Der 23. Juni 2019 wird als wichtiger Wendepunkt in die politische Geschichte der Türkei eingehen. Denn mit der am Sonntag abgehaltenen Wahl zum Oberbürgermeister Istanbuls fand die 24-jährige Macht Recep Tayyip Erdoğans über diese Stadt, die 17-jährige Macht der Regierungspartei AKP und die vierjährige Macht ihres Reserverads MHP ihr Ende.
Bei dieser Wahl stimmten fast neun Millionen Istanbuler*innen an 31.000 Wahlurnen ab. Die Wahlbeteiligung lag bei 84 Prozent. Wäre die rechtswidrige und unter dem Druck der Regierung zustande gekommene Entscheidung der Hohen Wahlkommission YSK vom 6. Mai, mit der die Oberbürgermeisterwahl annulliert wurde, auch auf die Wahl der Bezirksbürgermeister ausgeweitet worden, dann hätte die demokratische Opposition um Ekrem İmamoğlu von der CHP am vergangenen Sonntag 28 von 39 Bezirke in Istanbul erobert. Mit anderen Worten: Der auf Befehl des Diktators Erdoğan und der AKP von der Wahlkommission durchgeführte «Putsch von Istanbul» mündete nun in einer vernichtenden Niederlage.
Der CHP-Kandidat Ekrem İmamoğlu erhielt 54 Prozent der gültigen Stimmen, während der AKP-Kandidat Binali Yıldırım nur 45 Prozent der Stimmen holte. Im Vergleich zu den Wahlen am 31. März hat sich die damalige Differenz von 14.000 Stimmen zugunsten İmamoğlus um das 57-fache auf 800.000 Stimmen Vorsprung erhöht. Die AKP hat damit ihre Vormachtstellung in den größten urbanen Zentren der Türkei komplett eingebüßt.
Dabei wollte der faschistische Block aus AKP und MHP Istanbul unbedingt behalten. Warum? Dafür gibt es mindestens vier wichtige Gründe.
Erstens: Für den faschistischen Block, der neoosmanische Träume hegt, ist Istanbul die Hauptstadt des Imperiums. Sie ist also von großem symbolischen Wert.
Zweitens: Istanbul ist so etwas wie die Türkei in klein. Die Stadt hat eine Bevölkerung von 16 Millionen Menschen, die aus allen Provinzen des Landes nach Istanbul gekommen sind. In der Bevölkerungsstruktur wie auch politisch spiegelt Istanbul die Türkei.
Drittens: Der Istanbuler Gemeindehaushalt entspricht fast einem Drittel des gesamttürkischen Haushaltes. Es war eine sehr wichtige Geldquelle für alle Sekten und islamischen Gemeinschaften, die die AKP bisher unterstützt haben.
Viertens: Istanbul war bislang ein wichtiges Drehkreuz für den türkischen Staat bei der Versorgung dschihadistischer islamistischer Terrororganisationen im Nahen Osten, insbesondere in Syrien. Auch deshalb ist die Stadt für das Regime unverzichtbar.
Aber das Kalkül, durch die Wahlwiederholung die Stadt zurückzugewinnen, ging nicht auf, im Gegenteil: Mit dem Ergebnis der Istanbuler Wahlen ist die Autorität der AKP-Regierung und des Ein-Mann-Herrschers an ihrer Spitze endgültig erschüttert, der Abstieg der AKP hat begonnen.
In der kommenden Zeit wird sich dieser Zusammenbruch angesichts der sich verschlechternden Konjunktur weiter beschleunigen. Zudem ist die Legende, der Mythos, dass Erdoğan unbesiegbar sei, zerstört.
Wie schon Erdoğan selbst sagte: «Verlieren wir Istanbul, verlieren wir den Halt in der Türkei». Die AKP, deren Aufstieg in den Kommunalverwaltungen einst begann, wird auch mit ihnen gehen. Sie ist, egal was sie tut, kein Anziehungspunkt mehr – der Zauber ist gebrochen.
Tatsächlich begann Erdoğans Ende bereits, als das System der Ein-Mann-Diktatur infolge des betrügerischen und fragwürdigen Referendums vom 16. April 2017 in die Verfassung aufgenommen wurde. Es mag paradox erscheinen, doch die Auflösung der Gewaltenteilung und die Konzentration der Gesetzgebungs-, Exekutiv- und Justizbefugnisse in den Händen des Staates, war der Beginn des heutigen Zusammenbruchs. Am Ende sind noch alle Diktatoren ihren maßlosen Machtambitionen zum Opfer gefallen. Erdoğan konnte hier keine Ausnahme darstellen.
Diktatoren bevorzugen es, um sich herum Speichellecker und Schmeichler zu scharen, die ihnen gegenüber absolut loyal sind. Diese wiederum schirmen ihre Anführer mehr und mehr von der Realität ab – und schwächen sie damit. Als Erdoğans Speichellecker Istanbul zur Heiligen Stadt der politischen Geburt des «Einen Mannes» erhoben, war absehbar, dass er nur verlieren kann und diese Überhöhungen schon die «läutenden Todesglocken» sind. Es war die Falle, in die Erdoğan getappt ist.
Letztlich hat er mit seinen Träumen vom Neo-Osmanismus die Türkei an den Rand der politischen, wirtschaftlichen, militärischen und außenpolitischen Katastrophe gebracht. Istanbuls Bevölkerung hat erkannt, dass Erdoğan das Land in Richtung Abgrund führt. Mit dieser Wahl hat sie ein Zeichen gesetzt, ja, ihm eine Ohrfeige verpasst.
Istanbul ist überdies eine wichtige Stadt für die Kurd*innen. Fast vier Millionen Kurd*innen leben hier. Am 31. März und am 23. Juni forderte die multiethnische Linkspartei HDP von ihren Anhänger*innen eine strategische Abstimmung, was dazu führte, dass die AKP-MHP-Allianz in allen großen Städten des Westens verlor. Daher leisteten die HDP und die Kurd*innen einen wichtigen Beitrag für den demokratischen Erfolg bei den Kommunalwahlen.
So erlitt der faschistischen AKP-MHP-Block einen schweren Schlag. Um nun den Faschismus zu besiegen und die Demokratisierung der Türkei sicherzustellen, muss allerdings der Rückenwind Istanbuls auch genutzt werden. Es ist nun an der Zeit für Arbeiter*innen, Frauen, Jugendliche, Alevit*innen, Kurd*innen, das heißt alle demokratischen Kräfte, ein organisiertes Bündnis mit dem Ziel einer radikal-partizipativen Demokratie aufzubauen. Nur wenn dieses Ziel erreicht ist, wird das Motto der Istanbuler Wahlen – «Es wird alles sehr schön werden» – wirklichen Sinn entfalten können.
In der Türkei und in Kurdistan hat mit den Wahlen vom Sonntag eine neue Phase des politischen Prozesses und eine neue Etappe des demokratischen Kampfes begonnen. Wenn man die Drohungen in den Erklärungen der MHP ernst nimmt, muss damit gerechnet werden, dass dieses Regime weiterhin seine Feindschaft gegen Kurd*innen hegen und von aggressiven Rachegedanken angetrieben erst recht angreifen wird. Dies auch, weil Diktatoren wie Erdoğan Prozesse, wie sie in der Türkei gerade stattfinden, nicht richtig verstehen können. Letztlich bringt sie ihre eigene Politik – die beständige Intensivierung von Unterdrückung, Staatsterrorismus und Rechtlosigkeit – zum Zusammenbruch. Je grausamer sie werden, desto unumgänglicher wird ihr Ende. Deshalb ist ein Bündnis aller Kräfte für Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit unabdingbar. Gelingt es den demokratischen Kräften, ein solches zu schmieden, ist der Zusammenbruch des Faschismus sicher.