Die im Zuge der Corona-Krise umgesetzten Schulschließungen haben unzählige Routinen und Strukturen auf den Prüfstand gestellt. Auf einen Schlag wurde der schulische Bildungsauftrag in die Zuständigkeit der Familien verlagert. Deren prägende Sozialisationswirkung ist unbestritten, aber was es heißt, wenn die kleinste soziale Keimzelle zur Lehranstalt wird, in der Eltern und Geschwister in die Rolle von Lehrerinnen und Lehrern schlüpfen, ließ sich bislang allenfalls erahnen. Nun aber wurde in den vergangenen Wochen nicht nur unter dem Brennglas sicht- und spürbar, wie intakte Familien auf das Phänomen der sozialen Verdichtung reagieren. Zugleich wurde deutlich, welchen Beitrag die Schule als Erfahrungs-, Schutz- und Sozialisationsraum für die Gesellschaft leistet. Und schließlich haben die Homeschooling-Wochen einige verallgemeinerungsfähige Erkenntnisse über das hiesige Schulsystem zutage gefördert, die es sich in den Blick zu nehmen lohnt.
Tim Engartner ist Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt a. M. und Direktor der Akademie für Bildungsforschung und Lehrerbildung (ABL).
Unterschiedliches Engagement der Lehrkräfte
Da ist zunächst das sehr unterschiedliche Engagement der Lehrkräfte zu nennen: Während viele von ihnen per Videokonferenz, Lernplattform und Mail trotz mangelhafter digitaler Schulinfrastrukturen mit ihren Schülerinnen und Schülern Kontakt hielten, zogen nicht wenige Lehrerinnen und Lehrer ihre Osterferien vor – und gingen mehr oder weniger auf Tauchstation. Während einige Schulen die technische Benachteiligung finanziell schlechter gestellter Familien dadurch auffingen, dass sie die Unterrichtsmaterialien in Papierform versandten, kamen schulisch begleitete Lernprozesse andernorts vollständig zum Erliegen. Ein Krisenpräventionsprogramm für langfristige Unterrichtsausfälle zu fordern, ginge vermutlich zu weit. Aber die an die Schul-, Bildungs- und Kultusministerien adressierte Forderung nach verpflichtenden, mehrtägigen und entgeltfreien Lehrerfort- und -weiterbildungen in der unterrichtsfreien Zeit liegt nahe. Schließlich steht zu vermuten, dass die Lehrkräfte, die während der Schulschließung keine oder mangelhafte Arbeitsaufträge in Umlauf brachten, auch ihren Präsenzunterricht optimieren könnten. Zwar sollte niemand von Lehrkräften erwarten, dass sie sich zu IT-Expertinnen und -Experten weiterbilden – das ist Aufgabe von durch den Schulträger finanzierten Technikerinnen und Technikern –, aber didaktische, fachliche und pädagogische Weiterqualifikationen sind im Einklang mit dem Konzept des lebenslangen Lernens unabdingbar.
Analoges Chaos statt digitaler Infrastruktur
Dass es Lehrenden und Lernenden in der «Bildungsrepublik» gegenwärtig offenkundig nur dann möglich ist, sich digital zu vernetzen, wenn ein Förderverein, ein Landrat oder eine Schulsenatorin frühzeitig für eine zeitgemäße IT-Infrastruktur eintraten, muss uns in ungläubiges Staunen versetzen. Dass Lehrkräfte keine zeitgemäße Hard- und Software von ihrer Schule gestellt bekommen und die Generation der digital natives auf Lernplattformen aus den frühen Nullerjahren trifft, ist einer Bildungsnation nicht würdig. Warum aber mangelt es im Schulkontext an digitalen Tools zur Kommunikation und Kollaboration? Ein zentraler Grund: Jahrelang haben Bund und Länder um den im vergangenen Jahr verabschiedeten «DigitalPakt Schule» gerungen – und immer noch ist bislang nur ein Bruchteil der rund 5,5 Mrd. Euro bewilligt worden. Nur jede dritte Schule verfügt über WLAN; ähnlich stellt es sich bei schuleigenen Tablets und Smartphones dar. Und gerade einmal jede zweite Schulleitung fühlt sich gut informiert, wenn es darum geht, die Gelder des Digitalpakts abzurufen, denn mal wieder treibt die bundesrepublikanische Bürokratie merkwürdige Blüten. So können die Schulen nicht frei entscheiden, wofür sie das zugewiesene Geld verausgaben. Liegt der beschlossene Förderfokus auf IT-Infrastruktur, darf die Schule zwar Kabel verlegen lassen – nicht aber Tablets kaufen.
Die Zeiten des «Corona-Lernens» dürften das E-Learning beschleunigen. Aber wenn sich die Digitalisierung der Bildungswelten in den kommenden Monaten Bahn bricht, müssen wenigstens drei Aspekte Berücksichtigung finden: Erstens darf die Digitalisierung der jugendlichen Lebenswelten nicht zum Maßstab erklärt werden, denn nicht jeden Lernenden zieht es ins Silicon Valley. Zweitens sollten uns die fehlenden Investitionen in Hard- und Software nicht vergessen lassen, dass die Ausstattungsprobleme der Schulen vor allem in einem vollkommen unzureichenden Personalschlüssel liegen. Und von undichten Dächern, zugigen Fenstern und verschmutzten Toiletten können Schulabgängerinnen und -abgänger noch immer berichten. Drittens muss sich die Kultusministerkonferenz zügig darauf verständigen, mit welchem Regelwerk die Lobbyaktivitäten von Amazon, Apple, Google, Microsoft und Samsung auf dem milliardenschweren «Bildungsmarkt» in Grenzen gehalten werden können.
Fortführung der sozialen Spaltung
Die mit dem Homeschooling verbundene Verlagerung des Lernorts in die Familien verschärft die Abhängigkeit des Lernerfolgs von Bildungsstand und Engagement der Eltern. Qualität und Intensität der familiären Begleitung werden beim Homeschooling umso bedeutsamer, sodass das Lernen zu Hause die ohnehin stark ausgeprägte soziale Ungleichheit in der «Bildungslandschaft» weiter verschärft, wie das am Ostermontag veröffentliche Gutachten der Leopoldina, der Nationalen Akademie der Wissenschaften, noch einmal unterstrichen hat. Längst gilt die «Sommerschmelze» als wissenschaftlich belegt. Demnach schneiden Kinder nach dem Ende der Sommerferien bei Tests durchschnittlich schlechter ab als vor dem Beginn der «großen Pause», wobei das Delta bei Kindern aus bildungsfernen Schichten besonders groß ist, während Akademikerkinder teilweise sogar im «Schul-Off» Kompetenzzuwächse verzeichnen. Der Grund: Je höher das Bildungskapital der Eltern, desto mehr wird im Haushalt gelesen, musiziert, debattiert und gebastelt. Auch nach dem «Corona-Lernen» werden diejenigen Lernenden als schulische Hoffnungsträgerinnen und -träger gelten, die über ihr Elternhaus das entsprechende soziale, ökonomische und kulturelle Kapital vermittelt bekommen. Den Lernerfolg ihrer Kinder fest im Blick, werden sich bildungsnahe Eltern in der Post-Corona-Zeit womöglich noch intensiver um ihre Sprösslinge kümmern, um den (späteren) Erfolg auf dem in die Krise taumelnden Arbeitsmarkt zu sichern. Schon jetzt kulminiert die Überidentifikation mit den schulischen Leistungen der Kinder bei bildungsambitionierten Eltern in der Aussage «Wir schreiben morgen Deutsch», während Schülerinnen und Schüler aus bildungsfernen Familien weder Rückmeldungen zu ihren Hausaufgaben noch hinsichtlich ihrer selbstregulatorischen Fähigkeiten erwarten können. Bei ebenjenen Eltern wird sich der Eindruck verfestigt haben, dass sie ihren Kindern nur bedingt beim Bildungsaufstieg helfen können. Ohne ein entsprechendes Soziologie-Seminar besucht zu haben, wird sich ihr Gespür für die (Re-)Produktion sozialer Ungleichheit durch das bundesrepublikanische Bildungssystem während der Schulschließungen verankert haben. Die Tatsache, dass vielen Schülerinnen und Schülern durch Homeschooling der Zugang zu einer warmen Mahlzeit, zu einem gewaltfreien Lernumfeld und zu vertrauten Kontaktpersonen genommen wurde, sollte endlich Anlass sein, der sozialen Polarisierung durch unser Schulsystem bildungs-, sozial- und steuerpolitisch entgegenzuwirken.