In vielen Passagen dieses Buches kommt sich der Leser vor wie in einem Film aus der Mad Max Trilogie oder wie in der Welt, die in der brutalen Verfilmung des hochgelobten Buches „Die Straße“ von Cormac McCarthy gezeigt wird: Gewalt, Hass und Tod sind allgegenwärtig, es herrschen Faustrecht und Rache; Vertreibung, Hunger, Naturaltausch und Vergewaltigung bestimmen die Lebenswelt von Millionen Menschen. Dies ist aber kein Film, sondern Europa – und der 1970 geborene britische Historiker Keith Lowe weist darauf hin, dass heute noch Millionen Menschen leben, die diese Zeit als Kinder mehr oder weniger bewusst miterlebt haben (von der transgenerationellen Weitergabe der traumatischen Erlebnisse ganz abgesehen).
Lowe schildert in 28 Kapiteln eindrücklich die Verwüstungen, die der Zweite Weltkrieg mit sich brachte, zum einen durch die Kriegshandlungen selbst und dann durch die Ereignisse, die dem 8. Mai vorausgingen und folgten. Immer wieder bringt er Zahlen, Statistiken und andere Angaben, die das Geschehen veranschaulichen sollen. Nur einige Beispiele aus den ersten Kapiteln: Mindestens 20 Prozent des Wohnraumes im Deutschen Reich ist zerstört. In Griechenland sind von den 410.000 im Krieg ums Leben gekommenen Personen 250.000 verhungert. Bei Kriegsende werden noch 300.000 jüdische KZ-Insassen befreit. Ebenso viele sind allein noch in den letzten Monate des Krieges, z.B. bei den sog. „Todesmärschen“, zu Tode gebracht worden. Alleine in Berlin werden 110.000 Frauen vergewaltigt. Elf Millionen deutsche Soldaten geraten in Kriegsgefangenschaft, je ein Drittel unter britische, russische und amerikanische. Von denen in russischer Gefangenschaft stirbt über ein Drittel, in den anderen Lagern dagegen nur ein Tausendstel. Über elf Millionen Deutsche verlieren, unter welchen Umständen auch immer, ihre Heimat.
Lowe beschreibt einen Zeitraum von 1943 bis circa 1950, der also mit der Landung der Alliierten in Italien und der Befreiung Griechenlands beginnt. Mit dem 8. Mai 1945 ist für ihn – und für viele der damals Handelnden - der Zweite Weltkrieg nicht zu Ende. Dieser Tag war für viele nur ein relativ abstraktes Datum. Vertreibungen, bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen und die Debatten um den Umgang mit Kollaboration gewannen durch das Kriegsende erst an Fahrt. Lowe schreibt trocken, der zweite Weltkrieg sei kein klar konturierter Konflikt zwischen genau abgrenzbaren Parteien (Nazis/Alliierte) gewesen, was schon alleine die Geschichte Italiens, der baltischen Länder oder die Kollaboration in Frankreich zeige. Lowe schildert den Umgang mit KollaborateurInnen, ebenso wie die Gebietsveränderungen, die es ja in z.B. in Deutschland, Polen und der Ukraine gab. Dem industriellen Töten der Einsatzgruppen und in den Konzentrationslagern widmet er nicht übermäßig viel Raum. Er berichtet über die Reaktionen der alliierten Streitkräfte, als sie die Lager erreichen, z.B. wird das KZ Majdanek bereits im Juli 1944 von der Roten Armee erreicht. Dort finden die Befreier Berge von materiellen Hinterlassenschaften der in den KZs Sobibor, Belzec und Treblinka ermordeten Menschen vor. Solche Berge von Schuhen oder Brillen veranschaulichen die Dimension der Shoa zynisch gesagt besser als eine zahl von 900.000 Toten (wie z.B. allein in Treblinka).
Viele politische Bewegungen und Akteure in vielen Ländern in Ost und West webten eilig und fleißig an einem Diskurs über die Nation und noch mehr über die nationale Einheit mit, eine Einheit, die verdeckte, dass es eben nicht nur Widerstand, sondern auch viel Kollaboration gegeben hatte. Nun sollte Versöhnung nach innen stattfinden – durch Verdrängung. Die überlebenden Juden und Jüdinnen störten da nur. Sie stellten alleine durch ihre Existenz die Mythen der nationalen, gegen Deutschland gerichteten Einheit in Frage und riefen vielen ihr Versagen ins Gedächtnis.
Lowe verfällt nun nicht in einen totalitarismustheoretisch aufgeladenen „Die Gewalt hat niemand verschont“-Duktus – auch wenn er an einer Stelle schreibt, der „moralische Sumpf“ habe „niemand verschont“. Er benennt pointiert nationalistische Mythen, auch die der Sieger, und ebenso den Unterschied zwischen dem Vernichtungsantisemitismus der Nazis und der – teilweise rassistischen, wenn nicht antisemitisch begründeten - Gewalt der Sowjetunion und auch verschiedener Bürgerkriegsparteien. Er unterscheidet zwischen der Vertreibungspolitik der Nazis und der anderer Akteure. Die ersten wollten ihre „Gegner“ ermorden, die anderen ihre aussiedeln.
Wer sich von der Darstellung der Gewalt nicht abschrecken lässt, wird viel Neues über das Europa dieser Jahre erfahren und seine Kenntnisse erweitern. Ein Jahrzehnt, in dem die Soldaten und ZivilistInnen vieler Länder ihre Toten zählten, und die europäischen Juden und Jüdinnen ihre Überlebenden.
Der lesenswerte, und in den Qualitätsmedien breit rezipierte Band enthält ein Personen- und ein Sachregister.
Bernd Hüttner
Keith Lowe: Der wilde Kontinent. Europa in den Jahren der Anarchie 1943-1950, Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2014, 526 Seiten, 26,95 EUR (Leseprobe als PDF)