Was die einen als Meilensteine auf dem Weg in ein modernes Saudi-Arabien werten, liest sich für andere wie blanker Hohn. Bis heute leiden Frauen im Königreich unter einer tief verwurzelten Diskriminierung – vor dem Gesetz gelten sie im Grunde als Menschen zweiter Klasse, hinsichtlich Ehe, Scheidung, Sorgerecht oder Erbrecht unterstehen sie den Männern. Doch nun das: Seit August 2019 können sie ohne Zustimmung ihres männlichen Vormundes verreisen, schon Mitte 2018 fiel das Autofahrverbot. Ist das endlich das Ende des patriarchalen Systems in Saudi-Arabien? Muhammad bin Salman, Kronprinz und starker Mann in der Monarchie, schien es ernst zu meinen mit seiner «Saudi Vision 2030». Der «kühne Entwurf für eine ambitionierte Nation», so der Untertitel, soll die Wirtschaft des Landes weniger abhängig vom Öl machen – und dazu braucht es auch die Arbeitskraft der Frauen.
Christopher Resch arbeitet als freier Journalist vor allem zu Themen aus Westasien und Nordafrika und ist Herausgeber des Bandes «Medienfreiheit in Ägypten» (2015). Zuvor war er für das Goethe-Institut in Ägypten und Saudi-Arabien tätig.
Die saudischen PR-Strategen hatten ihr Ziel erreicht: Dass kurz vor der Lockerung des Fahrverbotes auf einen Schlag zwölf Frauenrechtlerinnen verhaftet worden waren, geriet angesichts dieses Meilensteins zunächst in Vergessenheit. Und das, obwohl es mit Loujain al-Hathloul eine der prominentesten Aktivistinnen traf. Die heute 30-Jährige sitzt noch immer in Haft. Berichten aus ihrem familiären Umfeld zufolge wurden sie und andere inhaftierte Aktivistinnen gefoltert und sexuell missbraucht; das Regime bestreitet das. Loujain al-Hathloul hatte sich seit Jahren für die Stärkung der Rechte der Frauen engagiert, 2014 saß sie für 73 Tage im Gefängnis, weil sie mit dem Auto die Grenze zu den Vereinigten Arabischen Emiraten überquert hatte. Nach damaligem saudischen Recht eine Straftat. Doch richtig problematisch machte die Sache aus Sicht der Autoritäten die Tatsache, dass al-Hathloul ihre Prominenz dazu genutzt hatte, über die sozialen Medien Kritik an der Unterdrückung der Frauen zu üben.
Die saudische Regierung weiß um die Macht des Internets. Über drei Viertel der Bevölkerung im Königreich sind Prognosen zufolge online, die Nutzungsrate von Diensten wie Facebook, Twitter, Instagram oder Snapchat ist extrem hoch. Weil auch die saudischen Herrscher mitbekommen haben, wie schnell sich Massen mobilisieren lassen – Stichwort Arabischer Frühling –, setzen sie hier knallhart die Daumenschrauben an. Mit Hilfe von Antiterrorgesetzen und Dekreten zur Internetkriminalität versuchen sie, die Aktivistinnen einzuschüchtern. Zugleich startete die Regierung eine massive Verleumdungskampagne, um die inhaftierten Frauen als Verräterinnen darzustellen. Markus N. Beeko, Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland, bezeichnet dieses Vorgehen als «massive Menschenrechtsverstöße an friedlichen Frauenrechtlerinnen».
Besonders allergisch reagiert das saudische Regime, wenn gleich mehrere kritische Marker zusammenkommen – wie etwa bei Israa al-Ghomgham. Sie ist Schiitin und damit per se verdächtig: Der vor allem im Osten des Landes lebenden schiitischen Minderheit unterstellt die Regierung häufig, in verdeckten Verbindungen zum Erzfeind Iran zu stehen, zumal im schiitischen Gebiet auch die Ölindustrie beheimatet ist, die seit Jahrzehnten die saudischen Kassen füllt. Auch Israa al-Ghomgham sitzt nicht zum ersten Mal im Gefängnis. Sie wurde im Land bekannt, weil sie die – im Vergleich etwa zu Tunesien, Ägypten oder dem Jemen sehr kleinen – Proteste während des Arabischen Frühlings 2011 dokumentierte. Zwischenzeitlich kursierte die Nachricht, sie solle hingerichtet werden – es wäre die erste Hinrichtung einer Menschenrechtsaktivistin in Saudi-Arabien gewesen. Die Todesstrafe scheint aufgehoben, al-Ghomgham sitzt jedoch noch immer im Gefängnis.
Die Gruppe von Menschenrechtsaktivist*innen in Saudi-Arabien ist klein, aber gut vernetzt, hat eine teils große Reichweite und ist erprobt im Umgang mit Schikane und Drangsalierungen. Ein Beispiel ist Eman al-Nafjan, die mit ihrem 2008 gegründeten Blog Saudiwoman eine auch international große Leserschaft erreicht. Sie kritisierte etwa das System der männlichen Vormundschaft und die mittlerweile abgeschaffte Religionspolizei. Eman al-Nafjan saß deshalb schon 2013 für kurze Zeit im Gefängnis und wurde später Teil der Verhaftungswelle um Loujain al-Hathloul. Sie ist mittlerweile wieder auf freiem Fuß, darf Saudi-Arabien aber nicht verlassen. Nassima al-Sadah verbüßt eine Einzelhaft, Omaima al-Najjar lebt seit Jahren im Exil in Italien. Auch sie sind der Regierung ein Dorn im Auge, weil sie für die Rechte der schiitischen Minderheit und der Frauen eintreten – und vor allem, weil die saudische Regierung ihren Einfluss auf die Öffentlichkeit fürchtet.
Die Liste ließe sich fortsetzen. Zuletzt kamen zwar einige der Frauen auf freien Fuß, doch nur für die Dauer ihres Gerichtsprozesses. Andere bleiben inhaftiert, so auch Samar Badawi, die Schwester des seit 2012 in Haft sitzenden früheren Bloggers und Aktivisten Raif Badawi. Momentan spiele Saudi-Arabien damit, «auf der einen Seite Reformen zu gewähren und auf der anderen Seite die Frauen einzusperren, die für genau diese Reformen gekämpft haben», sagt Rothna Begum von Human Rights Watch.
Über allen aktivistischen Bestrebungen schwebt wie ein Damoklesschwert der Mord an Jamal al-Khashoggi. Der Journalist war im Oktober 2018 im saudischen Konsulat in Istanbul getötet worden. Auf viele wirkt es so, als wäre dadurch die Büchse der Pandora vollends geöffnet worden. Denn dass der saudische Staat einen eher moderaten Kritiker mutmaßlich so kaltblütig und brutal ermorden könnte, schien vielen undenkbar. Doch jüngst hat Kronprinz Muhammad bin Salman «die Verantwortung übernommen» – in eher allgemeinen Worten, doch persönlich und vor der Kamera. Das kann man auf zwei verschiedene Weisen deuten: Entweder als Zugeständnis unter öffentlichem Druck – oder als Beleg dafür, dass sich der mächtige Mann im Staat vollends unangreifbar fühlt.