Jahren im Gefängnis, darunter der für das Präsidentschaftsamt nominierte Spitzenkandidat Selahattin Demirtaş. Das Land befindet sich seit Juli 2016 in einem fortwährend verlängerten Ausnahmezustand, der demokratische Grundrechte wie das Versammlungsrecht massiv einschränkt. Zudem setzt die AKP nach wie vor auf ihr Konzept der gesellschaftlichen Polarisierung. Weiterhin werden gezielt Konflikte zwischen Regierungsanhängern und Oppositionellen geschürt, die als «Terroristen» gebrandmarkt werden.
Kurz vor den Wahlen, bewahrheitet sich die Einschätzung: In einem Bericht der HDP, der bereits Anfang Juni veröffentlicht wurde, werden innerhalb von nur 35 Tagen 22 Angriffe auf Infostände und Wahlbüros registriert. Die Dunkelziffer dürfte höher liegen. Ein Beispiel von vielen: Nachdem HDP-Aktivisten ihr Parteibüro mit Wahlkampffahnen schmücken wollten, belagerten in der türkischen Stadt Bolu hunderte türkische Nationalisten das Gebäude, rissen die Fahnen ab und verbrannten sie auf offener Straße. Unter den Angreifern befand sich auch der örtliche Spitzenkandidat der neofaschistischen Partei der Grauen Wölfe, MHP, die sich im «Nationale Allianz» genannten Bündnis mit der Regierungspartei AKP befindet. Die Polizei griff, wie so oft, nicht ein. Im Gegenteil. Der Bericht registriert im gleichen Zeitraum 136 Festnahmen von HDP-Mitgliedern. 14 davon wurden in dauerhafte Untersuchungshaft genommen.
Letzte Woche wurde zudem ein Video einer Sitzung von AKP-Gemeindevorstehern bekannt, auf der Präsident Erdoğan die Anwesenden dazu aufruft, «HDP-Leute zu markieren» und «spezielle Maßnahmen» zu ergreifen. Das erklärte Ziel: die Partei unter die parlamentarische 10-Prozent-Hürde zu drücken. Die Antwort auf diesen Aufruf folgte prompt am nächsten Tag in der kurdischen Kleinstadt Suruç an der türkisch-syrischen Grenze. Als der AKP-Abgeordnete İbrahim Halil Yıldız Wahlkampf in der Innenstadt macht, regt sich Protest. Örtliche Ladenbesitzer rufen «Von uns bekommt ihr keine Stimme». Daraufhin eröffnen die Begleiter des Abgeordneten das Feuer, eine Person stirbt, mehrere Menschen werden, zum Teil schwer verletzt. In den darauf folgenden Auseinandersetzungen wird auch der Bruder des Parlamentariers tödlich verletzt. Im Krankenhaus der Stadt geht der Angriff weiter. Angehörige des AKP-Abgeordneten greifen die eingelieferten Verletzten an und ermorden zwei weitere Menschen. Eine Gerichtsmedizinerin berichtet von einer durchgeschnittenen Kehle und einem tödlichen Schädelbruch, der durch massive Gewalteinwirkung von außen zustande gekommen sei. Augenzeugenberichten zu Folge schaute die anwesende Polizei ohne einzugreifen zu. Nicht so am nächsten Tag, als bei der Beerdigung hunderte Menschen von den Sicherheitskräften mit Tränengas und Wasserwerfern angegriffen wurden. Mehr als ein Dutzend Menschen werden inhaftiert. In den darauffolgenden Tagen versuchten AKP-Politiker und ihnen nahestehende Medien, die Morde von Suruç der Arbeiterpartei Kurdistans PKK und der Opposition in die Schuhe zu schieben.
Unser größter Sieg wird der Frieden sein.
Selahattin Demirtaş
Bereits 2015 war es für die HDP nicht möglich, einen normalen Wahlkampf zu führen. Heute ist es noch weniger der Fall. Dennoch setzte sie Akzente, die weltweit einzigartig sind. Zum ersten Mal führte ein Präsidentschaftskandidat hinter Gittern einen Wahlkampf über Soziale Medien wie Twitter, Facebook und Instagram. Selahattin Demirtaş wird drei Mal am Tag von seinen Anwälten besucht und einmal die Woche von seiner Frau Basak Demirtaş. Er kommuniziert nur über seine Anwälte mit der Außenwelt, die seine Mitteilungen handschriftlich bekommen und dann Wort für Wort über seinen offiziellen Twitter-Account senden. Über diese Wege antwortet er auch Erdoğan, der auf einer Wahlkundgebung die Todesstrafe für Demirtaş fordert.
Seine Familie tritt diesmal viel öffentlicher auf und nimmt in diesem außergewöhnlichen Wahlkampf einen zentralen Platz ein. Außergewöhnlich nicht nur, weil die HDP systematisch angegriffen wird und ihr Präsidentschaftskandidat hinter Gittern sitzt. Sondern weil es die HDP und Selahattin Demirtaş geschafft haben, in einer eigentlich von politischer Verzweiflung geprägten Atmosphäre die Menschen zum Lachen und zum Tanzen zu bringen. Auch dieses Jahr mobilisiert die HDP mit Wahlliedern in schnellen Rhythmen und farbenfrohen Bildern. Sie vermitteln den politischen Willen, eine heterogene und freie Türkei aufzubauen.
Einige seiner Tweets adressiert Demirtaş direkt an seine Frau. Er zitiert Gedichte von Ahmed Arif und sie teilt Fotos aus ihrer Studentenzeit. Er schreibt ihr Liedtexte und singt in ein Aufnahmegerät «Habe keine Angst!». Sie antwortet mit einem Video, in dem sie und ihre zwei Töchter dasselbe Lied vertonen. Alles vor den Augen und Ohren der allgemeinen Öffentlichkeit.
Viele fragen sich, «wie schafft es Demirtaş, so positiv und voller Lebensfreude zu bleiben»? Die Antwort ist klar: Er nimmt sich die Kraft aus dem kollektiven Bewusstsein einer jahrzehntelangen Widerstandstradition kurdischer Politiker*innen und linker Intellektuelle. Sein Körper befindet sich in seiner kleinen Zelle im Hochsicherheitsgefängnis in Edirne an der Grenze zu Bulgarien, aber sein Geist ist überall. Er hat die Menschen in der Türkei und außerhalb mit seiner Liebe für seine Frau, seine Familie, sein Land und die Menschheit berührt. Vor allem aber mit seinem festen Glauben, dass ein Frieden trotz allem noch möglich ist, oder in seinen eigenen Worten: «Unser größter Sieg wird der Frieden sein».