Seit über vier Wochen hat die weltweite Corona-Krise nun auch Polen fest im Griff. Doch während anderswo sich die innenpolitische Hitze merklich verflüchtigt hat, fliegen in Polen immer noch die Fetzen. Der Stein des Anstoßes sind die Wahlen für das Amt des Staatspräsidenten, die für den 10. Mai 2020 angesetzt sind. Das direkt gewählte Staatsoberhaupt hat in Polen Befugnisse, die mitunter über bloße Repräsentationszwecke hinausgehen. So kann er Gesetzesvorhaben blockieren, die dann wieder zurückkehren ins Parlament und dort mit einer Dreifünftel-Mehrheit verabschiedet werden müssen.
Holger Politt leitet das Regionalbüro Ostmitteleuropa der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau.
Insofern sagte Jarosław Kaczyński noch am Wahlabend des 13. Oktober 2019, nachdem die absolute Mehrheit der Parlamentssitze im Sejm für die Nationalkonservativen ein weiteres Mal feststand, dass eine Niederlage bei den im Frühjahr anstehenden Präsidentschaftswahlen für seine politische Formation einer Katastrophe gleichkäme.
Mit Andrzej Dudas überraschendem Sieg im Frühjahr 2015 begann der seither anhaltende Siegeszug der von Kaczyński geführten Nationalkonservativen. Frühzeitig stand fest, dass das Kaczyński-Lager im Frühjahr 2020 auf den Amtsinhaber setzt, auch wenn das Verhältnis zwischen Duda und Kaczyński längst nicht spannungsfrei war, allerdings ist es Duda zu keiner Zeit gelungen, sich aus dem Schatten seines einstigen Gönners zu befreien und sich im hohen Amt von ihm zu emanzipieren. Zwischenzeitliche Überlegungen Kaczyńskis, für die nationalkonservativen Wähler doch einen anderen Kandidaten ins Rennen zu schicken, waren jedenfalls vom Tisch, als auch in Polen das neue Corona-Virus den Takt für das öffentliche Leben unbarmherzig vorzugeben begann.
Seit dem 12. März ging es Schlag auf Schlag. Erst wurden Hochschulen, Schulen und Kindereinrichtungen geschlossen, dann folgten die Grenzschließungen sowie das Kappen aller internationalen Luftverbindungen, schließlich wurde die Versammlungsfreiheit immer mehr heruntergedrückt, so dass nun zur Osterzeit im Grunde genommen nur noch der jeweils einzelnen Person gestattet ist, sich im öffentlichen Raum aufzuhalten – und auch dann nur noch unter strengen Auflagen. Ausnahmen von diesem scharfen Grundsatz sind genau festgelegt, können sich allerdings hin und wieder ändern. Trotz dieser einschneidenden Maßnahmen spricht das Regierungslager übergreifend von einer «neuen Normalität», vermeidet jede Anspielung auf den Ausnahmezustand, denn der würde zwingend eine Verschiebung der Präsidentschaftswahlen vom 10. Mai erforderlich machen. Eine solche Verschiebung nun fordert die versammelte Opposition, auch ist laut Umfragen inzwischen eine Mehrheit zwischen 70 und 80 Prozent der Meinung, dass es angesichts der dramatischer werdenden Situation besser wäre, die Wahlen entsprechend zu verschieben.
Als wichtigsten Grund für die geforderte Verschiebung des Wahltermins führt die Opposition die gesundheitliche Gefährdung des Wahlvolks an, die sich dramatisch steigern würde, wenn es am Wahlsonntag in den bislang geschlossenen Schulen und sonstigen öffentlichen Einrichtungen zur Wahlurne gerufen würde. Auch kann sie auf den Ministerpräsidenten und den Gesundheitsminister verweisen, die nicht müde werden, die Bevölkerung darauf einzustellen, dass der Höhepunkt der Epidemie in Polen frühestens im Mai zu erwarten sei.
Kaczyński und seine Getreuen verfielen nun auf einen feinen Trick, den sie sich jüngst am Beispiel der Kommunalwahlen in Bayern abgeschaut hatten. Das Wahlvolk soll nun nicht stehenden Fußes an die Wahlurne kommen, sondern per Briefwahl seine Stimme kundtun. Die aber ist in Polen bislang unüblich, weshalb es umfangreichere Eingriffe in das Wahlrecht bedarf, was also den entschlossenen Politiker auf den Plan rief. Anstelle der Staatlichen Wahlkommission soll nun die polnische Post das Wahl-Kind schaukeln, die 30 Millionen Stimmberechtigten mit den nötigen Unterlagen versorgen und die abgegebenen Stimmen wieder rechtzeitig einholen. Um das Manöver zusätzlich abzusichern, wurde sogar der Postchef abgelöst, auf dessen Stuhl sitzt nun der bisherige stellvertretende Verteidigungsminister. Und alles soll wegen der außergewöhnlichen Situation außerdem unter strenger Kontrolle von Regierungsbehörden erfolgen!
Im Augenblick herrscht der Eindruck, als ob die Entscheidung über den Wahltermin im nationalkonservativen Lager ausschließlich mit Kaczyńskis Haltung steht und fällt. Schon sind erste Risse im einst festgefügten Regierungslager nicht zu übersehen, mit Jarosław Gowin, bislang Hochschul- und Wissenschaftsminister sowie stellvertretender Ministerpräsident, ist bereits ein wichtiger Mann von Bord gegangen, der den konservativen Flügel ohne den sonst üblichen nationalen Eifer zu prägen suchte. Der hatte sich mit Kaczyński überworfen, weil er einen Wahltermin am 10. Mai für illusorisch und ausgeschlossen hielt. Und auch Ministerpräsident Mateusz Morawiecki kann eins und eins zusammenzählen, denn wenn er vor dem Parlament den Höhepunkt der Epidemie weit nach vorne in den Mai, womöglich sogar Juni schiebt, dürfte ihm klar sein, dass allgemeine, unmittelbare, gleiche, geheime und freie Wahlen in diesen Wochen nicht durchzuführen sind.
Vielleicht rächt sich für die Nationalkonservativen jetzt ein politischer Zuschnitt, der in der innenpolitischen Auseinandersetzung unter normalen Bedingungen durchaus Vorteile gebracht hatte. Getrennt waren Entscheidungsmacht, Einfluss und die Verantwortung. An Absolutismus erinnert Kaczyńskis Gebaren, der nominell lediglich Parteivorsitzender und normaler Parlamentsabgeordneter ist. Dennoch lässt er den Ministerpräsidenten unter geschicktem Vorwand regelmäßig zu Besprechungen in seinen Parteisitz einbestellen – ein Vorgang, wie er in Mitgliedsländern der Europäischen Union einzigartig sein dürfte. Und diejenigen, die letztlich vor dem Souverän und laut Verfassung die Verantwortung zu tragen haben, hatten bislang deutlich eingeschränkte Entscheidungsbefugnisse, beschnitten in erster Linie durch Kaczyńskis unheimliche Machtfülle. Jetzt in der Corona-Krise, die das Land vor eine völlig unerwartete Situation stellt, offenbart dieser Zuschnitt mit einem Mal seine ganze Schwäche – die Verantwortung vor dem Souverän und die eigentliche Entscheidungsmacht klaffen weit auseinander.