Vor sechs Wochen flammten überall im Sudan Proteste auf, die dem Unmut der Bevölkerung mit der seit 30 Jahren andauernden Herrschaft von Präsident Al-Baschir und seiner Nationalen Kongresspartei (National Congress Party) Luft machten. Der Präsident und die Nationale Kongresspartei regieren unter dem Banner des politischen Islam. Seit Ausbruch der Proteste im Dezember 2018 sind landesweit mehr als 50 Demonstrierende getötet worden. Berichten zufolge wurden sie von vermummten Angehörigen der Regierungsmilizen erschossen. Es gibt bereits Hunderte Verletzte, und etwa 2.000 Menschen sind inhaftiert und körperlich misshandelt worden.
Auslöser für die spontan entstandenen Proteste waren Preissteigerungen bei alltäglichen Verbrauchsgütern, steigende Lebenshaltungskosten sowie eine Lebensmittel- und Benzinknappheit. Sehr schnell wandelten sich die Demonstrationen jedoch in Kundgebungen gegen die Regierung, in deren Mittelpunkt eine Parole stand: «Jetzt zurücktreten, es reicht!» Kurzum, die einzige Forderung der Demonstrierenden ist der Rücktritt des Präsidenten und der Sturz des Regimes. Diese Forderung geht nicht allein auf die schwere Wirtschaftskrise zurück, in der sich das Land derzeit befindet, obwohl diese natürlich ein wichtiger Auslöser war. Der Unmut der Bevölkerung resultiert darüber hinaus noch aus vielen weiteren Missständen, die seit der Machtergreifung von Präsident Al-Baschir vorherrschen, der im Juni 1989 mit Unterstützung der National Islamic Front einen Militärputsch durchführte. Hierzu zählen folgende Punkte:
- Vom ersten Tag an verfolgte das Regime offen eine Politik der Tyrannei und der Menschenrechtsverletzungen, um die vollständige Kontrolle über Staat und Gesellschaft zu erlangen, zum Beispiel in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Sicherheit, Medien und Kultur. Ein weiteres Ziel war es, seine islamische Ideologie in einem Land durchzusetzen, das äußerst vielfältig ist und in dem verschiedenste ethnische, religiöse und kulturelle Gruppierungen leben. Diese politische Linie führte nicht nur zu Menschenrechtsverstößen historischen Ausmaßes gegen Angehörige verschiedener Gruppierungen, sondern auch zu dem nach wie vor andauernden Bürgerkrieg in Darfur und den Bundesstaaten Südkordofan und Blauer Nil, in dem bisher mehr als 400.000 Menschen getötet wurden und etwa 3 Millionen Personen entweder als Binnenflüchtlinge gelten oder außer Landes geflohen sind. Präsident Al-Baschir wird zudem vom Internationalen Strafgerichtshof wegen mutmaßlichen Völkermordes in Darfur per Haftbefehl gesucht.
- Die weit verbreitete institutionalisierte Korruption sowie ein vollständiges Versagen der Wirtschaftspolitik haben das Land an den Rand des Kollaps geführt.
- Hunderttausende kompetente Arbeiter*innen, Beamt*innen, öffentliche Angestellte, Fachkräfte, Richter*innen, Angehörige der Streit- und Sicherheitskräfte usw. wurden durch regimetreue Personen ersetzt, ohne ausreichend auf die erforderlichen Fähigkeiten und Fachkenntnisse zu achten. Den Betroffenen wurde zudem oftmals das Recht auf Arbeit komplett verweigert.
- Das Regime vertritt eine rückschrittliche Einstellung gegenüber Frauen und Jugendlichen und versucht, ihnen Rechte und Freiheiten abzusprechen. Außerdem versucht es, eine Kultur der Mythen und des Aberglaubens wieder anzufachen und das sudanesische Kunst- und Kulturerbe zu verzerren.
- Angesichts einer sich weiter verschlimmernden Lage blickt der Großteil der Menschen im Sudan, insbesondere die Jugend, ohne jede Hoffnung in die Zukunft.
Die Proteste und Demonstrationen weisen einige spezielle Merkmale auf, wie zum Beispiel:
- Die großflächige Nutzung sozialer Medien und des Internets. Obgleich das Regime den Zugang zu diesen Plattformen in der ersten Woche der Proteste gesperrt hatte, gelang es Aktivist*innen, mithilfe von virtuellen privaten Netzwerken (VPNs) dennoch darauf zuzugreifen.
- Die mehrheitlich jugendliche Zusammensetzung der Demonstrationsteilnehmer*innen, darunter auch zahlreiche junge Frauen.
- Die Vereinigung von Menschen verschiedener Gemeinschaften, ethnischer Gruppen und kultureller Hintergründe im Rahmen der Proteste.
- Als besondere Herausforderung für das Regime hat sich die Beteiligung der Sudanese Professionals Association (SPA) erwiesen – eine neue und breite Bewegung, die verschiedene Mittelschichtsberufe repräsentiert und bei den Protesten eine führende Rolle spielt. Die SPA füllt damit die Lücke, die durch die Handlungsunfähigkeit der Oppositionsparteien entstanden ist.
Die SPA wurde im Januar 2014 mit dem Ziel gegründet, einen existenzsichernden Lohn für Familien sowie bessere Arbeitsbedingungen zu erkämpfen. Anfang 2019 schätzte die SPA, dass eine fünfköpfige Familie zur Deckung der Grundbedürfnisse pro Monat 8.663 Sudanesische Pfund (knapp 160 Euro) benötigt. Der aktuelle Mindestlohn beträgt jedoch lediglich 423 Sudanesische Pfund pro Monat (etwa 7,70 Euro). Als die ersten Proteste gegen die steigenden Lebenshaltungskosten am 19. Dezember ausbrachen, sah die SPA eine Chance, ihrer Forderung nach einem höheren Mindestlohn Nachdruck zu verleihen. Rasch wurde daraus jedoch die Forderung nach einem Regimewechsel. Als die SPA die Menschen dazu aufrief, auf die Straße zu gehen, kamen Tausende dieser Aufforderung nach, obwohl viele von ihnen noch nie von der Organisation gehört hatten. Die Leute waren bereit, ihrem Ärger Luft zu machen, doch sie brauchten jemanden, der die Sache in die Hand nahm. Die SPA war also mit ihrer Botschaft zur richtigen Zeit am richtigen Ort.
Die Oppositionsparteien verhielten sich einige Tage lang ruhig, bis sie sich Anfang Januar zusammentaten und sich den Forderungen nach einem Regimewechsel anschlossen. Sie begannen außerdem, sich mit der SPA abzusprechen. Doch die Menschen vor Ort reagierten auf die SPA und nicht auf die politischen Parteien. Manche Beobachter*innen sind der Ansicht, dass die sudanesische Bevölkerung genug hat von den Eskapaden der alten politischen Elite, dass nach Jahrzehnten, in denen die politischen Parteien keine Lösungen für die Probleme des Landes präsentierten, eine gewisse Politikverdrossenheit eingesetzt hat.
Nach sechs Wochen des Protests ist das öffentliche Leben im Sudan mittlerweile komplett zum Erliegen gekommen. Apotheker*innen und andere Fachkräfte aus dem Gesundheitswesen befinden sich im Streik, Ärzt*innen behandeln nur Notfälle, und Ingenieur*innen haben die Arbeit auf den Baustellen eingestellt. Die täglichen Demonstrationen gehen unterdessen weiter. Die Situation könnte sich aktuell in unterschiedliche Richtungen entwickeln. Möglich wäre etwa, dass sich das Militär einschaltet – und zwar nicht unbedingt zugunsten der Demonstrierenden. Noch ist es für solche Vorhersagen allerdings zu früh. Sicher ist nur eines: Die Leute auf der Straße und die SPA sind entschlossen, die Proteste und Demonstrationen weiterzuführen, und zwar unter der allgegenwärtigen Parole: «Jetzt zurücktreten, es reicht!»
Dr. E. Saeid
Übersetzung und Lektorat: Alexandra Reuer und Sebastian Landsberger für lingua•trans•fair