Akram al-Ahmad ist syrischer Journalist und war bis Februar 2019 in Idlib tätig. Vor kurzem musste er nach der Machtübernahme der aus al-Qaida hervorgegangenen Hayat Tahrir al-Sham (HTS) die Region verlassen. 2013 war al-Ahmad einer der Gründer des «Syrian Press Center», das lokale Journalist*innen für «alternative Medien» außerhalb der Kontrolle durch das Regime in Syrien ausbildet und u.a. ein Pressebüro in Idlib aufgebaut hat. 2017 war er maßgeblich an der Gründung des Komitees der «Ethical Charter for Syrian Media» beteiligt, dem über 40 syrische Medien-Organisationen angehören. In den Jahren 2011 bis 2018 war al-Ahmad zudem Mitglied der zivilgesellschaftlichen Initiative «Civil Peace Committee» in Hama. Vor der syrischen Revolution hat er in Damaskus Journalismus studiert und als Redakteur der Tageszeitung «Tishreen» gearbeitet.
Das Interview führte Harald Etzbach, Historiker und Politikwissenschaftler. Er arbeitet als Übersetzer und Journalist und publiziert zu Themen des Nahen Ostens und zur US-amerikanischen Außenpolitik.
Harald Etzbach: Sie haben 2013 zusammen mit anderen das «Syrian Press Center» (SPC) gegründet. Was macht das SPC, was wollten Sie mit ihm erreichen?
Akram al-Ahmad: Ich habe Journalismus studiert und war ab 2011 auch journalistisch tätig. Vor der Revolution habe ich kurze Zeit mit den Medien des Regimes gearbeitet, was ich aber sehr schnell wieder beendet habe, weil es keinen freien Journalismus in Syrien gab. 2011, nach der Revolution, habe ich mich dann nicht nur im Journalismus engagiert. Wir haben einfach alles gemacht, ich habe zum Beispiel auch als Sanitäter gearbeitet. Zunächst haben wir das «Hama Media Office» gegründet. Ich war damals in Hama, und mit dem Büro wollten wir eine regionale Struktur schaffen, die die Ereignisse in Hama [2011 eine Hochburg der Proteste gegen das Regime, Anm. d. R.] medial abdeckt. Andererseits ging es auch darum, Journalist*innen auszubilden und journalistische Grundsätze in der Arbeit zu etablieren. 2013 hat sich dieses Medienbüro in das «Syrian Press Center» verwandelt. Zu dem Zeitpunkt war ich gezwungen, aus Hama zu fliehen. Wir haben dann auch Büros in Aleppo und Idlib gegründet, mit dem Ziel, nicht mehr nur regional, sondern aus ganz Syrien zu berichten.
Zu Anfang war es vor allem unser Ziel, ein wahres Bild von den Ereignissen vor Ort medial zu transportieren und Journalist*innen auszubilden. Mit der Entwicklung der radikalen Gruppen und ihrem Versuch, Journalist*innen einzubinden, haben wir begonnen, dem entgegenzuwirken, indem wir versucht haben, die demokratische Idee zu stärken und andere Institutionen wie die lokalen Räte, Frauenzentren oder Organisationen, die mit Kindern arbeiten, zu unterstützen. Der Hauptschwerpunkt blieb aber immer die Ausbildung von Journalist*innen. 2015 haben wir dann zusammen mit anderen syrischen Journalistenvereinigungen, die unsere Grundsätze teilten, das Komitee für den «Code of Conduct» gegründet, da wir alle der Meinung waren, dass man solchen Erscheinungen wie Fake News und Hasspropaganda etwas entgegenstellen müsse.
Gibt es heute außerhalb von Idlib noch Medienbüros, mit denen Sie zusammenarbeiten, oder beschränkt sich diese Arbeit mittlerweile auf den Nordwesten Syriens?
Wir hatten bis vor kurzem noch zwei Büros, eins im Umland von Hama und eins in Idlib. Das Büro in Hama wurde allerdings vom Regime bombardiert und das Equipment gestohlen. Zum Glück konnten die Journalist*innen, die dort gearbeitet hatten, noch rechtzeitig in den Norden fliehen. Zurzeit versuchen sie, in Azaz [im Norden Syriens, Anm. d. Red.] ein neues Büro aufzubauen. Viele unserer Journalist*innen arbeiten aber auch von zu Hause aus. Seit August 2018 haben wir ein Büro in der Türkei. Das war eine ganz bewusste Entscheidung, weil wir wussten, dass wir angesichts der Lage in Syrien ein Büro außerhalb des Landes brauchen, wenn wir weiterhin unabhängig berichten wollen. Wir arbeiten alle als Freiwillige, was uns vor ziemlich große Herausforderungen stellt. Zwar sind wir in dem Sinne unabhängig, dass wir von niemandem Geld nehmen und deshalb über so ziemlich alles berichten können. Auf der anderen Seite aber leidet darunter auch die Qualität unserer Arbeit, da man für bestimmte Dinge einfach Geld braucht.
Sie haben selbst bis Februar dieses Jahres in Idlib gelebt. Seit April führt das syrische Regime eine brutale militärische Kampagne mit täglichen Bombenangriffen, um das Gebiet, das sich noch unter der Kontrolle der Opposition befindet, zurückzuerobern. Können Sie uns eine allgemeine Einschätzung der aktuellen Situation in der Region Idlib geben?
Die Region war ja eigentlich als Deeskalationszone deklariert worden, aber seit April 2019 ist klar, dass die Idee der Deeskalationszone gescheitert ist. Seit Anfang Mai werden von verschiedenen Fronten aus auch Bodentruppen eingesetzt, um Gebiete zurückzuerobern. Einmal ist das die Front im nördlichen Hama, dann gibt es die Front in Latakia und die Front im Umland von Aleppo. Aber im Umland von Latakia zum Beispiel konnte das Regime bisher überhaupt kein Land erobern, weil die geographischen Besonderheiten dort dies überhaupt nicht zulassen. Gleichzeitig sagen mir meine Journalistenkolleg*innen vor Ort, dass die Bombardierungen in Hama und Idlib von einer Intensität sind, wie wir sie noch nie zuvor erlebt haben. Früher war es so, dass wir uns im Untergrund versteckt haben, wenn bombardiert wurde, wir hatten sogar ein Untergrundbüro. Aber inzwischen ist es so, dass nicht nur ein Flugzeug am Himmel auftaucht, sondern es sind dann 15 Flugzeuge, und man weiß nicht, welches davon Bomben abwerfen wird. Das heißt, es ist einfach sehr schwierig, irgendwo Zuflucht zu finden. Eine sehr hohe Konzentration von Bodentruppen gibt es in Hama, und dort gibt es auch die höchste Zahl von Verlusten, sowohl auf der Seite der Regimetruppen als auch bei den revolutionären Gruppen. Derzeit sieht es so aus, als sei es der Plan des Regimes, den Südteil der Provinz Idlib abzutrennen und zu belagern und auf diese Weise den von der Opposition kontrollierten Bereich zu verkleinern. Das wäre dann eine Belagerung von über einer Million Menschen. Die Folge wäre massive Preissteigerungen für Lebensmittel und andere Dinge des täglichen Bedarfs, und es gäbe keine Verbindung mehr zur türkischen Grenze. Dann wird es für das Regime ziemlich leicht sein, das Gebiet unter seine Kontrolle zu bringen, denn ab einem bestimmten Zeitpunkt wird die Situation dort derart unerträglich sein, dass die Menschen dort gezwungen sein werden, sich zu ergeben.
Die sogenannte Deeskalationszone sollte ja ursprünglich von Russland und der Türkei garantiert werden. Wie schätzen Sie, nachdem das Konzept offensichtlich zusammengebrochen ist, die Rolle dieser beiden Mächte ein?
Russland und die Türkei haben sich im Rahmen der Verhandlungen von Astana[1] als Garantiemächte aufgespielt. Aber da diese Verhandlungen ohne die Einbeziehung anderer involvierter Mächte stattfanden, waren die Ergebnisse von vornherein sehr fragil. Und so konnten wir in der letzten Zeit sehen, dass die Türkei Panzerabwehrraketen an verbündete Gruppen in Idlib geliefert hat, während Russland umgekehrt in Tel Rifaat[2] Militärpolizei stationiert hat, was eine klare Provokation der Türkei darstellt. Die Spannungen zwischen Russland und der Türkei zeigen, dass der Astana-Prozess vorbei ist. Gleichzeitig hat die Einrichtung von Deeskalationszonen es dem Regime nur einfacher gemacht, die entsprechenden Gebiete zu kontrollieren. Das ist im letzten Jahr deutlich geworden, als die Menschen zunächst in al-Ghouta, dann in Süddamaskus und Daraa und schließlich im Umland von Homs in eine Abmachung gezwungen und dann nach Idlib vertrieben wurden. Das heißt, es sind eigentlich keine Deeskalationsabkommen, sondern Abkommen zur Erleichterung der Übernahme dieser Gebiete durch das Regime.
Russland spielt derzeit mit der Tatsache, dass es Flüchtlinge und interne Vertriebene gibt. Und es hat eine recht strategische Art und Weise, Hama und Idlib zu bombardieren, denn es bombardiert die südlichen Gebiete und übt damit Druck auf die Menschen aus, aus diesen Gebieten in Richtung türkische Grenze zu fliehen. Es ist klar, dass wenn Druck auf die türkische Grenze entsteht, damit auch Druck auf die EU ausgeübt wird, die gegenüber dem Thema Flüchtlinge ebenfalls sehr sensibel ist. Russlands Ziel in Syrien ist definitiv die Relegitimierung des Regimes und der Wiederaufbau des Landes. Gleichzeitig geht Russland mit Flächenbombardements gegen die Bevölkerung vor, um manche Gebiete regelrecht menschenleer zu bomben. Es wird ein Gebiet bombardiert, die Menschen fliehen, dann wird wieder bombardiert, die Menschen fliehen weiter. Wir haben es vor kurzem gesehen, als Ariha[3] angegriffen wurde, wo 40.000 Menschen leben, und diese Menschen werden nun ebenfalls gezwungen, weiter Richtung Norden zu fliehen.
Welche Perspektive ergibt sich daraus für die Situation in Idlib insgesamt? Wird es zu einer schnellen Rückeroberung kommen? Oder werden wir einen lang anhaltenden Guerillakrieg erleben?
Ich glaube, dass es einen sehr lang anhaltenden und brutalen Kampf um Idlib geben wird. Der Grund dafür liegt in den sozialen Strukturen, die es dort gibt, aber auch in den geographischen Gegebenheiten der Region. Wenn es keine internationale Abmachung für einen festen Status der Region gibt, kann der Kampf um Idlib durchaus noch zehn Jahre dauern. Idlib - sowohl die Stadt wie auch das Gouvernement - ist ein Gebiet, in dem Stammes- und Familienstrukturen mit starken Loyalitäten sehr wichtig sind. Darin liegt der Unterschied zu Gebieten wie Damaskus, Aleppo oder selbst Tartous, wo die Gesellschaft weitaus individualisierter ist. Gleichzeitig gibt es in der Gesellschaft von Idlib historisch eine starke Tradition der Opposition und des Widerstands gegen das Regime. Dies geht zurück bis zu Hafiz al-Assad [Vater und Vorgänger von Baschar al-Assad, Anm. der Red.] und dem von ihm verantworteten Massaker von Hama 1982.
In den Medien wird Idlib vor allem als Hochburg von Hayat Tahrir al-Sham (HTS) dargestellt, einem Zusammenschluss dschihadistischer Milizen, der als Nachfolger der Nusra-Front und damit als al-Qaida nahestehend gilt. Welche Rolle spielt HTS heute tatsächlich in Idlib, und wie konnte es der Organisation gelingen, diese Bedeutung zu erlangen?
Die Bewegung in Syrien als islamistisch darzustellen, war eine der größten Herausforderungen für das Regime, und es war ziemlich erfolgreich darin. Bis 2013 spielten Islamist*innen überhaupt keine Rolle in der syrischen Bewegung, und dennoch hat das Regime kontinuierlich versucht, dieses Narrativ aufzustellen. Erst ab 2013 hatten die Islamist*innen überhaupt eine Präsenz, und zwar als Raqqa von ihnen übernommen wurde. Zweitens wurde es den islamistischen Kräften einfach gemacht, an Waffen zu kommen, nicht zuletzt auch durch das Regime selbst, denn es lag in seinem Interesse, diese Kräfte gegenüber den demokratischen Kräften zu stärken. Und drittens gab es auch Formen der Selbstfinanzierung, die vom Regime unterstützt wurden. So hatte HTS Zugang zu Wasser und zum Gas- und Elektrizitätsnetzwerk. Das sind alles Faktoren, die zugunsten von HTS gewirkt haben. Gleichzeitig hat der Westen die demokratischen Kräfte, die es in Syrien gab und die sich dieser Entwicklung hätten entgegenstellen können, nicht unterstützt. Auf der anderen Seite gibt es Russland und Iran, die das Regime massiv gestützt haben. Und wenn Russland Untergrundkrankenhäuser bombardiert, aber die Leitungszentralen, die Büros und die Trainingslager von HTS unangetastet lässt, dann ist klar, welche Kräfte gestärkt werden sollen.
Welche demokratischen und progressiven Bewegungen gibt es in Idlib, die wir im Westen heute unterstützen könnten? Und was können wir konkret tun?
Alle zivilen Organisationen, die wir heute in Idlib haben, sind demokratisch ausgerichtet, zum Teil wurden sie früher auch von europäischer Seite unterstützt. Wären sie heute nicht in Idlib aktiv, dann wäre die Situation für die Menschen dort viel schlimmer, denn diese Organisationen regeln alles, was den Alltag angeht. Es gibt auch politische Institutionen wie die lokalen Räte, die sich in allen kleinen Städten und Dörfern finden und die demokratisch gewählt sind. Jedes dieser Dörfer hat also seine Repräsentant*innen und damit eine Form der Selbstregierung. Es gibt Institutionen im Bildungs- und Gesundheitswesen, die ebenfalls zum demokratischen Spektrum gehören. Und natürlich gibt es auch Journalist*innen in Syrien oder auch Journalist*innen in der Türkei, die zu Syrien arbeiten, die Unterstützung benötigen. Für die Zukunft brauchen wir massive Unterstützung, um zum Beispiel Gewerkschaften aber auch andere Zusammenschlüsse mit demokratischem Charakter aufzubauen, denn nur so kann es uns gelingen, ein Syrien zu schaffen, das eine Zukunft hat.
[1] In der kasachischen Hauptstadt Astana (jetzt Nur-Sultan) fand im April 2019 die zwölfte Runde der Syriengespräche zwischen Russland, der Türkei und dem Iran statt.
[2] Stadt im nördlichen Gouvernement Aleppo. Im Februar 2018 trafen die kurdisch dominierten Syrian Democratic Forces (SDF), die Tel Rifaat kontrollieren, mit Russland eine Vereinbarung zur Stationierung russischer Militärpolizei in der Stadt.
[3] Stadt im Süden Idlibs, die Ende Mai 2019 bombardiert wurde.