Nachricht | Europa - Ukraine Die Auswirkungen der Dekommunisierungsgesetze in der Ukraine auf die Demokratie und die Reaktion der Bundesregierung

Ein Beitrag von Dr. Achim Kessler (Frankfurt am Main)

Da es nicht mehr überall erlaubt ist, möchte ich mir gern den Luxus erlauben, mit einem Zitat von Lenin zu beginnen.

„Demokratie bedeutet Gleichheit. Es ist begreiflich, welch große Bedeutung der Kampf des Proletariats um die Gleichheit und die Losung der Gleichheit haben, wenn man sie richtig, im Sinne der Aufhebung der Klassen auffasst.“ (Wladimir Iljitsch Lenin: Staat und Revolution. Berlin 1970, Seite 104 f.)

Für dieses Zitat von Lenin könnte ich in der Ukraine für fünf Jahre ins Gefängnis kommen, wenn ich hinzufüge, dass ich seinen Inhalt befürworte, was ich hiermit tue. Würde ich dies im Rundfunk oder Fernsehen tun, läge die Höchststrafe bei zehn Jahren. In beiden Fällen könnte mein Vermögen eingezogen werden.

Man muss den Inhalt des Zitats von Lenin nicht teilen. Tatsächlich geht seine Bestimmung des Begriffs „Demokratie“ ja auch noch sehr viel weiter. Aber vom Standpunkt eines politischen und auch wissenschaftlichen Pluralismus ist es unabdingbar, dass solche Zitate ausgesprochen und auch vertreten werden dürfen. Dafür sollten wir gemeinsam eintreten.

1)      Beschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit

Das Gesetz „Über die Verurteilung der kommunistischen und nationalsozialistischen totalitären Regimes in der Ukraine und das Verbot der Propaganda ihrer Symbole“ verbietet neben kommunistischen Symbolen und ihrer Propaganda auch die positive Darstellung von Personen, die in der Sowjetunion, ihren Teilrepubliken oder einer der Volksdemokratien, wie der Deutschen Demokratischen Republik, wichtige Funktionen innehatten. Medien, die dagegen verstoßen, dürfen nicht mehr erscheinen. Das ist ein massiver Eingriff in die Meinungs- und Pressefreiheit.

Das betont auch die OSZE-Beauftrage für die Freiheit der Medien, Dunja Mijatović, die Präsident Poroschenko in einem Brief vom 18. April 2015 aufforderte, die von der Werchowna Rada am 9. April verabschiedeten Gesetze nicht zu unterschreiben. Sie schreibt, dass die Gesetze sehr leicht dazu führen können, „dass politische, provokative und kritische Äußerungen unterdrückt werden, vor allem in den Medien.“[1]

2)      Einschränkung der Betätigung von Parteien und Organisationen

Darüber hinaus kann das genannte Gesetz auch dazu dienen, die Betätigung von Parteien und Organisationen einzuschränken. Dies ist auch die Einschätzung der Regierung der Bundesrepublik Deutschland. In der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage[2] der Bundestagsabgeordneten Wolfgang Gehrcke und Andrej Hunko (DIE LINKE) schreibt der Staatsminister für Europa, Michael Roth:

„Aus dem Verbot der Bezeichnung ‚Kommunistische Partei‘ und dem Verbot der Leugnung des kriminellen Charakters des sowjetischen Regimes könnten sich nach Einschätzung der Bundesregierung Einschränkungen für die Tätigkeit von Organisationen und Parteien in der Ukraine ergeben.“[3]

Die Einschätzung der Bundesregierung, dass „kein formaler (Hervorhebung: AK) Zusammenhang zwischen dem laufenden gerichtlichen Verbotsverfahren gegen die Kommunistische Partei der Ukraine und den neuen Gesetzen“ bestehe, ist zwar formal korrekt, aber inhaltlich falsch: Tatsächlich wurde die Kommunistische Partei inzwischen ohne Gerichtsverfahren allein auf der Grundlage des genannten Gesetzes verboten.

Justizminister Pawlo Petrenko sagte dazu: „Das Parlament hat eine historische Entscheidung gefällt: Es hat einen Schlussstrich unter die kommunistische Vergangenheit der Ukraine gezogen. Das Gesetz über die Entkommunisierung verbietet auch die Kommunistische Partei. Sie verwendet ja die gleichen Symbole wie das totalitäre Sowjet-Regime, das einst in der Ukraine geherrscht hat. Das Verbotsverfahren, das ich als Justizminister angestoßen habe, ist somit hinfällig“.[4]

Weshalb die Bundesregierung diese Äußerung nicht als Hinweis gewertet hat, „dass durch das Gesetzespaket zusätzliche juristische Argumente für das Verbotsverfahren geschaffen werden sollten“[5], ist ein Rätsel.

3)      Gleichsetzung von Kommunismus und deutschem Nationalsozialismus

Schon im Titel des genannten Gesetzes werden Kommunismus und Nazismus gleichgesetzt. Menschliches Leid ist nicht quantifizierbar und es ist unbestreitbar, dass auch in der Sowjetunion schreckliche Verbrechen begangen wurden.

Aber die Gleichsetzung von Kommunismus und Nazismus ist eine ungeheuerliche Verharmlosung des schlimmsten Verbrechens, das in der bisherigen Menschheitsgeschichte begangen worden ist: Die industriell geplante und organisiere Vernichtung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden durch die Nazis.

Im Gesetzestext selbst spielt das Verbot der Nazi-Symbole mehr eine symbolische Rolle: Während der Definition der verbotenen kommunistischen Symbole, Propaganda und Darstellung von Personen zwei Seiten gewidmet sind, erfolgt die Aufzählung der verbotenen Nazisymbole in gerade einmal 12 Zeilen.

4)      Heldenverehrung für Nazi-Kollaborateuren

Würde ich in der Ukraine statt Lenin den italienischen Faschisten Mussolini, den spanischen Diktator Franco oder den ukrainischen Nazi-Kollaborateur Stepan Bandera zustimmend zitieren, würde ich nach dem genannten Gesetz nicht bestraft. Denn dort ist ausschließlich die Verwendung von Symbolen der deutschen Nazis strafbar.

Schlimmer noch: In dem Gesetz „Über den rechtlichen Status und das ehrende Gedenken an die Kämpfer für die Unabhängigkeit der Ukraine im 20. Jahrhundert“, das die Oberste Rada ebenfalls am 9. April 2015 verabschiedet hat, wird es unter Strafe gestellt, eine „geringschätzende Haltung“ gegenüber Mitgliedern der „Organisation der ukrainischen Nationalisten“ (OUN) und deren militärischem Flügel, der „Ukrainischen Aufständischen Armee“ (UPA), öffentlich zu äußern:

„Ukrainische Staatsbürger, Ausländer und Staatenlose, die öffentlich eine geringschätzige Haltung gegenüber den in Artikel 1 dieses Gesetzes bezeichneten Personen zum Ausdruck bringen oder die Realisierung der Rechte der Kämpfer für die Unabhängigkeit der Ukraine im 20. Jahrhundert behindern, werden dafür entsprechend geltendem Recht zur Verantwortung gezogen.“

Die Mitglieder beider Organisationen werden als „Kämpfer für die Unabhängigkeit der Ukraine“ anerkannt. Ihnen und ihren Familienangehörigen werden soziale Garantien in Aussicht gestellt.

Auch die deutsche Bundesregierung missbilligt die Heldenverehrung für Organisationen deutlich, die zeitweise mit den Nazis kollaborierte und für die Ermordung von Zehntausenden Polinnen und Polen sowie Jüdinnen und Juden verantwortlich sind:

„Aus Sicht der Bundesregierung wird die Anerkennung der Mitglieder der Ukrainischen Aufständischen Armee als Kämpfer für die Unabhängigkeit für die Ukraine den komplexen historischen Ereignissen nicht gerecht, da diese Entscheidung insbesondere die Rolle der UPA bei den Wolhynischen Massakern 1943/44 und die Frage der Kollaboration von UPA-Mitgliedern mit Nazi-Deutschland nicht angemessen wiederspiegelt.“[6]

Gemessen an diplomatischen Ausdruckformen, ist diese Missbilligung ungewöhnlich deutlich.

Durch die Heldenverehrung für Kollaborateure mit den deutschen Nazis steigt die Gefahr, das nationalistische und faschistische Einstellungen in der Ukraine noch weiter zunehmen.

5)      Verschärfung der Gegensätze in der Ukraine

Ungewöhnlich deutlich ist auch die Stellungnahme der deutschen Bundesregierung hinsichtlich der Wirkung des Gesetzespaketes auf die Situation zwischen den Konfliktparteien in der Ukraine:

„Nach Kenntnis der Bundesregierung vertreten verschiedene Teile der ukrainischen Gesellschaft entgegengesetzte Interpretationen der in dem Gesetzespaket angesprochenen zentralen Ereignisse der ukrainischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Das Gesetzespaket leistet nach Einschätzung der Bundesregierung keinen Beitrag zur Überwindung dieser Gegensätze“[7].

Üblicherweise antwortet die Bundesregierung auf die Frage, was sie getan hat, um der Verabschiedung eines Gesetzes in einem anderen Land entgegenzuwirken, dass sie sich nicht in parlamentarische Entscheidungen eines souveränen Staates eingreifen kann.

Das tut sie in diesem Fall zwar auch, bringt jedoch ihre Missbilligung mehr als deutlich zum Ausdruck:

„Die Bundesregierung hat erst kurz vor der Verabschiedung des Gesetzespakets von diesem Kenntnis erhalten. Dementsprechend konnte sie ihre kritische Sicht erst im Nachgang gegenüber der ukrainischen Regierung zum Ausdruck bringen. Die Bundesregierung kann zudem nicht in die Gesetzesentscheidung des Parlaments eines souveränen ausländischen Staates eingreifen.“[8]

6)      Staatliche Reglementierung historischer Interpretationen

Bedenklich stimmen auch die langfristig zu erwartenden Wirkungen der Gesetze:

In demokratischen Gesellschaften werden historische Ereignisse und Entwicklungen von Wissenschaftlern diskutiert und bewertet und nicht von Staatsbürokraten. Das Agieren des „Ukrainischen Instituts für Nationales Gedenken“ erinnert bisweilen an jene Behörde in George Orwells Roman 1984, die für die Umdeutung und Fälschung historischer Dokumente im Interesse der Regierung zuständig war.

Dass der „Tag des Verteidigers des Vaterlandes“ vom 28. Februar auf den 14. Oktober verlegt wurde, ist sicher kein Zufall. An diesem Jahrestag wird nicht nur das christlich-orthodoxe Schutzfest der Jungfrau Maria begangen (Pokrowa Preswjatoji Bohorodyzi), sondern er ist „als ‚Tag der Ukrainischen Aufständischen Armee‘ (Ukrajinska Powstanska Armija, UPA) zumindest genauso bekannt“[9].

Die Konflikte innerhalb der Ukrainischen Gesellschaft werden so verschärft und zementiert, eine demokratische Entwicklung unter Einbeziehung divergierender Interessen erschwert. Für die „ohnehin instabile ukrainische Staatlichkeit“ ist das, wie Dmytro Myeshkov schreibt, mit dem Risiko verbunden, „dass in der Geschichtspolitik die staatstragende und jetzt auch verstärkt militärische Programmatik stets in den Vordergrund gestellt wird“[10].

(Vortrag auf einer Veranstaltung am 18. November 2015 im Moskauer "Haus der Journalisten")


[1] Zitiert nach: Andrei Richter: Ukraine. Verbot kommunistischer und nationalsozialistischer Propaganda. IRIS. Rechtliche Rundschau der Europäischen Audiovisuellen Informationsstelle. 2015-8:1/33.

[2] Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag: Reaktionen der Bundesregierung auf das Verbot kommunistischer Symbole in der Ukraine. Drucksache 18/5086 vom 3.6.2015.

[3] Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag: Reaktionen der Bundesregierung auf das Verbot kommunistischer Symbole in der Ukraine (Drucksache 18/5086 vom 3.6.2015): Drucksache 18/5337 vom 25.6.2015.

[4] Zitiert nach: Florian Kellermann: Ukraine – Das Aus für Hammer und Sichel. In: http://deutschlandradiokultur.de/ukraine-das-aus-fuer-hammer-und-sichel.2165.de.html?dram:article_id=323324, abgerufen am 13.11.2015.

[5] Drucksache 18/5337 vom 25.6.2015.

[6] Drucksache 18/5337 vom 25.6.2015.

[7] Drucksache 18/5337 vom 25.6.2015.

[8] Drucksache 18/5337 vom 25.6.2015.

[9] Dmytro Myeshkow: Die Geschichtspolitik in der Ukraine seit dem Machtwechsel im Frühjahr 2014. In: Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen, Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde e. V. (Hrsg.): Ukraine-Analysen. Nr. 149, 15.04.2015, Seite 17 bis 22, hier Seite 18.

[10] Ebenda, Seite 20.