Immer häufiger sehen sich Indigene in Indien und anderswo auf der Welt dazu gezwungen ihre traditionellen Werte und Kulturen aufzugeben. Wertvolles Wissen, über Jahrhunderte angesammelt, geht somit rasend schnell verloren. Mit Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Neu-Delhi engagiert sich die indische Organisation Living Farms für die Stärkung und den Erhalt der indigenen Gemeinschaften.
Einen Steinwurf vom Dorf Gorlagudi entfernt sitzen 50 junge Leute im Schatten eines Baums auf bunten Tüchern. Es sind Angehörige der indigenen Volksgruppe der Khond, die im ostindischen Bundesstaat Odisha zu Hause ist. Sie sind über die saftig-grünen Felder und Hänge aus den umliegenden Gemeinden zusammengekommen, um sich auszutauschen. «Düngemittel und Pestizide, die wir für den Ackerbau einsetzen, schädigen unsere Gesundheit», berichtet ein junger Mann namens Gutamkillaga. «Davon sind vor allem schwangere Frauen und Neugeborene betroffen», fügt eine Frau mit zwei großen goldenen Nasensteckern hinzu, die sich als Battikillaga vorstellt. Seit die Frauen auf den Baumwoll- und Eukalyptusfeldern mit Chemie hantieren, leiden sie unter Atemproblemen, ihr monatlicher Zyklus gerät aus dem Gleichgewicht und es kommt vermehrt zu Frühgeburten. «Wir haben uns entschieden, dass wir in Zukunft keinerlei Chemie mehr verwenden», erklärt Battikillaga.
Mit seinen pastellfarbenen Häuschen ist Gorlagudi eins von zahlreichen kleinen Dörfern, das im Fokus der Organisation Living Farms steht. Living Farms möchte der indigenen Bevölkerung der Gegend ein Leben ohne Hunger und Mangelernährung gewähren, da rund 90 Prozent von ihnen unter der nationalen Armutsgrenze leben. Dabei setzt die Organisation auf eine umweltfreundliche und nachhaltige Landwirtschaft, die sowohl die traditionellen Anbaumethoden als auch den kollektiven Charakter der Dorfgemeinschaften respektiert – und vor allem auch wiederbelebt. «Die regelmäßigen Treffen haben wir etabliert, damit sich die Menschen zusammensetzen und über ihre Traditionen und Belange austauschen. Das macht es ihnen leichter sie schließlich auch gegenüber Dritten, etwa den Forstbehörden, geltend zu machen», erklärt Debjeet Sarangi. Der ungewöhnlich große Mann arbeitet seit fast drei Jahrzehnten in Odisha und gründete Living Farms im Jahr 2005.
Der Bundesstaat Odisha steht exemplarisch für ein Phänomen, das in ganz Indien zu beobachten ist: Acht Prozent der indischen Bevölkerung – 104 Millionen Menschen – leben in einer von 570 über den Subkontinent verstreuten indigenen Gemeinschaften, für die sich der Oberbegriff Adivasi (sinngemäß: erste Bewohner) etabliert hat. Landesweit sind die Adivasi dem Druck der moderner werdenden Mehrheitsgesellschaft ausgesetzt. Zugunsten einer als überlegen propagierten hinduistischen Kultur werden sie oftmals gezwungen, ihre traditionelle Lebensweise aufzugeben.
Die Khond beispielsweise sind bisher ohne Geld ausgekommen, haben ihre Mahlzeiten durch gemeinschaftlichen Feldbau und durch das Sammeln von Waldfrüchten bestritten. Doch die indische Regierung fördert vor allem Cash Crops, also kommerzielle landwirtschaftliche Produkte, die ausschließlich für den Markt erzeugt werden, aber für die Selbstversorgung der Bauern ungeeignet sind. Die staatlichen Einrichtungen verlangen von den indigenen Gemeinschaften, dass sie ihren Feldbau an die Erfordernisse des Marktes anpassen. Purnakulaka, ein schmächtiger Mann, berichtet, dass die örtliche Forstverwaltung dabei auch vor drastischen Maßnahmen nicht zurückschreckte: Einst habe er auf seinem Feld Hülsenfrüchte und Hirse angebaut. Doch dann sei die Forstverwaltung gekommen und habe sein Feld einfach gerodet, um Platz für Cash Crops zu schaffen «Daraufhin haben wir bei den örtlichen Behörden unsere rechtlichen Ansprüche eingefordert. Dafür ist unser ganzes Dorf gemeinsam mit dem Bus zur Verwaltung gefahren, um Druck zu machen.»
Bislang allerdings vergeblich. Immer wieder geht ein zustimmendes Murmeln durch die Gruppe. Die meisten der Anwesenden sprechen die indigene Sprache Kui, nur einige von ihnen sprechen Hindi. Damonakandmaka, ein junger Mann in einem karierten Hemd, beginnt eine längere Rede. «Anders als viele von uns bin ich nicht gegen Bildung. Wir müssen studieren und ihre Sprache lernen. Nur so können wir unseren Ausbeutern eine Antwort in ihrer Sprache geben.» Er blickt immer wieder auf sein Smartphone, weil er sich Stichpunkte notiert hat: «In der Schule lernen wir nichts über unsere Geschichte, wir hören nur über die Kultur anderer. Wir brauchen Dorfzentren, in denen wir unsere traditionellen Fähigkeiten wieder erlernen und trainieren können.» Die Trainingsprogramme der Regierung, fährt er fort, seien in Delhi erdacht und hier nutzlos. Alle hören ihm gebannt zu, der Redner erhält raunenden Zuspruch.
Eine halbe Autostunde vom Dorf entfernt – an sanften grünen Hügeln und Palmen vorbei – liegt Muniguda. Die Stadt, in der knapp 70.000 Menschen leben, wurde vor allem durch das Bergbau-Unternehmen Vedanta Aluminium Ltd. bekannt. Vedanta baute in der Gegend Bauxit für die Herstellung von Aluminium ab. Als sich das Unternehmen der kostbaren Rohstoffe in den Niyamgiri-Bergen bemächtigen wollte, stieß es auf den unerbittlichen Widerstand der Dongria Khond. Die indigenen Bergbewohner fochten einen Kampf, der dem «David gegen Goliaths» ähnelte – und gewannen.
Debjeet Sarangi lächelt als er sich an jenen Sieg im Jahr 2013 erinnert. Er sitzt mit vier seiner Kollegen auf einer Kokosmatte und trinkt Tee. Im Jahr 2002 kam er das erste Mal nach Muniguda und war von der indigenen Lebensweise fasziniert. Bis heute betrachtet er das Wissen der Ureinwohner über die Landwirtschaft und ihre Kenntnisse des Waldes als einen kostbaren Schatz, den es zu bewahren gilt. Er und sein kleines Team begannen damit den Adivasi zuzuhören und ihren Alltag zu beobachten. Sie entdeckten eine Landwirtschaft, die auf Mischkulturen beruht und keinen Maschineneinsatz kennt. Außerdem fanden sie heraus, dass die Adivasi rund ein Drittel ihrer Nahrung im Wald sammelten: Pilze, Wurzeln, Knollen, essbare Insekten und vieles mehr.
Durch den engen Kontakt zu den Khond lernte Living Farms allerdings auch die Herausforderungen der Dorfgemeinschaften kennen. Pratip, ein stiller und freundlicher Mann, erinnert sich: «2009 machte uns eine Studie darauf aufmerksam, dass sich die Pflanzenvielfalt durch die propagierten Cash Crops drastisch verringert hatte. Also starteten wir eine Aktion zum Austausch von Samen zwischen den Dörfern. Damit konnten wir die Vielfalt von sechs verschiedenen Pflanzen wieder auf rund 33 anheben.» Die meisten der von Living Farms entwickelten Programme, fügt Debjeet Sarangi hinzu, seien aus Krisensituationen entstanden.
Da schaltet sich der Jüngste unter ihnen ein: «Deshalb haben wir begonnen mit Jugendlichen zu arbeiten», sagt Harsh. «Wir haben erkannt, dass das Wissen mit den Alten verloren geht und wir die jungen Dorfbewohner miteinbeziehen müssen.» Harsh schildert eine schwierige Situation. Die jungen Adivasi lernten in den öffentlichen Schulen, dass ihre Kultur rückständig und mit Scham behaftet sei. Sie lernten Orya, Hindi, oder Englisch und verlernten ihre eigene Sprache. Sie passten sich an die Kultur der Mehrheitsgesellschaft an und vergäßen darüber ihre traditionellen Fähigkeiten. Am Ende entfernten sie sich immer weiter von ihrer Herkunft und wüssten nicht mehr, wohin sie gehörten.
«Am schlimmsten ist es, wenn die Jugendlichen auf Internate gehen», erklärt Jaganath. Er ist selbst Khond und weiß, wovon er spricht: «Kommen die Kinder aus den Internaten in unsere Dörfer zurück, verlangen sie von ihren Eltern, dass diese Orya sprechen und weigern sich die traditionelle Nahrung zu essen. In ihren Augen ist sie minderwertig geworden. Sie haben verinnerlicht, dass sie selbst primitiv sind und entwickelt werden müssen.»
Um die traditionellen Werte der Indigenen zu stärken hat Living Farms eine Plattform für ihre Jugend kreiert. Damit schafft die Organisation Raum für Gespräche: Wie sehen Jugendlichen und Alte den Wald? Warum fördert der Staat eine bestimmte Form der Landwirtschaft? Warum verordnet die Regierung eine bestimmte Vorstellung von Entwicklung? «Wir wollen kritische Gedanken und Fragen anregen. Wir wollen, dass sie über den Wert der indigenen Lebensweise nachdenken», erklärt Harsh. «Wir haben einfach zu häufig beobachtet, dass sie durch ihre Entwurzelung auf die schiefe Bahn geraten, was oftmals zu Alkoholmissbrauch führt.»
An Cashewnuss-Pflanzungen vorbei, weit in den Bergen liegt das Dorf Bondi Chua. Über eine Lichtung schallen Stimmen. Mehrere Männer heben gerade einen riesigen Kessel mit gekochtem Reis an und schütten seinen Inhalt auf eine Lage von Palmblättern. Einige Meter weiter sitzt eine Gruppe von Männern und schneidet Gemüse. Wieder ist ein Treffen anberaumt, diesmal für die Männer und Frauen der umliegenden Dörfer. Auf den ausgebreiteten Tüchern und Matten herrscht Geschlechtertrennung, die Männer sitzen links, die Frauen rechts. Ein Mann mit ergrautem Bart beginnt den Dialog: «Im Training von Living Farms werden wir an das Wissen unserer Vorfahren erinnert. Wie behandelt man den Boden, wie die Natur. Unser Land ist unsere Mutter. Wir müssen uns an unsere traditionellen Methoden erinnern und sie praktizieren.» Eine der Frauen berichtet, dass sie in ihrem Dorf nur noch indigene Samen pflanzen und keine Hybrid-Samen mehr verwenden. Die Gruppe diskutiert wieder über chemische Pestizide und über den Druck der Forstbehörde die einträglichen Teakholz-Pflanzungen in den Dörfern einzuführen.
Aus den Gesprächen wird klar, dass die Dorfbewohner gelernt haben Widerstand zu leisten. Die Forstbeamten beißen bei ihren Bestechungsversuchen inzwischen oft auf Granit, auch ihre Drohgebärden laufen immer häufiger ins Leere. Die Adivasi informieren sich über ihre Netzwerke, stärken sich gegenseitig in ihrer Selbstbehauptung und in ihrer Identität.
Das Treffen neigt sich dem Ende zu und eine der Frauen stimmt eine Liedzeile an. Die anderen fallen ein. Diejenige, die vorsingt, dichtet ihre Zeilen spontan. Mit den monotonen, aber rhythmischen Melodien besingen die Khond die Schönheit der Natur und eine Solidarität, die aus geteiltem Leid entsteht.
Antje Stiebitz berichtet als Hörfunk- und Printjournalistin über die Region Südasien.