Alejandra Gaviria war sechs Jahre alt, als ihr Vater Francisco Gaviria verschwand, gefoltert und ermordet wurde. Er gehörte der Unión Patriótica an, einer linken kolumbianischen Partei, die 1985 nach einem Friedensvertrag aus dem politischen Arm der FARC sowie der Partido Comunista Colombiano hervorgegangen war. Über 3.500 ihrer Mitglieder wurden von Militärs, Paramilitärs und Drogenhändlern ermordet.
Gemeinsam mit anderen von politischer Gewalt Betroffenen gründete Alejandra im Jahr 2005 in Kolumbien die Organisation H.I.J.O.S. (Hijos por la Identidad y la Justicia contra el Olvido y el Silencio: Kinder für die Identität und die Gerechtigkeit, gegen das Vergessen und Schweigen). In ihrer Arbeit stechen drei Punkte besonders hervor: erstens die Problematisierung des «Opfer-Labels», weil damit so getan wird, als gäbe es bei dem Konflikt lediglich Akteure und Zuschauer, obwohl alle betroffen sind; zweitens die Wiedergewinnung der «Erinnerung an die unerfüllten Träume», das heißt der Appell, sich nicht nur an das Leiden und Grauen des bewaffneten Konflikts zu erinnern, sondern auch positive Erinnerung zu bewahren, «Erinnerung für die Zukunft»; und drittens ein Denken, das auf eine grundlegende «Transformation der Gesellschaft» aus ist und nicht nur auf eine «Lösung» des Konflikts.
Amador Fernandez-Savater hat für uns mit Alejandra Gaviria über diese drei Punkte sowie die aktuelle Situation des Friedensprozesses und die kolumbianische Präsidentschaftswahl vom 19. Juni gesprochen.
Eine Kurzfassung des Interviews ist am 4. September in der Tageszeitung neues deutschland erschienen.
Amador Fernández-Savater: Wie kamst du zu H.I.J.O.S.?
Alejandra Gaviria: Zu H.I.J.O.S. kam ich mit 22 Jahren. Das heißt, eigentlich kam ich nicht dazu, sondern ich habe damals gemeinsam mit anderen Personen damit begonnen, H.I.J.O.S. aufzubauen. An der Universität traf ich andere junge Leute, deren Geschichten meiner eigenen ähnelten. Wir alle gehörten einer Generation an, deren Gemeinsamkeit die Erfahrung und Auseinandersetzung mit der politischen Gewalt der 1980er Jahre darstellt, eine Gewalt, die in meinem Land eine lange Geschichte hat. Wir erzählten uns gegenseitig von dieser Erfahrung und bemerkten, dass wir alle durch diese Geschichte miteinander verbunden waren. Schließlich beschlossen wir, den Konflikt – oder besser: die Transformation des Konflikts – von der Erinnerung aus anzugehen.
Wir wussten damals von der Existenz der H.I.J.O.S. der Plaza de Mayo in Argentinien und dass ihre Erfahrungen und ihre Arbeit auf andere Orte wie Mexiko oder Guatemala ausgestrahlt haben. Deswegen traten wir mit ihnen in Kontakt und entschieden dann, unser Kollektiv zu gründen. Anfangs waren wir um die sieben bis zehn Personen.
Was waren eure ersten Aktionen?
Im Jahr 2005 begann in Kolumbien mit Inkrafttreten des «Gesetzes für Frieden und Gerechtigkeit» ein Prozess der Amnestierung von paramilitärischen Gruppen. Dieses Gesetz war furchtbar, denn im Gegensatz zu den aktuellen Friedensverträgen verlangte es von den Angehörigen dieser Gruppen, die in vielen Fällen für Verbrechen gegen die Menschlichkeit und den Tod unserer Eltern verantwortlich waren, nicht, mit ihren Aussagen zur Wahrheitsfindung beizutragen. Ihnen wurden alternative Strafen angeboten, ohne dafür eine Gegenleistung zu verlangen.
Wir waren sehr empört. Jahrelang haben wir mit dieser Empörung gelebt, sie war für uns ein Antrieb. Aber irgendwann stellte sich die Frage: Wohin mit der Wut? Wir entschieden uns dazu, sie konstruktiv zu wenden, etwas aus ihr zu machen, damit sie nicht in unserem Inneren bleibt. Wir begannen damit, öffentliche Kampagnen durchzuführen, um die Schuldigen zu ächten, indem wir erzählten, was sie getan haben, und erklärten, warum die Gesellschaft von ihnen mehr einfordern sollte.
Das Opfer-Label infrage stellen
Welche Überlegungen haben euch dazu gebracht, eine Gruppe von Betroffenen zu bilden, die sich nicht ausschließlich als Opfer sehen? Warum versteht ihr euch nicht als Opfer?
Wir wollten von Beginn an einen generationenübergreifenden Aufruf formulieren, einen Aufruf, der sich an alle richtet, die die tödlichen und zerstörerischen Auswirkungen der politischen Gewalt von Nahem erlebt, die ganz unmittelbar die Wut und Empörung gespürt haben. Unabhängig davon, ob der Mensch, den sie durch die Gewalt verloren haben, ihr Vater, ihr Bruder, ihr Nachbar oder einfach der politische Kandidat gewesen ist, den man wählen wollte.
Das hat mit unserer Reflexion über die Erfahrung zu tun, in Kolumbien als Opfer bezeichnet zu werden. Unserer Ansicht nach vereinfachen der Begriff Opfer und das Gegenstück Täter den komplexen Konflikt. Denn es scheint so, als gäbe es eine überschaubare Gruppe, die «Anderen», die von dem Konflikt erfasst und zu dessen Opfer wurden. Auf diese Weise wird das Konzept Opfer zu einer Barriere, aufgrund der man das Gefühl hat, dass das nichts mit dem zu tun hat, was im Land passiert. Niemand trägt Verantwortung, niemand ist betroffen.
Wir fragen stattdessen, wer hier die Opfer sind. Nur wir, die wir direkt persönliche Verluste erlitten haben? Das ist absurd. Die kolumbianische politische Kultur selbst ist Opfer des Konflikts: Eine Partei der Linken, die Resultat eines Friedensvertrages war, wurde komplett vernichtet. Das betrifft Millionen von Menschen, die für diese Partei stimmten, große Erwartungen in sie setzten und Träume mir ihr verbanden. Was mit der Unión Patriótica geschehen ist, war eine barbarische Lektion, die der ganzen Gesellschaft galt. Sie diente der Abschreckung und Indoktrination. Es fällt uns schwer, dies zu akzeptieren und die Auswirkungen zu verkraften, weil sie so brutal sind, aber wir müssen erkennen: Die gesamte Gesellschaft wurde von dem Konflikt in Mitleidenschaft gezogen. Nicht nur wir. Tatsächlich konnten wir ansatzweise verarbeiten, was wir erlebt haben, während andere gar nicht über das Geschehene nachdenken, einfach deshalb, weil sie sich nicht als Opfer betrachten.
Das klingt nach einer sehr strikten Ablehnung der Opferfigur, die zum Beispiel bei den Auseinandersetzungen in Spanien kaum infrage gestellt wird, dort vielmehr eine enorme Macht entfaltet. Ich denke vor allem an die Opfer der ETA im sogenannten baskischen Konflikt.
Es ist problematisch, wenn eine Gesellschaft auf einen komplexen Konflikt mit einer vereinfachenden Sichtweise reagiert, sich auf wenige Ereignisse beschränkt, die in keinen Zusammenhang gerückt werden und bei denen es nur individuelle Opfer und Täter gibt. So entsteht die Überzeugung, dass nur die Opfer über das Geschehene sprechen können. Sie werden zur einzigen «legitimen Stimme des Schmerzes». Das fördert eine Haltung der Verantwortungslosigkeit und Passivität in der Gesellschaft. Wenn die Menschen sich nicht zu dem Konflikt positionieren müssen, sich nicht betroffen fühlen, dann werden sie sich auch nicht an dem dringenden gesellschaftlichen Wandel beteiligen und überlassen erneut die gesamte Last und Verantwortung den Opfern und Tätern.
Das ist etwas, was wir von H.I.J.O.S. ändern wollten. Wir wollten einen kollektiven Dialog in Gang zu setzen, der die Frage nach der Rolle der Gesellschaft aufwirft, die, ob sie es will oder nicht, über Jahrzehnte hinweg Teil des Konflikts war. Uns geht es nicht länger um ein punktuelles Ereignis, um individuelle Opfer, sondern um die Frage, welche Ursachen, Dynamiken und Auswirkungen dieser Konflikt hatte und wer davon profitiert hat. Deswegen haben wir dazu aufgerufen, dass nicht nur die Opfer sprechen, sondern alle die Verantwortung für das Geschehene übernehmen und auf die Transformation des Konflikts hinarbeiten sollen – und zwar von dort aus, wo der Konflikt uns berührt hat. Deshalb sagen wir immer: «Wir alle sind H.I.J.OS.»
Erinnerung an die unerfüllten Träume
Ich würde jetzt gern zu euren Überlegungen zur Bedeutung von Erinnerung kommen. Welche Art von Erinnerung wollt ihr bewahren?
Die Toten, wie zum Beispiel unsere Eltern, werden benutzt. Wir waren diese ständige Instrumentalisierung satt. Die Medien interessieren sich immer für die tragischsten Geschichten, sie fotografieren dich, während du weinst, oder bitten dich, zu erzählen, wie dein Vater gestorben ist. Je mehr Details über die Folter, desto besser. Die einzige Botschaft, die darüber vermittelt wird, ist: Angst. Wir haben also gesagt: Schluss damit! Wir werden nicht dazu beitragen, dass dies die Erinnerung ist, die von unseren Eltern bleibt. Die vielen Ermordeten, Gefolterten und Gebrochenen sind nicht nur wichtig wegen des Unrechts und der Schmerzen, die man ihnen zugefügt hat. Sie waren darüber hinaus Menschen, die an beindruckenden Projekten gearbeitet haben, die faszinierende Ideen und Visionen hatten. Wir sagten: Unserer Väter macht sehr viel mehr aus als der Fakt, dass sie gewaltsam gestorben sind.
Und wir begannen damit, die Erinnerungsarbeit auszuweiten. Uns hat nicht nur die Geschichte der grauenhaften Verbrechen interessiert, das, was unseren Angehörigen angetan wurde, sondern wir begannen, uns für das Warum zu interessieren. Wir fragten: Was haben unsere Eltern getan, um Kräften in der Gesellschaft so viel Angst einzujagen, dass diese ihre Beseitigung als Lösung betrachteten? Wir stießen dabei auf einen wahren Schatz, auf eine enorme Menge innovativer Ideen, die jene, die man vernichtet hat, entwickelt und vertreten haben: Schutz und Erhalt kollektiver Territorien und ihrer Ressourcen, Bürgerhaushalte, eine stärkere Beteiligung der Bevölkerung an politischen Entscheidungen, eine bessere Amtsführung, Selbstverwaltung, der Kampf für soziale Rechte etc.
Wir erkannten, dass diese Form der Erinnerungsarbeit, diese konkreten Ideen uns dabei helfen können, die Zukunft zu gestalten. Wenn du lernen willst, wie man in schwierigen Zeiten überleben kann, frag einen Vertriebenen in Kolumbien, und du wirst 500 Vorschläge erhalten, wie du ohne einen Peso, ohne Unterstützung von deinem Land oder deinem Vater dein Leben fortführen und deine Kinder großziehen kannst. Wenn wir diesen Aspekt der Erinnerung und den Widerstand stark machen, dann verändert sich der gängige Blick auf die Opfer, auf die Ermordeten und ihre Angehörigen. Und du begreifst, dass die Überlebenden in einer Situation, in der sich die Gesellschaft fragt, wie das Land nach dem ganzen Schmerz und Grauen wieder neu aufgebaut werden soll, eine wichtigen Beitrag zu leisten haben.
Ihr sprecht in diesem Zusammenhang von «Erinnerung für die Zukunft»
Wir suchen immer die Verbindung zur Gegenwart. Denn die Identifikation als Opfer von begangenen Verbrechen beinhaltet die Gefahr, dass die Vergangenheit unser Leben und unsere Wahrnehmung dominiert. Wir erinnern das, was geschehen ist, aber in Kolumbien dürfen wir uns nicht darauf beschränken. Denn hier geschieht weiterhin Ungeheuerliches. Es gibt hier kein Nachher. Zwischen 2016 und 2018, das heißt, zwischen der Unterzeichnung des Friedensvertrages und dem Versuch, diesen umzusetzen, wurden 282 Anführer*innen von sozialen und territorialen Bewegungen ermordet; Bewegungen, die um ihr Land, um den Zugang zu Wasser oder darum kämpfen, dass die Vereinbarungen des Friedensvertrags erfüllt werden. Das bedeutet, dass alle drei Tage eine politische Aktivistin bzw. ein Aktivist ermordet wird.
Von daher besteht die Herausforderung darin, den Konflikt zu transformieren, zu zeigen, dass das, was meinem Vater passiert ist, nichts ist, das 30 Jahre her ist, sondern dass es weiterhin passiert. Unsere Erinnerung ist in einer Gegenwart und einer Zukunft verankert, sie handelt von Hoffnungen, von denen wir wollen, dass sie endlich in Erfüllung gehen.
Gegen die Angst auf die Straße gehen
Was habt ihr mit euren Aktivitäten erreicht?
Wir haben beschlossen, dass dieser Prozess des Wiederentdeckens von vergessenen Träumen und Praktiken nicht nur für unser eigenes Leben nützlich, sondern für möglichst viele andere Menschen eine tolle Erfahrung sein soll. Und das soll sich in dem, was wir tun, widerspiegeln. So können wir besser dieses Heute aufzeigen, das sie uns geraubt haben. Wir sind zum Beispiel auf die Straße gegangen. In Kolumbien, konkret in Bogotá, hat man damals sehr wenig die Straße genutzt, es herrschte ein Klima der Angst. Wir haben beschlossen, nicht darauf zu warten, dass Frieden herrscht, um dann auf die Straße zu gehen. Wir wollten gleich damit beginnen. Und so haben wir unsere Geschichten mit lauter Stimme in die Öffentlichkeit getragen. Wir haben mitten auf der Straße einen Dokumentarfilm gezeigt, zusammen Musik gemacht, eine Performance aufgeführt und öffentlich über unsere Geschichten und Dinge gesprochen, über welche die Leute lieber nicht sprechen wollen. Zum Beispiel, dass der Staat hauptverantwortlich für den Massenmord und die extralegalen Hinrichtungen an Mitgliedern der Unión Patriótica und Menschenrechtler*innen war. So konnten wir unseren kleinen Beitrag zur allgemeinen Aufklärung leisten und schafften es, über das zu sprechen, was uns Angst machte, über das wir zuvor hatten schweigen müssen, aber auch über das, wovon wir träumen, von unserer Überzeugung, dass wir etwas Besseres verdienen und dass wir mit unserer alltäglichen Arbeit eine bessere Zukunft aufbauen können.
Das sind unsere größten Erfolge. Ganz konkret haben wir dazu beigetragen, dass es heute weniger Angst gibt, dass mehr Menschen es wagen, eine Anzeige zu stellen und gegen ihre Peiniger vor Gericht zu ziehen. Heute muss der Staat in meinem Land seine Verantwortung für viele Verbrechen anerkennen. Das haben wir nicht allein erreicht, sondern mit vielen anderen gemeinsam und dank der Opfer und dank der vielen Menschenrechtsaktivist*innen, die seit Jahrzehnten, lange bevor H.I.J.O.S. gegründet wurde, für Gerechtigkeit kämpfen und uns gezeigt haben, was dieser Weg bedeutet.
Welche Sprache, welche Ästhetik, welche Formen habt ihr gewählt, um euren Erinnerungen Ausdruck zu verleihen?
Wir wussten, dass wir über all das in einer anderen Sprache sprechen, neue Formen finden mussten, nicht nur jene der Anklage. Um unsere Anliegen besser und mehr Menschen vermitteln zu können. Es hat immer Gedenkfeiern gegeben, aber wir haben ihnen eine neue Bedeutung verliehen. Wir veranstalteten ein Konzert, bliesen riesige Ballons auf, gestalteten ein gigantisch großes Graffiti, wir versuchten, vieles anders zu machen. Unter uns gab es viele Künstler*innen. Es war die Zeit, in der Graffiti en vogue waren, wir waren Teil dieser Bewegung. Heute ist Bogotá eine Stadt, die für ihre vielen Wandbilder (murales) berühmt ist, früher nannte man das Vandalismus, heute ist es Street Art. Das hat mit den Aktivitäten unserer Menschenrechtsbewegung zu tun. Wir kümmerten uns um die besondere Gestaltung von einigen Mauern und Wänden. Wir malten, redeten mit den Nachbarn, schufen einen gemeinsamen Sinn. Anfangs wurden unsere murales übermalt, aber oft sind die Nachbarn selbst rausgegangen, um diese gegen Angriffe zu verteidigen. Heutzutage werden unsere murales nicht mehr attackiert.
Wir versuchten, unsere Sicht auf die Dinge immer wieder in unterschiedlichen Sprachen und Formen darzubieten. Damit brachen wir mit dem Klischee des «armen Opfers», das keine Mittel hat, sich auszudrücken. Wir gingen auf die Universitäten, um zu lernen, um klüger und stärker zu werden. Als ich anfing zu studieren, konnte man nicht einmal über die Unión Patriótica sprechen. Niemand wollte meine Abschlussarbeit betreuen. Mit der Zeit und aufgrund unserer Beharrlichkeit entstanden aber Panels, Seminare und Workshops zu unserem Thema. Zwanzig sehr entschlossenen Personen gelang es, dieses auf die Tagesordnung zu setzen. Die meisten von uns waren am Anfang weder Künstler*innen noch Akademiker*innen oder sonst etwas. Wir nutzen einfach verschiedene Werkzeuge und Sprachen für unser Ziel und unsere gemeinsame Sache: Die Leute sollen erfahren, was uns passiert ist, damit es nicht weiterhin passiert. Und dafür mussten wir zu Akademiker*innen, Maler*innen oder Musiker*innen werden.
Der Frieden ist nicht bloß eine Unterschrift
An welchem Punkt befindet sich der Friedensprozess in Kolumbien gerade? In Europa gibt es diesbezüglich viel Verwirrung. Man weiß, dass der ursprünglich ausgearbeitete Friedensvertrag in einem Referendum abgelehnt worden ist, aber wenig mehr. Was passiert also gerade in Kolumbien?
Der Friedensprozess verfolgt zwei Ziele: erstens den Übergang der FARC von einer bewaffneten Gruppe hin zu einer demokratischen Kraft, und zweitens sollte den Opfern des Konflikts das Recht auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung garantiert werden. Beides ist heute gefährdet.
Nach dem gescheiterten Referendum wurden die seit sechs Jahren anhaltenden Friedensverhandlungen anderweitig wieder aufgenommen. Dazu gehört, dass man dem kolumbianischen Parlament die Befugnis erteilt hat, die von beiden Seiten in Havanna vereinbarten Punkte zu diskutieren, anzunehmen oder zu verändern. Im Ergebnis hat das meines Erachtens zu einer Schwächung und Verzerrung des Verhandelten geführt. Viele grundlegende Vereinbarungen wie etwa die Stärkung der Rechte der Opfer – konkret der Opfer von Staatsverbrechen – wurden verändert. So wurde die Option gestrichen, zivile Akteure, die in den Konflikt involviert waren, beispielsweise Unternehmer oder transnationale Konzerne, vor Gerichten der Übergangsjustiz anzuklagen. Verschwunden aus dem Vertrag ist zudem das Prinzip der Verantwortlichkeit der Befehlshaber bei den staatlichen Sicherheitskräften sowie das Vorhaben, den Opfern des Konflikts eine Reihe von Regierungsposten zuzugestehen.
Hinzu kommt, dass es die Regierung versäumt hat, bestimmte Verpflichtungen zur Förderung der gesellschaftlichen Wiedereingliederung von Ex-Guerilleros der FARC zu erfüllen: Die versprochenen landwirtschaftlichen Produktivprojekte kommen nicht in Gang, zahlreiche FARC-Mitglieder befinden sich weiterhin im Gefängnis und, was am besorgniserregendsten ist, es wurden bereits mehr als 30 ehemalige FARC-Kämpfer*innen ermordet. Dies zeigt, dass die Regierung ihrer Verpflichtung nicht nachkommt, deren Leben zu schützen und es ihnen zu ermöglichen, sich auf demokratische Weise politisch zu betätigen, was den Kern des Friedensvertrags ausmacht.
Weitere Probleme sind die schwierige Sicherheitslage und Gewalt in den Gebieten, die zuvor von der FARC kontrolliert wurden und heute aufgrund der Abwesenheit des Staates von Drogenbanden und Paramilitärs beansprucht werden, sowie die bereits erwähnte systematische Ermordung von Anführer*innen sozialer Bewegungen in den vergangenen zwei Jahren.
Die FARC hat dagegen ihren Teil der Vereinbarungen erfüllt: Sie haben ihre Waffen abgegeben und auch nach dem Referendum unbeirrbar weiter auf den Frieden gesetzt. Auch die Opfer haben das Ihrige getan: Die Bevölkerung der Orte, die vom Krieg und der FARC am stärksten heimgesucht wurden, haben beim Referendum mehrheitlich für die Annahme des Friedensvertrags gestimmt. Die meisten Nein-Stimmen gab es in den Städten, wo die Leute von den Geschehnissen am wenigsten betroffen waren. Für mich besteht das größte Problem darin, dass fast die Hälfte der Bevölkerung bei dem Referendum nicht abgestimmt hat. Es gibt Millionen Menschen, die meinen, das Thema ginge sie nichts an. Ich glaube, dass diese Gleichgültigkeit gefährlicher für den Friedensprozess ist als diejenigen, die die Verhandlungen aktiv bekämpft haben.
Du meinst damit Álvaro Uribe Vélez?
Die Parole von Uribe und seiner Partei lautet: Zerreißen wir den Friedensvertrag! Und viele Leute sind damit einverstanden. Sie glauben, dass wir uns mit dem Friedensvertrag auf einen Abgrund zubewegen, dass sich unser Land in Richtung «Castro-Chavismus» entwickelt. Aber das Problem ist nicht Uribe, sondern die Unterstützung, die er von jenen Teilen der Gesellschaft erfährt, die meinen, der Frieden werde weder mit ihnen noch für sie gemacht. Denn der Frieden ist nicht bloß eine Unterschrift, sondern ein sozialer Prozess, er setzt einen Mentalitätswandel voraus. Und daher wird es nur Frieden geben, wenn es Bürgerbewegungen gibt, die einfordern, dass das Vereinbarte eingehalten wird und darauf all ihre Kreativität, Energie und ihr Engagement verwenden.
Welche politische Landschaft hat die Wahl vom 19. Juni hinterlassen?
Mit der neuen Regierung und den Äußerungen einiger der sie unterstützenden Fraktionen zeigt sich deutlich, dass die Kräfte, die sich der Unterzeichnung des Friedensvertrages zwischen Staat und den FARC widersetzt haben, weiterhin darauf aus sind, «diesen in Stücke zu reißen». Unter anderem deshalb, weil viele von ihnen von dem Krieg, dem Hass und der Angst in der Gesellschaft massiv profitiert haben. Darauf basieren ihre Macht und auch ihre Millionengewinne. Aber ihr Widerstand rührt auch daher, weil sie als in den Konflikt Involvierte nicht wollen, dass sie vor der Gesellschaft Rechenschaft ablegen und sich vor der Justiz verantworten müssen. Eines der Ziele des staatlichen Programms für Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Nichtwiederholung, das der Vertrag vorsieht, ist es, die Verantwortlichkeiten in dem Konflikt aufzudecken. Das schließt die FARC mit ein, aber nicht nur sie. Folglich ist abzusehen, dass ein mächtiger Teil der Gesellschaft bei seiner rigorosen Ablehnung des Friedensvertrags bleiben und alles tun wird, damit die in dem Friedensvertrag vereinbarten Maßnahmen nicht umgesetzt werden, vor allem im Bereich Justiz und Wahrheitsfindung.
Aber es stimmt auch, dass die Präsidentschaftswahlen und ihr knappes Ergebnis zeigen, wie gespalten derzeit die kolumbianische Gesellschaft ist. Es herrschen weiterhin Lügen und Angst, mit denen die Leute eingeschüchtert werden. Vor der Abstimmung über den Friedensvertrag hieß es, uns drohe bei Unterzeichnung die «Homosexualisierung» der Gesellschaft, zudem würde die FARC die Macht im Land übernehmen. Ein anderes Horrorszenario lautete, wir würden uns in Venezuela verwandeln, sollte ein Kandidat die Präsidentschaftswahlen gewinnen, der nicht Teil der etablierten politischen Klasse ist.
Aber die Spaltung hat auch damit zu tun, dass die andere Hälfte, die für die Annahme des Vertrags gestimmt hat, diese Propaganda satt hat und daran interessiert ist, die erzielten Errungenschaften und Voraussetzungen für den Aufbau des Frieden zu schützen. Das hat zu einer gesellschaftlichen Mobilisierung geführt, bei der junge Leute unterschiedlicher politischer Strömungen eine zentrale Rolle spielen. Dazu zählen auch junge Menschen aus den traditionellen Parteien, die bei diesen Wahlen entschieden haben, ihnen nicht blind zu folgen. Stattdessen unterstützen sie aktiv die notwendigen Veränderungen für diesen besonderen historischen Moment, den wir gerade erleben, und haben das zu ihrem wichtigsten Anliegen gemacht. Das gibt zweifellos Grund zur Hoffnung, auch wenn diese von zahlreichen Widrigkeiten getrübt ist, von denen die nicht enden wollende Ermordung politischer Aktivist*innen die schlimmste ist. Aber es ist klar, dass ein großer Teil der Gesellschaft den Wunsch nach Frieden, der uns in den vergangenen sechs Jahren immer wieder auf die Straße getrieben hat, verinnerlicht hat. Aufgrund der vielen Probleme und Hindernisse, die wir auf dem Weg bis hierhin aus dem Weg schaffen mussten, ist uns klar, dass es diesen von uns ersehnten Frieden nicht von heute auf morgen geben wird und wir daher Durchhaltevermögen benötigen, das sich nicht an einem Wahltag erschöpft.
Die Hoffnung, dass sich die Dinge ändern können, ist inmitten des längsten bewaffneten Konflikts, den die Welt jemals erlebt hat, nicht erloschen. Warum sollte sie jetzt, ein gutes Jahr nach Unterzeichnung des Friedensvertrags, erlöschen? Wir müssen diesem Prozess mindestens die gleiche Zeit einräumen wie der Lösung unseres internen Konflikts. Zudem müssen wir am Aufbau eines Friedens arbeiten, der soziale Gerechtigkeit einschließt, der unsere Würde als Ausgangspunkt nimmt und die Beziehungen zwischen Menschen, Natur und Territorium berücksichtigt.
Amador Fernandez-Savater ist unabhängiger Forscher und Schriftsteller, Aktivist in verschiedenen sozialen Bewegungen und Mitherausgeber beim Verlag Acuarela Libros.
Übersetzt aus dem Spanischen von Tobias Lambert.
Redaktion: Börries Nehe
Lektorat: TEXT-ARBEIT, Berlin