Anlässlich des Jubiläumsjahres 2018 war ein zumindest vorübergehendes Interesse an der österreichischen Rätebewegung in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg zu verzeichnen. Das ist insofern bemerkenswert, als dieses Thema während der vergangenen Jahrzehnte nur von wenigen HistorikerInnen bearbeitet wurde und dementsprechend auch in medialen Darstellungen der Entwicklungen nach dem Ersten Weltkrieg selten eine Rolle spielte. Der im vergangenen Juli verstorbene Historiker und langjährige Präsident der Alfred Klahr Gesellschaft Hans Hautmann beschäftigte sich als einer der wenigen fast während der gesamten Zeit seines Wirkens mit der österreichischen Rätebewegung und verfasste bis heute maßgebliche Standardwerke zum Thema, die auch in dem zu besprechenden Band zitiert werden.
Im vergangenen Jahr nun gab es zumindest einige wenige Veranstaltungen und Publikationen, die sich der Rätebewegung hierzulande wie auch in anderen Ländern widmeten. Die Auseinandersetzung mit dem revolutionären Bruch des Jahres 1918 bleibt indes weiterhin Minderheitenprogramm. In den meisten, insbesondere journalistischen Darstellungen, wird das Ende von Weltkrieg und Monarchie so dargestellt, als wäre die Republik automatisch nachgefolgt. «Dabei war es keineswegs so, dass die bürgerliche Demokratie vom Himmel gefallen war» , schreiben die HerausgeberInnen im Vorwort des vorliegenden Bandes, «vielmehr wurde sie von den Massen, heute teilweise als archaische, barbarische Horden diskreditiert, gefordert und durchgesetzt.»
Mehr noch: Nachdem sich die Spitze der Sozialdemokratischen Partei (SDAP) in Regierungsverantwortung wiedergefunden hatte und mit den Christlich-Sozialen zu arrangieren begann, drängten breite Teile der Bevölkerung zu einer Fortführung der revolutionären Entwicklung: «Die Folgejahre bis etwa 1922 waren gekennzeichnet durch Demonstrationen und Streiks, Forderungen nach Sozialisierung der Betriebe und dem Ausbau der Rätestrukturen. Die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsordnung wurde als Ganzes in Frage gestellt.»
Der vorliegende Sammelband ist das Ergebnis einer Tagung, die im Oktober 1918 in Wien stattgefunden hat. Das Buch erhebt nicht den Anspruch, eine vollständige Darstellung der österreichischen Rätebewegung zu bieten. Vielmehr wollen die HerausgeberInnen, wie es im Vorwort heißt, «das Licht auf ausgewählte Aspekte der Rätebewegung werfen, die in unseren Augen zum Verständnis ihrer Konzepte, Ziele aber auch ihres Scheiterns beitragen können».
Aus diesem Zugang ergibt sich die bemerkenswerte thematische Breite der Texte wie auch der fachlichen Zugänge – neben den für die Bearbeitung des Themas naheliegenden HistorikerInnen versammelt der Band Beiträge von WissenschaftlerInnen mit philosophischem, soziologischem wie auch politik- oder literaturwissenschaftlichem Hintergrund. Mit «Pannekoeks Katze» von Ursula Knoll, Andreas Pavlic und Eva Schörkhuber findet sich am Ende des Bandes ein dramatischer Text, der am Abend der Veranstaltung im Oktober letzten Jahres als «Papiertheater» vorgeführt wurde. Das Stück spielt im selben Milieu, das Schörkhuber und Mitherausgeber Pavlic auch in einem wissenschaftlichen Text bearbeiten: unter den rotgardistischen Intellektuellen, die noch während des Weltkrieges versuchten, Einfluss auf die kriegsmüden Massen zu auszuüben.
Die beiden Texte bilden den Abschluss des Buches, an dessen Beginn Robert Foltins Einführung «Revolution und Rätebewegung in Österreich1918/1919» steht. Foltin beschreibt die Streiks und Massenbewegungen des letzten Kriegsjahres und die dabei entstehenden Komitees, aus denen sich schließlich in den Wochen des Übergangs von der Monarchie zur Republik die Rätebewegung entwickelte. Er schildert auf wenigen Seiten die Kräfte, die in dieser Bewegung eine Rolle spielten – neben der SDAP waren dies die Kommunistische Partei und die später in dieser aufgegangene Föderation Revolutionäre Sozialisten ´Internationale` (F.R.S.I.), die sich wiederum aus VertreterInnen sehr unterschiedlicher Strömungen zusammensetzte. Im Anschluss an Hautmann versucht Foltin die Rätebewegung in ihrer Widersprüchlichkeit zu skizzieren. Die Räte waren nicht nur eine «Form des Selbstorganisation des Proletariats», sondern konnten auch «als Werkzeug zur Zähmung der revolutionären Bewegung durch die sozialdemokratischen FunktionärInnen funktionieren». Letztlich setzten sich die SozialdemokratInnen gegenüber den RevolutionärInnen durch. Mit Sozialgesetzen konnten bis dahin beispiellose Errungenschaften durchgesetzt werden – aber auch für die VertreterInnen des kapitalistischen Systems Schlimmeres verhindert und KommunistInnen und linke SozialistInnen zurückgedrängt werden. Dies brachte letztlich die fortschrittliche Entwicklung der ersten Jahre der Republik zum Stillstand: «Das Ende der revolutionären Drohungen bedeutete das Ende der sozialdemokratischen Reformen.»
In weiteren Beiträgen beschäftigen sich Péter Csunderlik und Simon Schaupp mit den Rätebewegungen in Ungarn bzw. Bayern. Jens Benicke und Anna Leder diskutieren Theorie und Utopie der Räteidee, Veronika Helfert erinnert daran, dass in der österreichischen Rätebewegung, wie in allen sozialen Bewegungen, Frauen eine maßgebliche Rolle spielten – auch wenn die Geschichtsschreibung diese häufig ignorierte. Peter Haumer blickt über den Wiener Tellerrand in die umliegenden Städte und Gemeinden, in denen die Rätebewegung der Nachkriegsjahre ebenfalls Spuren hinterließ. Mario Memoli widmet sich der Rolle der jüdischen Poale Zion, deren Vertreter sich insbesondere innerhalb der F.R.S.I. aktiv an der Bewegung beteiligten. Helmut Dahmer schließlich beschreibt einen weniger naheliegenden Aspekt, nämlich die Reflexion von Räten und revolutionärer Bewegung durch österreichische Psychoanalytiker.
Simon Loidl
Anna Leder/Mario Memoli/Andreas Pavlic (Hg.): Die Rätebewegung in Österreich. Von sozialer Notwehr zur konkreten Utopie; Mandelbaum Verlag, Wien 2019, 244 Seiten, 17 EUR
Diese Rezension erschien zuerst in den Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft (Wien), Nr. 1/2019 (März). Wir danken herzlich für die Erlaubnis zur Publikation.