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Palästinensische Politik und die «Herrschaft auf Lebenszeit»

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Autorin

Helga Baumgarten,

Ramallah, 12. Januar 2019
Ramallah, 12. Januar 2019: Palästinenser*innen fordern bei einer Demonstration die Beendigung der Spaltung zwischen Fatah und Hamas und die Vereinigung des Westjordanlandes und des Gazastreifens. Abbas Momani / AFP

Lange totgesagt steht Mahmud Abbas, genannt Abu Mazen, bis heute an der Spitze der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), arabisch «Sulta» (Autorität) in Ramallah. Er regiert die Westbank mit einer Politik der eisernen Hand, nicht zuletzt mit Hilfe seiner Kontrolle über die Geheimdienste und über die Finanzen. Im November wird er 84 Jahre alt und allein schon deshalb stellt sich die Frage der Nachfolge unausweichlich.

Das palästinensische Grundgesetz (Basic Law) von 2003 (mit einigen Änderungen 2005) regelt diese Frage für den Fall des Todes des Amtsinhabers sehr präzise. Eine erste historische Erfahrung gab es damit nach dem Tod von Yasir Arafat, dem ersten Präsidenten der Palästinensischen Autorität. Der amtierende Parlamentspräsident übernahm die Amtsgeschäfte des Präsidenten bis zur Neuwahl eines Nachfolgers, die innerhalb von maximal 60 Tagen durchzuführen war. Arafat starb im November 2004 und im Januar 2005 fanden die Präsidentschaftswahlen statt, die Abbas mit großer Mehrheit für sich entscheiden konnte. Gewählt wurde er für vier Jahre. Allerdings haben seit 2005 keine Präsidentschaftswahlen mehr stattgefunden und bis zum Sommer 2019 war Abbas auch nicht bereit, neue Wahlen in die Wege zu leiten.

Die Politologin und Historikerin Helga Baumgarten ist affiliiert mit der palästinensischen Universität Birzeit, an der sie lange Jahre gelehrt hat. Ihre Publikationen thematisieren den Nahostkonflikt, die palästinensische Nationalbewegung, den politischen Islam und die Problematik von Transformationen in der Arabischen Region.

Neue Situation für Nachfolgeregelung

Inzwischen hat Abbas eine neue Situation geschaffen, als er durch ein von ihm als Präsidenten eingesetztes Verfassungsgericht das 2006 gewählte Parlament auflösen ließ.

Eben dadurch stellen sich heute die Probleme der Regelung der Nachfolge ganz neu. Denn ohne Parlament gibt es keinen Parlamentspräsidenten und damit ist völlig ungeklärt, was im Falle des Todes von Abbas passieren sollte. Eine Möglichkeit, die seit geraumer Zeit innerhalb der palästinensischen politischen Elite und von Beobachter*innen diskutiert wird, ist die Einsetzung des derzeitigen Premierministers, Mohammad Shtayyeh, als Übergangspräsidenten mit dem Auftrag, Neuwahlen in die Wege zu leiten. Alternativ könnte der Präsident des Verfassungsgerichtes diese Aufgabe übernehmen.

Genau an diesem Punkt hakt ein völlig neues Narrativ aus Ramallah und aus dem Präsidentenamt ein. Danach sieht sich Abbas seit 2012, also dem Jahr, als Palästina als Nicht-Mitglieds-Staat (non-member state) in die UN aufgenommen wurde, nicht mehr (nur) als Präsident der im Rahmen des Oslo-Friedensprozesses installierten Palästinensischen Autonomiebehörde , sondern vielmehr als Präsident des palästinensischen Staates. Relevant wird damit an erster Stelle wieder die PLO - und nicht mehr das ohnehin aufgelöste palästinensische Parlament. Innerhalb der PLO, so die Auffassung des autoritären Abbas, werden zuerst und vor allem das Zentralkomitee und das Exekutivkomitee relevant, weniger der Nationalrat, also das palästinensische Exilparlament, auch PLO-Parlament genannt.

Im Falle des Todes von Abbas könnte auch Salim Zanun, seit 1993 Präsident des palästinensischen Nationalrates und einer der historischen Fatah-Führer, als Interimspräsident bis zu Neuwahlen die Geschicke des Landes in die Hand nehmen. Das könnte schließlich ein weiteres Narrativ in die Wirklichkeit umsetzen, dass nämlich auf der Basis der realen Machtverhältnisse innerhalb der PLO der nächste Präsident in Palästina – mit oder ohne Neuwahlen - der Vize-Präsident von Fatah würde, also nach derzeitigem Stand Mahmoud al-Alul. Er wurde von Abbas selbst, zusammen mit dem Fatah Zentralkomitee, zum Vize-Präsidenten der Fatah ernannt.

Unklarheit über angekündigte Wahlen  

Nun hat Abbas in seiner Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 29. September 2019 ausdrücklich Parlamentswahlen angekündigt. Inzwischen scheint es so, dass diese Ankündigung umgesetzt werden soll. Der Leiter der Wahlkommission, Hanna Nasir, der ehemalige Präsident der Universität Birzeit, pendelt seit einigen Wochen zwischen Ramallah und Gaza, um Wahlen sowohl im Gazastreifen als auch in der Westbank zu ermöglichen, v.a. aber, um die Hamas zur Teilnahme an den Wahlen zu bringen. Wider Erwarten scheint er damit Erfolg zu haben. Während die Hamas bis dato darauf bestanden hatte, Parlaments-und Präsidentschaftswahlen gleichzeitig durchzuführen, zeigt sie inzwischen große Flexibilität. Das hat wiederum die Fatah unter Zugzwang gesetzt und es sieht derzeit so aus, dass entweder nur ein Urnengang geplant ist oder, alternativ, die Präsidentschaftswahlen nur wenige Wochen nach den Parlamentswahlen, an einem vorher festgesetzten Termin, durchgeführt werden. Hier dominiert allerdings noch weitgehend Unklarheit und alle warten auf ein Dekret von Präsident Abbas, in dem er alle Details zu den Wahlen festlegt.

Am 9. November kam schließlich eine für viele überraschende Nachricht aus Ramallah. Die Fatah kündigte an, dass ihr alleiniger Kandidat für das Präsidentenamt Abbas sei. Dies geschah nur wenige Tage, nachdem Jibril Rajoub – bis 2002 Chef einer der wichtigsten palästinensischen Geheimdienste, des Präventiven Sicherheitsdienstes, der 2006 vom Geheimdienst in den Sport gewechselt ist und seitdem Präsident des Palästinensischen Fußballbundes und des Palästinensischen Olympischen Komitees ist – seinerseits erklärt hatte,  Abbas würde nicht mehr kandidieren. Es sei an der Zeit, so Rajoub, jüngere Leute an die Macht zu bringen. Abbas habe in der Zukunft vielmehr die Aufgabe, als historischer Führer und als Symbolfigur an der Spitze der Palästinenser*innen zu stehen.

Offensichtlich gibt es – altbekannte – Richtungskämpfe innerhalb der Fatah und Abbas hat sich der Unterstützung vor allem der Fatah aus Nablus (Alul, der Fatah-Vize-Präsident, Shtayyeh, der Premierminister in Ramallah, der aus Nablus kommt) und Ramallah (Hussein al-Sheikh, Minister für Zivile Angelegenheiten und damit verantwortlich für die direkten Kontakte zwischen Ramallah und Tel Aviv), wohl weniger aus Hebron (Rajoub) versichert. Es sollte deshalb auch nicht überraschen, wenn – allerdings auf lange Sicht – Shtayyeh als realistischer Nachfolger von Abbas ins Gespräch kommen würde.

Mögliche Wahl-Szenarien

Die erste Frage wäre damit: Wie könnten die Wahlen ausgehen, sollten sie tatsächlich durchgeführt werden? Die letzten Umfragen vom September 2019 durch das Meinungsumfrageinstitut Palestinian Center for Policy and Survey Research (PSR) in Ramallah sind in sich einigermaßen widersprüchlich. Einerseits sind über 60 Prozent der Palästinenser*innen unzufrieden mit der Arbeit von Abbas und verlangen seinen Rücktritt. Andererseits würde er bei neuen Präsidentschaftswahlen, sollten lediglich er als Kandidat der Fatah und Ismail Haniyeh als Kandidat der Hamas antreten, Haniyeh knapp schlagen mit 48 Prozent gegenüber 46 Prozent. Interessant dabei ist, dass in der Westbank Abbas mit 56 Prozent klar vor Haniyeh mit 36 Prozent liegt, während im Gazastreifen Haniyeh mit 57 Prozent klar vor Abbas mit 39 Prozent liegt. Sollte allerdings Marwan Barghouti, der in Israel zu mehreren lebenslangen Gefängnisstrafen verurteilte, in Palästina äußerst beliebte Fatah-Führer bei den Wahlen antreten, würde er die Wahlen mit klarem Abstand vor Haniyeh und vor Abbas für sich entscheiden.

Bei den Parlamentswahlen würde laut Umfragen vom September 2019 die Fatah 38 Prozent der Stimmen erhalten, die Hamas 29 Prozent. Auch bei den Parlamentswahlen gibt es signifikante Unterschiede zwischen Westbank und Gazastreifen. Im Gazastreifen würde die Hamas die Wahlen klar gewinnen mit 39 Prozent vor 20 Prozent für die Fatah. In der Westbank wäre das Ergebnis klar umgekehrt mit 43 Prozent für die Fatah und 31 Prozent für die Hamas. Unklar ist dabei, ob diese Zahlen verlässlich sind oder ob viele Hamas-Wähler*innen, v.a. in der Westbank, ihre Absichten nicht klar formulieren. Dasselbe gilt natürlich ebenso für die Absichten von Fatah-Wähler*innen im Gazastreifen. Anders ausgedrückt, fühlen sich die Befragten frei, bei Umfragen ihre wirklichen Wahlabsichten unter den jeweils autoritären politischen Führungen der Hamas in Gaza und der Fatah in der Westbank zu äußern? Vielen ist noch in Erinnerung, dass laut Umfragen 2006 die Fatah als klarer Wahlsieger gesehen wurde, während bei den Wahlen im Januar 2006 die Hamas einen großen Wahlsieg erzielte.

Was würde passieren, wenn – was wahrscheinlicher ist – keine Wahlen zustande kommen, sei es wegen neuer Konflikte zwischen Fatah und Hamas oder aber wegen der Weigerung Israels, Wahlen in Ost-Jerusalem zu erlauben? Dann würde Abbas, dem es gesundheitlich scheinbar sehr viel besser geht als viele Presseberichte behaupten, und der keinerlei Anstalten macht, seine Machtposition aufzugeben, weiter Präsident bleiben, sei es mit oder ohne Unterstützung durch alle palästinensischen politischen Organisationen, sowohl innerhalb der PLO (Fatah, PFLP, DFLP, Fida, Palästinensische Volkspartei) als auch außerhalb (Hamas und Islamischer Jihad). Ein Narrativ könnte dann Realität werden, dass nämlich das Exekutivkomitee der PLO schlicht die Mitglieder eines neuen Legislativrates ernennt, sollten Abbas und seine Umgebung das für sinnvoll halten.

Fatah-Machtelite 

Aber auch Abbas wird nicht ewig leben und damit stellt sich derzeit zumindest die Frage, wer zum Kreis der potentiellen Nachfolger – hier scheint die männliche Schreibweise zu genügen – gehört, vor allem aber, wer innerhalb der palästinensischen Machtelite in Ramallah die dafür notwendige Unterstützung hat. Wie schon oben angeführt, ist Shtayyeh auf lange Sicht der aussichtsreichste Kandidat, nicht zuletzt auf der Basis seiner Position innerhalb der Fatah. Mohammad Dahlan, ehemaliger Chef des Präventiven Sicherheitsdienstes in Gaza und einer der Herausforderer von Fatah, der seit Jahren im Golf lebt, ist eher ohne Chancen (ähnlich wie übrigens auch Rajoub). Dahlan versucht seit Jahren, seine Stellung in der palästinensischen Gesellschaft zu stärken, indem er sehr freigiebig große Geldsummen verteilt, sei es in der Westbank oder im Gazastreifen. Unterstützung in der Bevölkerung hat er jedoch ausschließlich in Teilen des Gazastreifens. Während zwar immer wieder berichtet wurde, dass er Wunschkandidat sowohl Israels, Ägyptens als auch der USA für die Nachfolge von Abbas sei, ist davon seit längerer Zeit nichts mehr zu hören. Wahrscheinlich hat man erkannt, dass entscheidend sein wird, wer die notwendige Unterstützung vor Ort hat, nicht wer von außen protegiert wird.

Erstaunlicherweise nicht im Gespräch – zumindest nicht derzeit – ist Nasser al-Qudwa, der Neffe von Arafat, der als PLO-Vertreter bei der UNO in New York immerhin langjährige diplomatische Erfahrung aufzuweisen hat. Dabei stellt sich die Frage, ob er selbst kein Interesse hat oder ob er schlicht der internen Machtkämpfe in der Fatah müde ist und sich als elder statesman in seiner Rolle als Chef der Yasir-Arafat-Stiftung wohlfühlt. Schließlich hat er sich 2018 aus der aktiven Politik mit klarer Kritik am Herrschaftsstil von Abbas verabschiedet.

Allerdings sollte man sich über eine weitere, bis dato nicht ausdrücklich erwähnte, Realität keine Illusionen machen. Für die Lage in der Westbank, in Ost-Jerusalem, aber auch in Gaza, sind alle diese Szenarien weitgehend irrelevant. Die Macht vor Ort liegt in der Hand Israels, der israelischen Armee und zusehends auch der israelischen Siedler*innen. Sie scheren sich wenig darum, wer in Ramallah oder in Gaza so tut, als verfüge er über politische Macht. Die Rolle dieser «Machthaber», die ihnen Israel seit Oslo zugeschrieben hat, ist es, die palästinensische Gesellschaft mit eiserner Hand unter Kontrolle zu halten. Diese Aufgabe hat Abbas, unterstützt von Fatah-Führern wie al-Sheikh oder Majed Faraj, dem Chef des wichtigsten palästinensischen Sicherheitsdienstes, seit 2005 zu voller israelischer Zufriedenheit erfüllt.