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Rosa Burç und Kerem Schamberger zu den bevorstehenden Kommunalwahlen in der Türkei

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Leyla Güven
Die kurdische Politikerin und HDP-Abgeordnete Leyla Güven sitzt seit Januar 2018 im Gefängnis. Seit November 2018 befindet sich die 54-jährige nun im Hungerstreik. Allerdings nicht, um auf ihre eigene Situation aufmerksam zu machen, sondern um die Totalisolation von Abdullah Öcalan zu beenden und endlich die Aufnahme von neuen Gesprächen zwischen ihm und dem türkischen Staat zu ermöglichen. Quelle: ANF News

Wenn sich die Nachrichten über Verhaftungswellen in der Türkei häufen, dann stehen meist die nächsten Wahlen vor der Tür. Am 31. März 2019 ist es wieder soweit und die Bürger*innen der Türkei werden ein weiteres Mal an die Wahlurnen gerufen. Dieses Mal sollen sie ihre Vertreter*innen auf kommunaler Ebene wählen. Doch wie kann überhaupt von fairen und freien Wahlen die Rede sein, wenn nicht nur ein entscheidender Teil der Opposition hinter Gittern sitzt, sondern auch jeden Tag, oppositionelle Wähler*innen festgenommen werden? Allein in den vergangenen Tagen fanden in den kurdischen Städten Batman, Van und Diyarbakır zahlreiche Razzien in den lokalen Parteibüros der Demokratischen Partei der Völker (HDP) statt. Die HDP ist eine der größten Oppositionsparteien des Landes. Schwer bewaffnete Sonderkommando-Einheiten nahmen dutzende Frauen im Hungerstreik fest, die sich mit Leyla Güven solidarisierten. Die bekannte kurdische Politikerin und HDP-Abgeordnete sitzt seit Januar 2018 im Gefängnis. Dem Gesetz zufolge hätte sie nach ihrer Wahl im Juni sofort aus der Haft entlassen werden müssen. Doch dies geschah nicht. Seit mehr als 60 Tagen befindet sich die 54-jährige nun im Hungerstreik. Allerdings nicht, um auf ihre eigene Situation aufmerksam zu machen, sondern um die Totalisolation von Abdullah Öcalan zu beenden und endlich die Aufnahme von neuen Gesprächen zwischen ihm und dem türkischen Staat zu ermöglichen. Diese wäre nicht nur der erste Schritt zur Wiederaufnahme der Friedensgespräche, sie würden die Gesellschaft in der Türkei weiter voranbringen als erneute Wahlen, die unter aktuellen Bedingungen für das Regime vor allem ein Mobilisierungsmoment der eigenen Basis darstellen, wie der Politikwissenschaftler Axel Gehring betont.

Die derzeitige Repression trifft nicht nur die Frauen. Seit Wochen werden reihenweise mögliche Gegenkandidat*innen inhaftiert. Hunderte Mitglieder der HDP wurden allein seit September 2018 fest genommen. Seit 2016 sind es insgesamt mehr als 15.000 HDP- und DBP-Aktivist*innen gewesen. Die DBP ist wichtig für die Kommunalwahlen im März 2019. Sie ist die kurdische Komponente innerhalb der Bündnispartei HDP und vor allem im Südosten des Landes stark, unter anderem auch, weil sie sich für die Demokratisierung auf kommunaler Ebene einsetzt. In einem stark zentralisierten Staat wie der Türkei stellt diese Form der Politik ein Novum dar. Sie ist jedoch integraler Bestandteil des Politikverständnisses der HDP: Selbstbestimmung durch Dezentralisierung. Erdoğan lässt allerdings keine Zweifel aufkommen, dass auch dieses Mal ein demokratischer Ausgang der Wahl keine Option ist. So sagte er bereits Anfang Oktober: «Wer bei diesen Wahlen gewählt wird und sich mit dem Terror eingelassen hat, den werden wir wieder durch Statthalter ersetzen. (...) Die von der spalterischen Terrororganisation abhängige HDP können wir sowieso nicht als legitimen Akteur betrachten, so lange sie ihre Verbindungen zu dieser Organisation nicht abbricht.» (Quelle: sendika63.org). Die Ankündigung ist klar: die seit 2016 anhaltende Politik der Absetzung gewählter kurdischer Kommunalpolitiker*innen und ihre Ersetzung durch Beamte von Ankaras Gnaden wird fortgeführt. Mehr als 90 von 103 im März 2014 gewählten Bürgermeister*innen wurden abgesetzt und größtenteils inhaftiert. Auf den Kandidatenlisten der AKP für die kommenden Kommunalwahlen stehen viele der in den vergangenen zwei Jahren eingesetzten Zwangsverwalter. Einer von ihnen ist Cumali Atilla in Diyarbakır, der seit November 2016 auf dem Sitz des Bürgermeisters Platz genommen hat. Seine gewählte Vorgängerin, Gülten Kisanak, sitzt seitdem im Gefängnis. Um zu verhindern, dass die meisten ihrer Kandidat*innen im Vorfeld der März-Wahlen inhaftiert werden, hat die HDP bisher noch nicht bekannt gegeben, wer für sie an den Start gehen wird. Eine Nennung auf den vordersten Listenplätzen dürfte, nach der Ankündigung Erdoğans, einem sicheren Platz im Gefängnis gleichkommen.

Insgesamt spielen die Ebenen der Kommune, also die Städte und Landkreise, im politischen System der Türkei nur eine vergleichsweise untergeordnete Rolle und verfügen nicht über große Entscheidungskompetenzen. So werden zum Beispiel die Sicherheitskräfte nach wie vor von den Gouverneuren kontrolliert und befehligt, die aus Ankara als Beamte eingesetzt werden und damit ein starkes Gegengewicht zu den gewählten Bürgermeistern bilden. Auch das Militär unterliegt keinerlei örtlicher Kontrolle, wie sich zuletzt bei der Belagerung kurdischer Städte im Jahr 2015/2016 zeigte. Damals wurden selbst Anweisungen aus Ankara nicht befolgt. «Der Staat bin ich» – diese Aussage hören nicht zuletzt gewählte HDP-Vertreter*innen von türkischen Sicherheitskräften immer wieder. Dennoch sind die März-Wahlen für die HDP und alle anderen, die in Opposition zur AKP stehen, von großer Bedeutung: Sie können als Moment der Mobilisierung und der Wiederherstellung der «Würde» dienen, wie es der 93-jährige kurdische Politiker Tarik Ziya Ekinci kürzlich ausdrückte. Die Wiedergewinnung der seit 2016 zwangsverwalteten kurdischen Städte und Gemeinden wäre ein Ausdruck davon, sich nicht unterkriegen zu lassen – auch wenn die kurdischen Bürgermeister*innen in den kommenden Monaten wieder abgesetzt werden sollten. Dass es sich in der Türkei um eine Demokratie handelt, daran glaubt sowieso niemand mehr.

Rosa Burç promoviert am Center for Social Movement Studies an der Scuola Normale Superiore in Florenz/Italien, wo sie zu radikaldemokratischen Gesellschaftskonzepten im Mittleren Osten forscht.
Email: rosa.burc@sns.it Twitter: @rosaburc 

Kerem Schamberger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung in München und linker Journalist.
Email: kerem.schamberger@ifkw.lmu.de, Twitter: @KeremSchamberg