Das hier anzuzeigende Buch ist nach Franz-Werner Kersting/Clemens Zimmermann (Hg.): Stadt-Land-Beziehungen im 20. Jahrhundert. Geschichts- und kulturwissenschaftliche Perspektiven (Rezension) das zweite Resultat aus dem in Münster und Saarbrücken angesiedelten Forschungsverbund «Stadt-Land Beziehungen im 20. Jahrhundert» in Buchform. Es enthält nach einem Vorwort der Herausgeberin zehn Beiträge, zumeist von DoktorandInnen. Sie untersuchen neue soziale Bewegungen in ländlichen Räumen wie Franken oder dem Allgäu und in (Provinz)Städten jenseits der großen Metropolen, wie z.B. Bielefeld oder Wiesbaden. Eine grundlegende These des Buches ist, es sei durch die neuen sozialen Bewegungen zu einer Umdeutung des Provinz-Begriffes gekommen. Sei dieser, gerade in der politischen Linken, vorher negativ konnotiert gewesen, habe es durch die neuen sozialen Bewegungen eine positive Aufladung gegeben.
Eine gute Begründung dafür liefern die Artikel von Bertold Gießmann und David Templin. Gießmann untersucht die «Provinzbewegung» diskursgeschichtlich, während Templin eine Auskopplung aus seiner umfangreichen Forschung zur Jugendzentrumsbewegung dafür nutzt, um über ein regionales Beispiel aus Tauber-Franken rund um den bekannten «Provinzarbeiter» Albert Herrenknecht zu berichten. In Anlehnung an die entwicklungspolitische Dependenztheorie wurde in der Provinzdiskussion eine «innere Kolonisierung» der Provinz durch die Metropolen postuliert, garniert mit einer grundsätzlichen Zivilisationskritik kulturpessimistischer Prägung. Dem wurde durch die Konstruktion einer lokalen Widerstandgeschichte versucht entgegen zu wirken. Anlass für diese Perspektive bot auch, dass Konflikte um viele Großprojekte sich auf dem flachen Land abspielten.
Der nächste Beitrag, der sich explizit mit ländlichen Räumen beschäftigt, hat die Frauen- und Lesbenbewegung in Trier und der umliegenden Eifel zum Gegenstand. Es ist interessant zu lesen, wie Christine Bald die Schnittmengen zwischen Feminismus und dem dort starken Katholizismus bzw. den auf der katholischen Soziallehre basierenden karitativen Institutionen analysiert. Hier war, wie anderswo die Universität ein unverzichtbares Hinterland für die Aktivitäten der neuen sozialen Bewegungen. Bald arbeitet heraus, dass das katholische Milieu, obwohl es vergleichsweise wenig inhaltliche Berührungen gab, Formen und Angebote der feministischen Bewegung übernahm und adaptierte.
Ländliche Räume untersucht schließlich auch Eva Wonneberger, die im Allgäu geforscht hat. Aus zuerst misstrauisch beäugten Aussteigern und Kulturproduzentinnen wurden dort im Lauf der Jahre RaumpionierInnen und letztendlich innovative GründerInnen einer postfordistischen Ökonomie, etwa im Naturkosthandel oder der Landwirtschaft.
In allen anderen Beiträgen geht es dann um Städte, und meist ihr Umland. Hans-Gerd Schmidt untersucht Westfalen-Lippe und Bielefeld, Matthias Lieb die Umweltbewegung in Wiesbaden/Mainz und den Kampf gegen das nahegelegene Atomkraftwerk Biblis. Dieser blieb erfolglos, da es – im Gegensatz zu anderen Orten und Regionen – hier nicht gelang, eine Brücke zwischen «urbanen» und lokalen AkteurInnen zu schlagen. Eine Gruppe Studierender der empirischen Kulturwissenschaft legte 2015 schon eine Ausstellung und Publikation zu Protest im Tübingen der 1970er und 80er Jahre vor und referiert (nochmals) die Ergebnisse. Hier zeigt sich der abgestufte und vermittelte Ideentransfer deutlich. Waren für die AkteurInnen in Tübingen die Ereignisse, Diskurse und Codes in Berlin und Frankfurt relevant, so waren es für die umliegenden Kleinstädte und Orte jene im nahegelegenen Tübingen. Die Universität ist auch hier das innovative Milieu und die Alternative Liste (deren Namen schon anzeigt, dass man sich von der Partei Die Grünen damals noch fernhält) ist bereits 1984 nach der CDU die zweitstärkste Fraktion im Gemeinderat. Zusammengefasst kommt es, so die AutorInnen, zu einer lokalen Adaption großstädtischer Entwicklungen.
Einen spannenden Vergleich zwischen Münster und Dortmund liefert Cordula Obergassel in ihrer Studie zur Kulturpolitik dieser beiden nordrhein-westfälischen Städte. Münster ist intellektueller, aber konservativer als das sozialdemokratisch-gewerkschaftlich geprägte Dortmund. Der Impetus der alternativkulturellen «Eigeninitiative» findet in Münster stärkeren und früheren Widerhall als im «etatistischeren» Dortmund. Hegemonial ist bis Anfang der 1990er Jahre die Idee von «eine Kultur für alle» statt «Kultur für alle»: Das was sich auch damals schon Soziokultur nennt, wird durch die Kommunalverwaltungen in beiden Städten nur zaghaft gefördert.
Ulf Teichmann widmet sich schließlich Bochum, wo 1965 die erste Reformuniversität Westdeutschlands eröffnet worden war. Bochum war Anfang der 1970er Jahre einer der Orte, die zum Aktionsfeld und zur Projektionsfläche einer «proletarischen Wende» der Studentenbewegung wurden. Teichmann untersucht noch zwei weitere Beispiele. Bei der Kampagne gegen Fahrpreiserhöhungen gelang kein Bündnis mit den Gewerkschaften und diese scheiterte. In der Bewegung gegen die Notstandsgesetze kam es hingegen zu einer Kooperation mit lokalen Betriebsräten, teilweise auch außerhalb der Gewerkschaften.
Die Beiträge zeigen eindrücklich dass «68» auch «in der Fläche» stattfand, dass v.a. die 1970er Jahre an vielen verschiedenen Orten ein Laboratorium, eine Werkstatt, ein Gestaltungsraum waren. Provinz wird in diesem Buch zweideutig verstanden, wird dieser Begriff doch gemeinhin mit ländlichen oder agrarisch geprägten Räumen verbunden, aber es geht hier auch um (Provinz-)Städte. Ob nun Tübingen, Bochum oder Münster Provinz(-städte) sind, möge jede_r Leser_in selbst entscheiden. Viele Beiträge zeigen die spezifische Eigenlogik der Orte, die sich eher aus lokalen Gegebenheiten als entlang des Stadt-Land-Gegensatzes speist, zumal diese Vorstellung eines solchen Gegensatzes in der Forschung mittlerweile von der eines Kontinuums abgelöst ist.
Die Floskel, dass zu dem Thema des Buches noch viel Forschung nötig sei, ist oft trivial und vor allem selbstlegitimierend, aber hier stimmt sie vollauf. Weitere Beiträge, die z.B. biographisch, wissens- oder ideengeschichtlich argumentieren, sind notwendig, dabei könnte, nein sollte der Transfer und die Verbreitung von Ideen und Praktiken zwischen verschiedenen Räumen weiter erforscht werden. Denn nicht zuletzt gab es auch einen Transfer von der Provinz in die Stadt. Zum einen durch die Biographie vieler in die Zentren zugezogener und dann dort Aktiver, zum anderen dadurch, dass viele wichtige Protestereignisse in der Provinz stattfanden und sich in der Agenda der alternativen und linken Gruppen niederschlugen. Ein Ortsregister schließt den Band ab.
Julia Paulus (Hrsg.): ´Bewegte Dörfer`. Neue soziale Bewegungen in der Provinz 1970-1990; F. Schönigh Verlag, Paderborn 2018, Forschungen zur Regionalgeschichte Band 83, 244 Seiten, 49,90 EUR