Mit der Dozentin und Performance-Künstlerin Işıl Eğrikavuk und dem Kurator Adnan Yıldız haben wir über das Feld der zeitgenössischen Kunst in der Türkei und ihre Rolle im Kampf um Ausdrucksfreiheit gesprochen.
Özlem Kaya im Gespräch mit Işıl Eğrikavuk und Adnan Yıldız.
Was ist das «Neue» an der Kulturpolitik der «Neuen Türkei»? Wie agieren die staatlichen und institutionellen Akteure, die Player am Markt und nicht zuletzt die Kulturproduzent*innen?
Adnan Yıldız: Wenn wir in die Geschichte der Republik schauen, sehen wir, dass Zensur, Einschränkungen der Ausdrucksfreiheit und Verbote überhaupt nichts Neues sind. Es hat unter den verschiedenen Regierungen dezidierte systematische Repressionsmechanismen gegeben: Vom Gesetz zur Sicherung der Öffentlichen Ruhe (1925) bis hin zur Untersuchungskommission der Demokratischen Partei in den 1960er Jahren, vom Militärputsch von 1971 bis hin zu dem von 1980, von der Gründung des Obersten Rundfunk- und Fernsehrates bis zum Ausnahmezustand, sowie von der Einschränkung des Internets bis hin zum Pressegesetz. Und heute, so kann man sagen, werden vergleichbare Repressionsmechanismen mit vergleichbarer Entschiedenheit weiterentwickelt. In den letzten Jahren diskutieren konservative Kreise über kulturelle Hegemonie und das finde ich ironischerweise sehr beachtlich. Denn in einem Klima, in dem Kreativität, die Rolle von Intellektuellen und Staatsbürgern oder selbst Grundfreiheiten keine konsensfähigen Werte ausmachen, wird man Propaganda für diejenigen betreiben, die das Sagen haben. Jede Form von Ideen, Gedanken oder Handlungen, die nicht vom türkisch-sunnitisch-patriarchalen Staatsverständnis gutgeheißen wird, zieht Sanktionen nach sich. Man kann daher kaum von Vielfalt, Kontinuität oder Freiräumen sprechen. Bei uns sind nur die Vögel frei. Aber Wälder gibt es auch kaum noch. Ich habe nicht das Gefühl, dass es für die heutigen Machthaber als Träger des Diskurses von der «Neuen Türkei» einer gesonderten Form der Analyse bedarf. Für mich gilt: Im Westen nichts Neues.
Zensur ist die bekannteste Form der Kontrollausübung und Einschränkung von Kunst und Kultur. Aber es hat ja auch schon immer verschiedene Formen des Kampfes dagegen gegeben und die gibt es nach wie vor. Wie wird deiner Erfahrung nach mit Zensur umgegangen und dagegen gekämpft?
Işıl Eğrikavuk: Du hast Recht. Alle Künstler*innen erleben das auf je eigene Weise. Meine Erfahrung begann damit, dass das YAMA auf dem Dach des The Marmara Pera Hotel einen Bildschirm installiert hat, auf dem 2016 eine Videoarbeit von mir gezeigt wurde. Das wurde durch das Ordnungsamt der Stadt Istanbul unterbunden, ohne dass mir jemand Bescheid gegeben hätte. Meine Arbeit bestand aus einer 30-sekündigen Animation mit dem Titel «Wir müssen neue Lieder singen». Eingeblendet wird der Satz «Eva, iss deinen Apfel auf.» Dem Hotelpersonal wurde zunächst gesagt, die Arbeit verletze religiöse Gefühle. Das war aber gar nicht die offizielle Begründung. Sondern später hieß es, die Arbeit sei «visuelle Umweltverschmutzung». Als einzelne Künstlerin ist es natürlich sehr schwer, mit Zensur fertig zu werden. Durch die Unterstützung des Projektes Siyah Bant (das schwarze Band) und meiner Anwältin Tuba Torun konnte ich, sobald ich die anfängliche Panik überwunden hatte, einen Kampf führen, in dem es für mich darum ging zu verstehen, was visuelle Umweltverschmutzung bedeuten soll. Denn in einer 20-Millionen-Stadt, wo an jeder Ecke Neonreklamen prangen und selbst die Brücken noch mit knallbunten Lichtern ausgestattet sind, gibt es keine nachvollziehbare Definition von visueller Verunreinigung. Es war auch überhaupt nicht klar, wer nach welchen Kriterien zu beurteilen habe, was visuelle Verunreinigung darstellen soll. Nachdem ich bei der Stadtverwaltung auf meine förmlichen Anfragen keine Antworten bekam, habe ich gemeinsam mit meinen Studierenden beschlossen, eine Antwort-Performance zu machen. Sie fand im DEPO statt und war außerordentlich gut besucht. Für mich ist es wichtig, auf Zensur mit anderen und neuen Arbeiten zu antworten. Denn wenn wir auf dem Rechtsweg keine Antwort von den Behörden bekommen, dann ist Kunst eine Sprache, mit der wir die Situation auf anderem Wege zum Ausdruck bringen und vielleicht, durch einen anderen Blick, auch umkehren können.
Am 5. Juni 2018 waren Misal Adnan Yıldız und Işıl Eğrikavuk zu Gast in der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin:
Im Kampf um Meinungsfreiheit – Kunst und Kultur als Widerstand
İfade özgürlüğü mücadelesinin bir yönü: Direniş olarak kültür ve sanat
Es handelte sich um eine Veranstaltung der Salongesprächsreihe «Brave New Turkey?» Laboratorien, Krisen und Widersprüche der «Neuen Türkei» — «Yeni Türkiye» de deneyimler, krizler ve çelişkiler
Insbesondere in letzter Zeit ist der wachsende Einfluss eines polarisierenden Diskurses und entsprechender politischer Entscheidungen in der Türkei zu spüren. Glaubst du, dass Kunst und Kultur eine Antwort auf diese Polarisierung finden und einen Weg schaffen können, gleichzeitig Kampffeld und Dialograum zu sein?
Adnan Yıldız: Deine Frage erinnert mich an ein Foto, das ich vor Kurzem auf dem Taksim-Platz in Istanbul gemacht habe. In meiner eigenen Praxis sind Dialog, Kultur und Konversation wichtige Bezugspunkte. Als Leiter des Künstlerhauses Stuttgart habe ich zum Beispiel eine Reihe von Ausstellungen und Gespräche unter dem Titel Künstlerische Dialoge und Kritische Stimmen kuratiert. In meinem Programm im Artspace NZ in Auckland hieß eine Säule der Wissensproduktion Conversations. Als ich auf dem Taksim-Platz die Ankündigung eines «Interkulturellen Kunstdialogs» hinter einer Polizeisperre sah, dachte ich, wie hohl doch die Phrasen geworden sind. Vielleicht gehen wir mit solchen Begriffen auch zu leichtfertig um. Und dann tauchen diese in einem neuen Gewand auf, in Form der Bosporus-Brücke, des dritten Flughafens oder etwa des interkulturellen Dialoges. Ich würde also eine ziemlich pessimistische Antwort auf deine Frage geben. Gleichzeitig glaube ich aber daran, dass Literatur, Musik und Kunst sich wie Wasser immer irgendwie einen Weg bahnt. Kunst kann vielleicht keine politischen Probleme lösen, aber sie registrieren, reflektieren und neu aufzeigen. Wir dürfen nicht unseren Glauben daran verlieren, unsere Arbeit zu machen und mit ethischem und professionellem Handeln unsere Zeit zu dokumentieren. Wir dürfen unseren Glauben an die Geschichte, an die Menschheit und ans Universum nicht verlieren.
Als Künstlerin gehst du das Problem auf andere Weise an. Warum ist es für dich wichtig, das Feld der zeitgenössischen Kunst in einen Dialog mit populären Medien zu setzen, und was passiert dabei?
Işıl Eğrikavuk: Ich versuche alle Menschen in meine Arbeit einzubeziehen, ob sie nun Kunstpublikum sind oder nicht. Deshalb habe ich mich darauf konzentriert, mit Formen zu arbeiten, zu denen jeder Mensch schnell eine Beziehung aufbauen kann. Zum Beispiel habe ich 2012 mit dem Rap-Musiker Fuat Ergin und meinem Kollegen Jozef Erçevik Amado einen Song namens «Karar Bizim» (Wir entscheiden) produziert, der dann während der Gezi-Proteste oft im Park gespielt wurde, ohne dass wir es wussten. Es hat sogar jemand einen Clip dazu geschnitten mit Aufnahmen von den Protesten und ihn auf YouTube hochgeladen. Das hat mich sehr glücklich gemacht. Denn unsere Arbeit hat sich von uns und von ihrem Ort losgesagt und auf anderen Plattformen verbreitet. Außerdem habe ich drei Jahre lang für die Tageszeitung Radikal eine Kolumne namens Zeitgenössischer Kunstkopf verfasst. Das war eigentlich so etwas wie ein Kummerkasten für die Sorgen der Menschen mit zeitgenössischer Kunst. Es war eine Reihe von Antworten auf Zuschriften, die halb fiktional und halb echt waren. Es ging mir darum, den Leser*innen zeitgenössische Kunst nahezubringen und dabei eine andere Sprache zu benutzen als die PR-Texte der Galerien. Alles, was ich in meinem Leben gemacht habe – meine akademische Arbeit, mein Künstler*innentum und meine Arbeit als Journalistin – sind in dieser Kolumne zusammengeflossen. Es gibt immer noch Zuschriften an diese Kolumne [obwohl die Zeitung nicht mehr existiert, A.d.Ü.], ich bekomme noch E-Mails an die Adresse, und das ist eine sehr schöne Sache.
Işıl Eğrikavuk ist Dozentin und Künstlerin. An der Bilgi Universität lehrte sie im Bereich Kunst und Medien. Sie setzt ihre Arbeit an der Universität der Künste in Berlin fort. 2012 bekam sie mit dem Full Art Prize die erste Auszeichnung für zeitgenössische Kunst. Mit ihrer Arbeit Pluto‘s Kitchen war sie in London beim Block Universe Performance Art Festival (2017), mit After the Fact: Propaganda in the 21st Century im Lenbachhaus in München (2017) und in Berlin war sie letztes Jahr Teil der Ausstellung House of Wisdom.
Der Kurator Adnan Yıldız unterstützte das Kurationsteam der 13. Istanbul Biennale und bekam 2014 den Curate Award. Er war als Leiter des Künstlerhauses Stuttgart und als Direktor des Artspace NZ in Auckland tätig. Auf dem diesjährigen London Art Fair kuratierte er die Reihe Dialogues 2018. 2016 war er Teil der Jury des National Arts Awards Neuseelands. Aktuell ist er mit der Ausstellung Yer Değiştiren Ufuklar / Shifting Horizons beschäftigt, die im Frühjahr in Istanbul eröffnete und mit der Veranstaltungsreihe Mutterzunge, die bis Oktober 2018 in Berlin läuft.