Kommentar | Staat / Demokratie - Westasien - Türkei - Corona-Krise Im Land des ständigen Ausnahmezustandes

In der Türkei trifft die Corona-Pandemie auf ein Regime, das seit Jahren von Krisendynamiken lebt

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Autorin

Nelli Tügel,

Türkei: Durch das neue Amnestiegesetz entlassene Strafgefangene zeigen den faschistischen Gruß der «Grauen Wölfe».
Vor dem Hintergrund der Pandemie brachte die türkische Regierung Mitte April ein Amnestiegesetz durch das Parlament, auf dessen Grundlage 90.000 Häftlinge die Gefängnisse verlassen können – darunter Mörder und Vergewaltiger. Explizit ausgenommen davon sind die politischen Gefangenen: Oppositionelle, Bürgermeister*innen der Linkspartei HDP, Journalist*innen, Anwält*innen, Studierende, Gewerkschafter*innen und viele andere. Türkei: Durch das neue Amnestiegesetz entlassene Strafgefangene zeigen den faschistischen Gruß der «Grauen Wölfe»., Quelle: Erkan Pehlivan, via Twitter

Leugnen, planlos handeln, Oppositionelle verfolgen und die Pandemie machtpolitisch missbrauchen. In diesen vier Schritten lässt sich das Schema zusammenfassen, nach dem in einer Reihe von Staaten, vor allem den autoritär regierten, der Ausbreitung des Corona-Virus begegnet wurde und wird. Die Türkei bewegt sich derzeit «schon» zwischen Schritt drei und vier. Einen Vorgeschmack der Ränkespiele, die innerhalb des Regimes mit der Corona-Krise einhergehen, bot der kurzzeitige Rücktritt von Innenminister Süleyman Soylu. Was war passiert? Am 10. April, am späten Freitagabend, hatte Soylu kurzfristig angekündigt, dass ab Mitternacht in 31 Städten des Landes – also für den Großteil der Bevölkerung – eine 48-stündige Ausgangssperre gelte. Dies geschah ohne vorherige Ankündigung oder Rücksprache, etwa mit den Bürgermeistern der kemalistischen Oppositionspartei CHP, die in Ankara, İzmir und İstanbul regieren. Es folgten Panikkäufe: Hunderttausende Menschen strömten in Supermärkte und zu den Kiosken, um Lebensmittelvorräte anzulegen. Bilder und Videos dicht gedrängter Menschenmassen lassen befürchten, dass sich das Virus dort erst recht ausgebreitet hat.

Nelli Tügel ist Redakteurin bei der Monatszeitung ak. analyse & kritik und freie Journalistin.

Am Ende dieses ersten Wochenendes unter Ausgangssperre verkündete Innenminister Soylu seinen Rücktritt. Er übernahm die volle Verantwortung für die dilettantisch ausgeführte Ausgangssperre und bat Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan um Vergebung.

Dieser aber akzeptierte den Rücktritt nicht – eine Stärkung für Soylus Position, der selbst für AKP-Verhältnisse ein Hardliner ist und dem Ambitionen auf Erdoğans Erbe als Präsident nachgesagt werden. Sein größter Konkurrent ist hierbei der Schwiegersohn des Präsidenten und Finanzminister Berat Albayrak, der nun – nach der Rochade rund um die Ausgangssperre und den nicht vollzogenen Rücktritt Soylus – ins Hintertreffen geraten sein könnte. Während die Opferzahlen der an Covid-19 Verstorbenen in der Türkei schnell steigen, gibt es also bereits erste Corona-Profiteure.

Zu wenige Tests – zu wenige Intensivbetten

Wenige Wochen zuvor noch galt die Türkei, anders als andere Staaten der Region, als Corona-frei. Während viele Oppositionelle wohl zurecht vermuteten, die türkische Regierung leugne schlicht und ergreifend die Ausbreitung und Gefahr der Krankheit, wurde im türkischen Fernsehen ernsthaft darüber debattiert, ob ein «Türken-Gen» vor Corona schütze. Der Ort des ersten, im März bestätigten Corona-Falls in der Türkei wurde noch regierungsamtlich geheim gehalten. Mitte März dann folgte die 180-Grad-Wende: Schulen und Universitäten wurden geschlossen; tausende Mekka-Rückkehrer*innen wurden in eilends freigeräumte Studentenwohnheime unter Quarantäne gestellt. Bald darauf folgten Ausgangssperren für Menschen über 65 Jahren, dann Ausgangsverbote für unter 20-Jährige sowie Mundschutzpflicht in Supermärkten und im öffentlichen Nahverkehr.

Wie überall auf der Welt treffen solche Maßnahmen auch in der Türkei auf eine sozial gespaltene Klassengesellschaft. Die unabhängige linke Gewerkschaft DİSK etwa wies darauf hin, dass die Ausgangsverbote für Menschen, die älter als 65 und jünger als 20 Jahre alt sind, 2,2 Millionen Beschäftigte betreffen, die wesentliche Beiträge zur Ernährung ihrer Familien leisten. DİSK forderte überdies schon früh kostenlose und flächendeckende Corona-Tests für lohnabhängig Beschäftigte. Auch die Türkische Ärztevereinigung TTB fordert, die Zahl der Tests stark zu erhöhen: «Testen, testen, testen: Wir brauchen täglich mindestens 40.000 Tests in der Türkei», sagte ihr Generalsekretär Bülent Nazım Yılmaz am 5. April im Interview mit der «Süddeutschen Zeitung».

Bisher aber wird in der Türkei nur wenig getestet – insgesamt waren es vom 10. März bis zum 16. April nur etwa 500.000 Menschen. Im Vergleich dazu: In Deutschland mit einer fast identischen Bevölkerungszahl waren es Anfang April 100.000 Coronavirus-Tests am Tag. Möglicherweise ist die Zahl der Infizierten also viel höher als bisher bekannt. So oder so ist die Türkei auf dem Weg dahin, eines der am stärksten von der Pandemie betroffenen Länder zu werden. Die Kurve steigt stark an: Mitte April lag die offizielle Zahl der an Corona Erkrankten bei fast 70.000, die Zahl der Toten bei knapp 1.500. Einst hatte die Reform des Gesundheitswesens Mitte der Nullerjahre der regierenden AKP große Unterstützung eingebracht. Im Prinzip wurde damals eine allgemeine Gesundheitsversicherung für alle eingeführt, doch das System wurde nie richtig ausfinanziert und es wurden vor allem nie ausreichende Kapazitäten aufgebaut. Dies könnte sich nun rächen. Bereits am 10. April warnte der TTB, dass in İstanbul die Intensivbetten knapp würden. Neben den staatlichen Krankenhäusern gibt es in der Türkei schon seit jeher für diejenigen, die es sich leisten können, ein System profitorientierter privater Krankenhäuser in den Großstädten, darunter auch «Alman Hastanesi» und «Amerikan Hastanesi», also «deutsche» oder «amerikanische» Privatkliniken und einige große Klinikketten. Im März wurden diese Kliniken im ganzen Land dazu verpflichtet, Corona-Patient*innen kostenlos zu behandeln.

«Türken helfen Türken»

Auch in der Türkei ist oberste Prämisse der Corona-Strategie – nachdem das Leugnen der Anfangsphase aufgegeben wurde – die Krankheit einzudämmen, ohne dabei «die Wirtschaft» allzu sehr zu strapazieren. Sprich: Ohne dabei Profite zu gefährden. Sehr deutlich zeigt sich diese Strategie darin, dass für die wichtigsten Alterskohorten der Lohnabhängigen keine allgemeinen Ausgangssperren verhängt wurden – mit Ausnahme der freien Wochenenden. Denn nach dem ersten Wochenende unter Ausgangssperre, welches zum Rücktritts-Coup des Innenministers geführt hatte, kündigte die Regierung auch für das darauf folgende Wochenende (18./19. April) eine Ausgangssperre an. Bülent Nazım Yılmaz, der Generalsekretär des TTB, forderte hingegen die «Beschränkung jeder gesellschaftlichen Mobilität». In der Wirtschaft müsse «jede unnötige Produktion gestoppt werden», so Yılmaz. Auch von Gewerkschaftsseite kommt der Ruf danach, jede nicht lebensnotwendige Produktion einzustellen.

Neben den Arbeitsplätzen sind die – nach mehreren Wellen der Massenverhaftungen seit dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016 übervollen – Haftanstalten des Landes besonders gefährdete Orte. Vor dem Hintergrund der Pandemie brachte die Regierung Mitte April ein Amnestiegesetz durch das Parlament, auf dessen Grundlage 90.000 Häftlinge die Gefängnisse verlassen können – darunter Mörder und Vergewaltiger. Explizit ausgenommen davon sind die vielen politischen Gefangenen, die das Regime gemacht hat: Oppositionelle, gewählte Bürgermeister*innen der kurdisch-türkischen Linkspartei HDP, Journalist*innen, Anwält*innen, Studierende, Gewerkschafter*innen und viele viele andere. Dieses Vorgehen ist leider wenig überraschend und sorgte für Empörung, auch international. Unter dem Motto: «Save them all» – angelehnt an die Kampagne «Free them all» für die Freilassung der inhaftierten Journalist*innen – machte etwa in Deutschland der Kölner TÜDAY-Menschenrechtsverein Türkei/ Deutschland e.V. auf die Situation der politischen Gefangenen aufmerksam.

Wird nun Corona, wie einige hoffen, zu einer Schwächung der türkischen Regierung führen? Der Politologe Hamit Bozarslan hatte schon 2018 in einem Interview erklärt, dass das Regime sich durch die Schaffung immer neuer Krisen reproduziere und am Leben halte. Zuletzt zeigte sich dies abermals in der militärischen Zuspitzung im syrischen Idlib Ende Februar und der vorsätzlich herbeigeführten (und durch die EU-Weigerung, die Grenzen zu öffnen, ermöglichten) Eskalation an der türkisch-griechischen Grenze. Max Zirngast sprach im Juni 2019 angesichts der vielen Wahlen, Neuwahlen und Abstimmungen der vergangenen Jahre von einem Modus des permanenten, als ständige Entscheidungssituation inszenierten Wahlkampfes, den er als Ausdruck einer tiefen Hegemoniekrise beschrieb. Seit den Gezi-Protesten 2013, spätestens aber seit den Wahlen vom Juni 2015, als die Linkspartei HDP erstmals ins Parlament einzog und die AKP ihre absolute Mehrheit einbüßte, ist das Land quasi im ständigen Eskalations- und Ausnahmezustand. Das Ende des Friedensprozesses mit der PKK, Neuwahlen, die brachiale Einführung des Präsidialsystems, Kriege, Massenentlassungen im Öffentlichen Dienst und Massenverhaftungen nach dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016, die extreme Unterdrückung der HDP und ihrer gewählten Abgeordneten sowie Bürgermeister*innen: all das griff in den vergangenen fünf Jahren in einander und formte eine Regierungspolitik, die immer mehr Macht in den Händen des Präsidenten konzentrierte und die Gewaltenteilung effektiv aufhob. Oft ist das Regime Erdoğans gestärkt aus den hausgemachten und vorsätzlich aufgepeitschten Katastrophenszenarien hervorgegangen.

Und auch jetzt versucht die Regierung, ihre Basis durch nationalistische Gefühle zu mobilisieren: Unter dem Motto «Biz Bize Yeteriz Türkiyem» («Wir reichen uns selbst/ helfen uns selbst, meine Türkei») begann die Regierung Ende März eine staatliche Spendenkampagne, um den Haushalt für die Herausforderungen der Corona-Pandemie aufzustocken. Bis Mitte April sind 1,7 Milliarden Türkische Lira (226 Millionen Euro) eingegangen. Zu den Großspendern gehören u.a. Banken und Unternehmen. Aber auch durch SMS-Klein-Spenden von Bürger*innen kamen rund 7,5 Millionen Euro zusammen. Zumindest kurzfristig konnte durchaus effektiv ein der Regierung nützlicher Nationalismus («Türken helfen Türken») belebt werden.

In etlichen Staaten der Welt wenden sich angesichts der Krise viele Menschen ihren jeweiligen Regierungen zu, ganz gleich, ob das Corona-Management gut läuft oder nicht, beispielhaft hierfür sind die Vereinigten Staaten. Es wird sich zeigen, ob es dem AKP-Regime in der Türkei gelingt, sich seinen Anhänger*innen erneut als zupackendes Krisenmanagement zu präsentieren und die Verantwortung für Nichtfunktionierendes auf Sündenböcke abzuwälzen.