Bei unserem letzten Telefonat Anfang Dezember bat sie mich, den Abend des 9. Februar freizuhalten, sie wolle zu ihrem 85. Geburtstag keine Feierlichkeiten, sondern nur in kleinem Kreise zu Abend essen gehen. Im Übrigen möge ich für sie keine Medientermine mehr vereinbaren; sie gebe ab sofort keine Interviews mehr, weder über Rosa Luxemburg noch über sonst etwas.
Wenige Tage später versuchte ich, sie wieder anzurufen – es gab aus Madrid eine Anfrage, die inhaltlich nur sie beantworten konnte. Gestern kam dann die Nachricht: Sie sei schon am 10. Dezember im Krankenhaus gestorben. Auf diesen Fall waren wir nicht eingestellt, irgendwie galt uns Annelies Laschitza als unsterblich. Noch im November war in der sächsischen Rosa-Luxemburg-Stiftung ihr jüngstes Buch über Karl Liebknecht erschienen.
Nach Günter Radczun (Berlin, 1978), Gilbert Badia (Paris, 2004), Feliks Tych (Warschau, 2015), Jakov Drabkin (Moskau, 2015), Narihito Ito (Tokio, 2017) ist jetzt die letzte Große der Rosa-Luxemburg-Forschung von uns gegangen. Sie alle haben Zugänge zu einem Kosmos freigelegt, in dem wir auf immer neue Sterne stoßen: Leo Jogiches, Paul Levi, Ines Wetzel, die unverfälschte Clara Zetkin, Hugo Simon, Alexander Stein, Valeriu Marcu, Fritz Sternberg. Kein Wunder, dass sie zumeist vergessen sind, blieben sie doch ohne Planeten.
Auch Rosa Luxemburg – das Zentralgestirn – überrascht mit immer neuen Geheimnissen: mit schwarzen Löchern und plötzlich um die Ecke schießenden Strahlen…
Für Annelies Laschitza, für ihre Disziplin und für ihre bedingungslose Seriosität ist eine Episode aus dem vergangenen Sommer charakteristisch. Nachdem unser Kollege Holger Politt daran erinnert hatte, dass Rosa Luxemburgs Großvater väterlicherseits in Berlin beerdigt ist, stellten wir weitere Nachforschungen an: Abraham Luxenburg (das Luxemburg kam erst zwei Generationen später) hatte in der Linienstraße gewohnt und war 1872 auf dem Friedhof in der Schönhauser Allee beigesetzt worden. Bei meinem nächsten Besuch – es war ein Vormittag – erzählte ich von dieser Geschichte, Annelies hatte zwar darüber geschrieben («Im Lebensrausch, trotz alledem», zuletzt Berlin 2000), aber es in diesem Moment nicht präsent. Die Rosa-Luxemburg-Biografin schaute mich ungläubig an. Schon am nächsten Tag erhielt ich aber von ihr Post: «Du hast mich heute bei der Hitze und in Deiner Eile aus dem Tritt gebracht und mit Deinen Fragen überrascht. Ich habe allerhand durchgewühlt und gefunden, dass ich etwas zu ›Abraham‹ beitragen kann.» Und dann folgte die Abschrift einer Aktennotiz: Am 24. Mai 1989 habe ein Lokalhistoriker Annelies Laschitza zu dem damals schon umgestürzten Grabstein geführt. Die Inschrift lautete: «Hier ruht die Asche eines rechtschaffenden und edlen Mannes …» Jetzt war ich es, der ungläubig schaute.
Von allen anderen Verlusten, die der Tod von Annelies Laschitza bedeutet, abgesehen: Die Anfrage aus Madrid werden wir nie beantworten können.
Salut Annelies!
Jörn Schütrumpf, 16. Dezember 2018
Bibliografie:
Leitende Herausgeberin [zusammen mit Günter Radczun] von:
Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, Bd. 1 bis 7 (in neun Büchern).
Rosa Luxemburg: Gesammelte Briefe, Bd. 1 bis 6.
Zuletzt: Sich treu bleiben und heiter sein … Erfahrungen und Entdeckungen durch Rosa Luxemburg in mehr als 50 Jahren, 2., erw. Aufl. Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen e. V. Leipzig 2018; Karl Liebknecht. Advokat und Parlamentarier mit Charisma, ebenda (Rosa-Luxemburg-Forschungsberichte, Heft 14 und 15).