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Kommentar von Friedrich Burschel zu den Bagatellisierungen der Vorfälle in Chemnitz durch die politische Elite.

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Nach der Festnahme von acht mutmaßlichen Rechtsterroristen in Chemnitz am 1. Oktober muss die Causa Chemnitz neu verhandelt werden und die gravierenden Fehleinschätzungen von Teilen der Politik, der Medien, der Wissenschaft und vor allem der Behörden benannt werden.

Wie bitter es sein kann, Recht zu behalten, haben all diejenigen erlebt, die nach den rassistischen Ausschreitungen gewaltbereiter Neonazis Ende August, Anfang September in Chemnitz auf die zunehmende Gefahr des organisierten Neofaschismus in Deutschland hingewiesen haben.

Statt dies ernst zu nehmen und darüber faktenbasiert zu debattieren, schickte sich eine politische Elite in Sachsen und im Bund an, die Vorfälle in Chemnitz zu bagatellisieren und in Frage zu stellen. Sachsens CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer verkündete kategorisch im Landtagsplenum, es habe keinen Mob, keine Hetzjagd, kein Pogrom gegeben. Ihm sekundierte Werner Patzelt, Politikprofessor an der TU Dresden, notorischer Verharmloser,  Extremismusdoktrinär und ein echter Tunichtgut in der Debatte über den manifesten Neonazismus im in dieser Hinsicht «failed state» Sachsen. Und nur allzu willig folgten Teile der medialen Berichterstattung der offiziellen politischen Bewertung.

Es ging also wochenlang nicht mehr darum, was sich tatsächlich auf Chemnitz’ Straßen zugetragen hatte, wo an mindestens zwei Tagen hunderte, wenn nicht tausende extrem aggressive Neonazis und rechte Fußball-Hooligans marodierten und Hetzjagden auf als «nicht-deutsch» wahrgenommene Menschen und Sozialdemokrat*innen veranstalteten und  Vermummte ein jüdisches Lokal angriffen, sondern darum, ob tatsächlich so und so häufig der Hitlergruß offen gezeigt worden sei, ab wann ein rassistischer Angriff als Hetzjagd bezeichnet werden darf, was ein Pogrom sei und was ein Mob. An diesen aufgeregten Versuchen, die braunen Chemnitzer Chaostage kleinzureden, beteiligten sich schließlich auf Bundesebene - es hat niemanden gewundert - auch Bundesinnen- und Heimatminister Horst Seehofer und sein Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen. Die 120 von der Staatsanwaltschaft Dresden eingeleiteten Ermittlungsverfahren wegen verschiedener Delikte, darunter Landfriedensbruch, Körperverletzung und Beleidigung, spielten dabei selten eine Rolle, Betroffene dieser Straftaten wurden in der Debatte völlig ignoriert. Und mal wieder verschwand unter dem dreisten Getöse der Verharmloser das eigentliche Thema: Die Radikalisierung einer gut organisierten, für den Kampfeinsatz wohl erprobten und vernetzten und bis zum Mord bereiten militanten Neonazi-Szene in Deutschland, die im Zuge des AfD- und Pegida-induzierten Rechtsrucks ihre Stunde nahen sieht. Der lang erfolgte Schulterschluss der Nazi-Szene mit intellektuellen «Konservativen Revolutionären» um Vordenker Götz Kubitschek, mit den Pegida-Initiator*innen und Teilen der nach rechts driftenden völkisch-nationalistischen Neupartei, die ihren Einfluss nun auch im Bundestag schrill und gefährlich geltend macht, konnte in Chemnitz in aller Ausführlichkeit studiert werden.

Chemnitz  könnte überall sein, was eine Woche später der Aufmarsch hunderter Nazis in sachsen-anhaltinischen Köthen nochmals unter Beweis stellte.  Chemnitz war aber durchaus auch kein Zufall. Darauf hatten das Antifaschistische Pressearchiv und Bildungszentrum Berlin (apabiz e.V.), das Netzwerk NSU-Watch und auch die Rosa-Luxemburg-Stiftung mehrfach hingewiesen. Der Zusammenhang zum NSU drängte sich förmlich auf: Das Kerntrio des NSU flüchtete vor der Verfolgung durch die Polizei von Jena nach Chemnitz, weil es wusste, dass es hier ein tragfähiges, zur Hilfe bereites und fähiges, ideologisch durchdrungenes «Netzwerk von Kameraden» vorfinden würde, das sie mit offenen Armen und allen Formen der Unterstützung empfangen würde. Die Einschätzung des Chemnitzer Aufruhrs durch NSU-Watch war so überschrieben: «Die Ereignisse von Chemnitz bieten den idealen Nährboden für einen neuen NSU».

Dass Strafverfolgungsbehörden zu diesem Zeitpunkt bereits eine Gruppe aufgefallen sein muss, die sich anschickte diese Nachfolge des NSU anzutreten, macht den Skandal um den ehemaligen Verfassungsschutz-Präsidenten Maaßen noch einmal größer und vielleicht auch groß genug, um schließlich noch den Bundesinnenminister zu Fall zu bringen.

Es ist gegenwärtig noch zu früh einzuschätzen, welche Gefahr von der Gruppe, die sich «Revolution Chemnitz» nannte, ausging. Nach Angaben der Bundesanwaltschaft, die hier über den § 129 a, Bildung einer terroristischen Vereinigung, die Ermittlungen an sich zog und die Festnahmen verfügte, gibt es Anhaltspunkte, dass zum Nationalfeiertag am 3. Oktober Angriffe und Anschläge auf Politiker*innen, Journalist*innen und als «nicht-deutsch» markierte Personen geplant waren.

Die Diskrepanz liegt zwischen der übergeschnappten Selbsteinschätzung, «Revolution Chemnitz» wolle mehr als die «Stümpertruppe», die «blutigen Anfänger» vom NSU, nämlich einen gesellschaftlichen Umsturz, und der weitgehend ungeschützten Kommunikation über die Messenger Whatsapp und Telegram. Fahnder hatten offenbar mit leichter Hand die Chatprotokolle der «konspirativen» Gruppe ausgelesen.

Mutmaßliche Angehörige der neuen rechten Terrorgruppe waren schon in der Vergangenheit einschlägig aufgefallen: «Rädelsführer» Tom W. hatte so eine Führungsfunktion schon beim «Sturm 34» innegehabt. Der «Sturm 34» aus dem sächsischen Mittweida hatte dort jahrelang Terror verbreitet und war vom sächsischen Innenministerium bereits 2007 verboten worden. Mindestens ein weiteres einstiges Mitglied dieser Nazi-Truppe soll jetzt unter den Festgenommenen gewesen sein. Laut Bundesanwaltschaft hatte sich die Gruppe spätestens am 11. September des Jahres gegründet und dann bereits am 14. September auf der Schlossteichinsel in Chemnitz Menschen attackiert und verletzt. Die sächsische Landtagsabgeordnete der Linken, Kerstin Köditz, jedoch verweist in einer Stellungnahme darauf, dass «Revolution Chemnitz» schon seit 2013 mit einem Facebook-Account im Netz präsent sei und das Logo der Gruppe mit einer integrierten «34» eine Reminiszenz zum Mittweidaer Vorläufer enthalte. Auch ließen sich, so Köditz, Verbindungen zum Umfeld des NSU herstellen. Köditz: «Es ist mir auch deshalb völlig unverständlich, warum ‹Revolution Chemnitz› erst jetzt ins Visier sächsischer Ermittler geriet. Gut, dass sich jetzt Bundesbehörden kümmern».

Da die Festgenommenen und ihre Anhänger*innen sicher nicht die einzigen unter den hunderten gewaltbereiten Neonazis in Chemnitz und Köthen, in Bautzen und Cottbus, in Dortmund und sonst wo gewesen sind, die derzeit, befeuert von den Ereignissen im Land von Umsturz und einer neonationalsozialistischen Revolution träumten, ist es eine Frage der Zeit bis im Windschatten einer beschworenen «Wende 2.0» ein «NSU 2.0» sein Haupt erhebt.
 

(c) Friedrich Burschel