Mit Nazlı Cabadağ und Evren Çakmak, zwei Aktivist*innen der LGBTI+-Bewegung, haben wir über die Politik der Türkei hinsichtlich LGBTI+ und den diesbezüglichen Kampfstrategien der Bewegung in der Türkei und in Deutschland gesprochen.
In der Türkei wurde eine Pride Week erstmalig 1993 in Istanbul unter dem Namen «Woche der sexuellen Freiheit» geplant, letztlich jedoch vom Gouverneur der Stadt nicht genehmigt. Der erste Pride fand dann 2003 statt. Wie beurteilst Du die zwischen diesen beiden Ereignissen liegenden 10 Jahre mit Blick auf die Geschichte des Kampfes der LGBTI+-Bewegung in der Türkei?
Evren Çakmak: Die Geschichte der LGBTI+-Bewegung in der Türkei begann Ende der 1980er mit Hausgesprächen und Zusammenkünften in öffentlichen Parks, die insbesondere als Treffpunkte von schwulen Männer dienten. In den 90er Jahren folgten dann erste Versuche der Organisierung. Mit der Initiative zur Veranstaltung einer Pride in Istanbul im Jahre 1993 und der Gründung der Zeitschrift KaosGL, deren erstes Heft 1994 erschien, fingen diese Versuche an, Gestalt anzunehmen. In dieser Phase richteten sich die Aktivitäten der LGBTI+-Bewegung eher an die eigene Community. Ziel war es, alle Felder der Sub- und Hochkultur, in denen LGBTI+ vertreten waren, zu berühren, um so LGBTI+ aus allen Lebensbereichen in die Arbeit einzubeziehen und eine Grundlage für Diskussionen und Bewusstseinsbildung schaffen. In Diskussiongruppen beschäftigte man sich mit Fragen und Lösungsvorschläge hinsichtlich gesellschaftlicher Probleme und autoritärer Mechanismen. Zur gleichen Zeit wurden damals Werte und politische Strategien ausgearbeitet, über die man sich innerhalb der Bewegung heutzutage nach wie vor einig ist. Der Erste Mai in Ankara 2001 und der Pride in Istanbul 2003 markieren den Beginn eines neuen Abschnitts für die LGBTI+-Bewegung in der Türkei. Die Bündnisbereitschaft einer Bewegung, die sich aus anarchistischen und antiautoritären Strömungen, Feminst*innen und Kriegsgegner*innen zusammensetzte, wurde größer und immer mehr Menschen waren bereit, die Existenz von LGBTI+ anzuerkennen. Dies geschah natürlich nicht mit einem Mal. So wurden Anarchist*innen aus manchen Räumen linker Politik ausgegrenzt, nachdem sie zum 1. Mai 2001 gemeinsam mit LGBTI+-Bewegungen auf dem Kundgebungsplatz aufgetreten waren. Die Begründung lautete, dass sie «revolutionäre Werte aushöhlen» würden. Es stecken eine enorme Mühe und Arbeit seitens der LGBTI+-Bewegung hinter einer Entwicklung, an deren Ende LGBTI+ im Zuge der Gezi-Park-Proteste 2013 als unverzichtbarer Bestandteil der gesellschaftlichen Opposition anerkannt wurden.
An den 2013 direkt im Anschluss an die Gezi-Park-Proteste und 2014 auf der İstiklâl-Straße veranstalteten Prides nahmen sehr viele Menschen teil. Seitdem ist zu beobachten, wie die Versammlungsfreiheit zunehmend durch Polizeieingriffe unterbunden wird. Was ist bei den Gezi-Protesten passiert und welchen Einfluss hatte das deiner Meinung nach auf die in der Folge betriebene Regierungspolitik?
Nazlı Cabadağ: Die Sichtbarkeit der LGBTI+ bei den Gezi-Protesten ist zwar breit thematisiert worden, doch ist in der Auseinandersetzung darüber die von der LGBTI+-Bewegung bis zu jenem Zeitpunkt gesammelte Erfahrung an manchen Stellen zu kurz gekommen. Aktivist*innen versuchen darauf bei jeder Gelegenheit hinzuweisen. Sichtbarkeit ist also nicht einfach ein Geschenk von Gezi an die LGBTI+. Was Gezi zudem unter anderem auszeichnet, ist, dass die Kampfstrategien und Sprachformen zahlreicher Graswurzelbewegungen Verbreitung finden konnten. Die LGBTI+-Bewegung ist hierbei besonders nennenswert, da Taktiken wie Widerstand durch Humor und Subversion der Sprache der Macht sowieso zu ihrem Repertoire gehören. Davon abgesehen wurden die LGBTI+ auch von vielen Gruppen wahrgenommen, mit denen es zuvor keine Berührungspunkte gegeben hatte. Dass, wie du schon sagtest, die Pride von 2014 die meistbesuchte Pride in der Geschichte der Türkei war, oder dass direkt nach Gezi die Treppen der Stadt in Regenbogenfarben gestrichen wurden, war kein Zufall. Der Regenbogen sowie auch die LGBTI+-Bewegung selbst wurden von vielen oppositionellen Gruppen, mit denen sie während Gezi Seite an Seite kämpfte, anerkannt und aufgenommen. Wahrscheinlich hat diese Sichtbarkeit die LGBTI+ auch in den Augen der Regierung zu einer Bewegung werden lassen. Der Pride war der zahlenmäßig stärkste gesellschaftliche Protest, der je auf der Istiklal stattgefunden hat. 2013 und 2014 wurden jeweils knapp 100.000 Teilnehmer*innen registriert. Die Regierung nahm das als politische Bedrohung wahr und reagierte 2015 mit Tränengas und Gummigeschossen. So anmaßend das auch klingen mag, bin ich doch davon überzeugt, dass das erste abgefeuerte Gummigeschoss die LGBTI+-Bewegung in ein kollektives politisches Subjekt verwandelt hat. Es gab in den vergangenen drei Jahren eine Reihe von Vorfällen, wo die Regenbogenfahne allein als ausreichend für einen Straftatbestand betrachtet wurde. Gezi wurde mit anderen Worten Schauplatz von Zusammenschlüssen, die nicht nur wir, sondern auch der Staat so nicht erwartet hatte. Bei letzterem hat dies für Beunruhigung gesorgt.
Ausgehend von dem Titel unserer Veranstaltungsreihe, gibt es Deiner Ansicht nach heute etwas «Neues» in Sachen der LGBTI+-Organisationen und der politischen Haltung des Staates gegenüber diesen Organisationen? Falls ja, wie ließe es sich am besten fassen?
Evren Çakmak: Auch wenn es historisch von Zeit zu Zeit Veränderungen im politischen Umgang der Türkei mit LGBTI+ gab, kann man den vor dem konservativen Ruck liegenden Zeitabschnitt zusammengefasst getrost als eine Phase des «Nicht-Sehens, Nicht-Sagens und Ignorierens» begreifen. Als am 12. September 1980 der Militärputsch zur «Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit» durchgeführt wurde, waren wie alle anderen sozialen Bewegungen auch LGBTI+ von den Verhaftungswellen betroffen. Dieselbe Politik wurde im Rahmen der von den Medien und der Polizei betriebenen Jagd auf Transgender und Transsexuelle, die damals «Transvestiten» genannt wurden, fortgesetzt. Gleiches lässt sich für die Räumung der Ülker-Straße und anderer LGBTI+-Ghettos sagen. Während dies einerseits für einen Anstieg von Homophobie und Transphobie in der Gesellschaft sorgte, übersah man andererseits den Hass, der durch die politischen Maßnahmen verursacht wurde. Zwar schaffte es die Thematik in den 2000er Jahren dank der EU-Beitrittsverhandlungen und dank einer LGBTI+-Bewegung, die nun auch Lobbyarbeit in ihr taktisches Arsenal aufnahm, auf die Agenda des Staates. Dieser versuchte zwar stets das Thema durch Unsichtbarmachen beiseitezuschieben, doch änderte sich die Politik angesichts des Auftriebs, den die Bewegung nach Gezi erfuhr: In 36 Städten wurden Bewegungen aktiv und insgesamt über 100.000 Protestmärsche organisiert. Die LGBTI+-Bewegung wurde nunmehr als Bedrohung für das herbeigewünschte Ideal der heterosexistisch-konservativen Gesellschaft wahrgenommen. Daraufhin wurden zunächst die Prides verboten, indem man die Empfindlichkeiten muslimischer Bevölkerungsgruppen vorschob. Letztes Jahr folgte dann im Zuge des Ausnahmezustandes ein Verbot für sämtliche LGBTI+-bezogene Veranstaltungen. Trotzalldem führt die Bewegung in der Türkei ihre Arbeit weiter fort und erwartet verdientermaßen eine aktivere Solidarität vom Rest der Welt.
Am 9. Oktober 2018 waren Nazlı Cabadağ und Evren Çakmak zu Gast in der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin:
Nieder mit Eurer Moral! Die LGBTI+ Bewegung und ihre Kampfstrategien
Ahlakınız Batsın! LGBTİ+ hareketi ve mücadele stratejileri
Es handelte sich um eine Veranstaltung der Salongesprächsreihe «Brave New Turkey?» Laboratorien, Krisen und Widersprüche der «Neuen Türkei» — «Yeni Türkiye» de deneyimler, krizler ve çelişkiler
Wie bewertest Du den Prozess der Organisierung queerer türkeistämmiger Migrant*innen in Berlin mit Rücksicht auf den politischen Umgang mit LGBTI+ und ihren Organisationen in der Türkei? Aus welchem Bedürfnis ist das Ganze gewachsen?
Nazlı Cabadağ: Zahlreiche LGBTI+ wandern aus verschiedenen Gründen aus der Türkei nach Berlin aus. Das ist eigentlich erstmal nichts Neues, denn insbesondere die Frequenz der Bewegungen zwischen Berlin und Istanbul ist uns ja seit Jahren bekannt. Aber durch die politischen und wirtschaftlichen Probleme in der Türkei ist die Zahl der Leute, die nach Berlin ziehen, angestiegen. Das trifft auch auf Lubunyas (LGBTI+-Jargon für «queere Person», Anm.d.Ü.) aus der Mitte oder vom Rande der Bewegung zu, die sich aus der Türkei bereits kannten. Selbstverständlich kommt nicht jede*r aufgrund politischer Bedrängnis aus der Türkei nach Berlin. So unterscheiden sich die Menschen, die die gerade aufkeimende Plattform Kuir Lubun Berlin bilden, auch hinsichtlich ihrer Hintergründe, ihrer sozio-ökonomischen Stellung und ihres bürokratischen Status, sprich in Hinblick auf unterschiedliche Kategorien von Visumstatus und Aufenthaltsgenehmigungen. Demgegenüber verfügen die in Berlin aufgewachsenen türkeistämmigen LGBTI+ gewissermaßen über ein Archiv. Beispielsweise gibt es den Ende der 90er Jahre gegründeten Verein GLADT e.V, auch wenn dessen Mitglieder sich nicht länger nur türkeistämmige Personen zusammensetzen. Weiter gibt es diverse Räume und Veranstaltungen, an denen türkeistämmige LGBTI+ beteiligt sind. Doch eine Selbstorganisation oder Plattform, über die wir unsere Erfahrungen als türkeistämmige und queere Individuen kollektiv zur Sprache bringen können, existierte bislang nicht. Wir sind zwar sehr viele, aber eben auch sehr verstreut. Aus solch einem Bedürfnis ist die neue Organisation gewachsen. Deshalb diskutieren wir momentan ehrlichgesagt alles Mögliche. Unser Zusammenkommen hat direkt zu Fragen wie «Wer sind wir eigentlich?» geführt, so dass wir gleich zu Beginn in einen Reflektionsprozess eingestiegen sind, der vielleicht nie enden wird. Wer ist ein*e Migrant*in? Sollten wir uns türkeistämmig nennen? Wen schließen wir aus, wenn wir uns türkischsprachig nennen? Was für Aktionen sollten wir unternehmen? Wie können wir aktuelle Themen aus der Türkei mit hiesigen Diskussionen verknüpfen? Fragen über Fragen. Was uns wichtig erscheint ist, dass wir für unser Handeln auch die Geschichte und Erfahrungen der hier aufgewachsenen türkeistämmigen LGBTI+ heranziehen. Ohnehin sind die Gründungsfiguren der türkeistämmigen LGBTI+-Bewegung in Berlin genauso Teil unserer Plattform wie Lubunyas, die erst vor einigen Monaten zugezogen sind. Wir hoffen, dass wir voneinander lernend ein Fundament schaffen können, von dem aus wir uns sowohl an lokalen als auch an transnationalen Debatten beteiligen können.
Nazlı Cabadağ hat ihr Masterstudium in den Kulturwissenschaften an der Sabancı Universität in Istanbul mit der Abschlussarbeit «Aushandlungsprozesse queerer Sichtbarkeit: Erfahrungen von LGBTI+-Anwohner*innen in Kurtuluş, Istanbul» beendet. Derzeit arbeitet sie an der Humboldt-Universität zu Berlin an ihrer Doktorarbeit, in der sie sich im Spannungsfeld von Sexualität, Migration und digitalen Medien mit Geschlechterpolitik und Erscheinungsformen des Queeren befasst. Sie war Teil verschiedener LGBTI+-Initiativen in der Türkei und nimmt in Berlin an Diskussionen über die Selbstorganisierung queerer türkeistämmiger Migrant*innen teil.
Evren Çakmak wurde von der Fakultät für Sprache, Geschichte und Geografie der Ankara Universität wegen seiner antifaschistischen Tätigkeiten entlassen. Als Sekretär des Vereins KaosGL leitete er in 36 Städten regelmäßig Aktivitäten gegen Heterosexismus. Er wurde zweimal in den Vorstand der türkischen Sektion von Amnesty International gewählt. Seit einem Jahr lebt er in Berlin, wo er einen Asylantrag gestellt hat.