Das neue Buch über die Familie Rosa Luxemburgs sollte ursprünglich auf der Leipziger Buchmesse 2020 erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Der Anlass sollte zudem genutzt werden, um an den frevelhaften Akt vom 13. März 2018 zu erinnern, bei dem auf Anweisung durch die Regierungsseite in einer Nacht- und Nebelaktion die Gedenktafel für Rosa Luxemburg in ihrer Geburtsstadt Zamość entfernt worden war. Der verstörende Vorgang wurde zum Ausgangspunkt für eine Spurensuche, mit der die beiden Herausgeber, Krzysztof Pilawski und Holger Politt, der Familiengeschichte Rosa Luxemburgs nachgingen.
Im Mittelpunkt des Interesses der Herausgeber stand also nicht Rosa Luxemburg selbst, sondern eine jüdische Familie in Polen, die allerdings nur deshalb ins Licht der Öffentlichkeit zurückgeholt wurde, weil Rosa Luxemburg überhaupt zu den bekanntesten Persönlichkeiten der Zeitgeschichte zählt. Das Buch besteht ungefähr zu gleichen Teilen aus Dokumenten, Fotographien und Abbildungen, die mit einem begleitenden Text der Herausgeber die ersten schärferen Umrisse einer Familienbiographie ergeben. Da das Buch derzeit nicht in öffentlichen Veranstaltungen vorgestellt werden kann, wurden die beiden Herausgeber gebeten, an dieser Stelle zu einigen Fragen Stellung zu beziehen.
Krzysztof Pilawski ist Publizist und veröffentlicht unter anderem zur polnischen Linken und zu geschichtspolitischen Strategien der Nationalkonservativen.
Holger Politt leitet das Regionalbüro Ostmitteleuropa der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau.
Zamość oder Warschau? Was sollte als Rosa Luxemburgs Heimatstadt bezeichnet werden?
Krzysztof Pilawski: Wohl Warschau. Rosa Luxemburg wird Zamość später nur vom Hörensagen kennen, nicht aus eigenem bewussten Erleben. Am ehesten wird wohl die ältere Schwester Anna mit Rosa Luxemburg in Warschau und später in Berlin oder Kolberg bei einem Kuraufenthalt über den Geburtsort der beiden gesprochen haben. In den bislang veröffentlichten Briefen Rosa Luxemburgs gibt es allerdings keine Stelle, die darauf hinweisen würde. Auch Mikołaj, der älteste der Geschwister von Rosa Luxemburg, könnte bei Gelegenheit gemeinsamer Treffen immer mal wieder auf Zamość zu sprechen gekommen sein. Familiengeschichtlich war Zamość eine wichtige Lebensetappe, die allerdings abgeschlossen war, als Rosa Luxemburg heranwuchs. Rosa Luxemburgs Großvater väterlicherseits, Abraham, war 1829 nach Zamość gezogen, nachdem er dort die Tochter eines bekannten ortsansässigen Händlers geheiratet hatte. Er blieb aber immer eng mit Warschau verbunden. Auch die Zukunft seiner Söhne verband Abraham in erster Linie immer mit dem aufstrebenden Warschau, nicht mit Zamość. Dass Rosa Luxemburgs Vater Edward, Abrahams ältester Sohn, dann am längsten in Zamość zurückblieb und ausharrte, ist einem Zufall zuzuschreiben, auf dessen Umstände im Buch näher eingegangen wird. Als Edward schließlich Ende Oktober 1872 nach einer Perspektive für die siebenköpfige Familie in Warschau zu suchen begann, wurde sein Hotel-Aufenthalt sogar in einem führenden Warschauer Blatt vermeldet. Auf einen kurzen Nenner gebracht vielleicht so: Zamość die Geburtsstadt und Warschau ganz sicher die Heimatstadt, auch wenn sie später in Berlin zu Hause sein wird.
Holger Politt: Für Warschau spricht zudem die enorme Bedeutung, die die Revolution 1905/06 für das politische und überhaupt Lebenswerk Rosa Luxemburgs besessen hatte. Warschau war nach Ausbruch der Revolution im Januar 1905 von Anfang an eines der Zentren der revolutionären Auseinandersetzungen im Zarenreich, vor allem aber derjenigen Ereignisse, die als Arbeiterrevolution gelten können. Nie wieder erlebte Rosa Luxemburg einen solchen politischen Höhepunkt, hatte sie doch seit 1893 den Ausbruch einer politischen Revolution im Russischen Reich für unabdingbar gehalten. Außerdem war sie überzeugt, dass der jahrhundertealte Fluch der Zarenherrschaft unter den Schlägen der Arbeiterrevolution endgültig bezwungen werden kann. Den Sieg vor Augen, hielt es Rosa Luxemburg trotz aller eindringlicher Warnungen nicht mehr in Berlin aus, sie fuhr Ende 1905 auf illegalen Wegen ins revolutionsschwangere Warschau, um an Ort und Stelle dabei zu sein, wenn dem Zarensystem ein letzter, entscheidender Stoß versetzt wird. Im März 1906 wurde sie festgenommen, die Zarenpolizei war durch Verrat auf die entscheidende Spur gekommen. Nach der Freilassung aus dem Zarengefängnis schrieb sie hier in Warschau im Juli 1906 die trotzigen, stolzen Worte: «Die Revolution ist großartig, alles andere ist Quark.»
Was erinnert im heutigen Warschau noch an Rosa Luxemburg?
Krzysztof Pilawski: In erster Linie würde ich das Gefängnisgebäude für politische Gefangene im X. Pavillon der Zitadelle nennen, in dem Rosa Luxemburg 1906 ein Vierteljahr lang inhaftiert war. Der einstige Gefängnistrakt ist heute als Erinnerungsstätte ein gutgemachtes Museum. Zum Museumsbestand gehört, nebenbei gesagt, eine größere Skulptur Rosa Luxemburgs, auch ist die Alternative «Sozialismus oder Barbarei» an einer Wand verewigt. Aber zurück zur Frage: Vor allem sollte der Jüdische Friedhof erwähnt werden, der als Teil des Warschauer Ghettos die Schrecken der Okkupation wie durch ein Wunder überstanden hat. An den Gräbern der beiden Eltern dürfte Rosa Luxemburg in den letzten Dezembertagen 1905 oder dann 1906 gestanden haben, solange sie in Warschau auf freiem Fuß war. Überhaupt ist der Jüdische Friedhof ein überaus geeigneter Ort, um den Geheimnissen der Familiengeschichte auf die Spur zu kommen.
Holger Politt: Die Antwort darauf ist gar nicht so einfach, denn natürlich ist das Warschau von damals unwiederbringlich entschwunden. Dennoch kann der Interessierte vielfach Orte aufsuchen, die für den heranwachsenden Menschen größere Bedeutung gehabt hatten. Eine Aufzählung wäre übrigens gar nicht so kurz, auch wenn natürlich jene Gebäude, die Rosa Luxemburg und ihre Familienangehörigen ihr zu Hause genannt hatten, die Stürme der Zeit in den allermeisten Fällen nicht überstanden haben. Aber den Sächsischen Park, der für Rosa Luxemburgs Kindheit und Jugendzeit eine große Rolle gespielt hat, gibt es immer noch. So auch den Botanische Garten am Łazienki-Park. Oder, um ein Beispiel ganz anderer Art zu nehmen, der 40 Meter hohe Wasserturm, das weithin sichtbare Wahrzeichen der Filteranlagen für die moderne Wasserversorgung der immer größer werdenden Stadt. Die noch heute bestehende und betriebene Anlage wurde eingeweiht, als Rosa Luxemburg die höheren Schulklassen besuchte. Und schließlich sei auch an das Herbarium erinnert, Rosa Luxemburgs wunderbare und gut erhaltene Pflanzensammlung, «Rosas Garten» gewissermaßen, als welchen ein Rezensent die vorbildlich geführten Blätter in den kleinen, blauen Schulheften einst so überaus treffend bezeichnet hat. Das Original liegt in Warschau im Staatlichen Archiv Neue Akten (AAN) und ist ein besonderes Schmuckstück der Erinnerung an Rosa Luxemburg, auch deshalb, weil fest davon auszugehen ist, dass sie bereits in Warschau in ihrer Schuljugend in solch akribischen Dingen sich eifrig erprobt hatte.
Wird im Buch «Spurensuche» nicht zugleich deutlich, wie abgeschottet Rosa Luxemburg vom alltäglichen Leben des Industrieproletariats aufgewachsen war?
Krzysztof Pilawski: Feliks Tych, der namhafte polnische Historiker der Arbeiterbewegung, hatte einmal umgekehrt geschlossen: Die spätere schnelle und vor allem konsequente Hinwendung zum Arbeiterkampf, zum Sozialismus sei nur erklärlich, wenn bereits frühere Weichenstellungen in der Jugendzeit vorausgesetzt werden. Die führte Tych auf eine angeborene Empfindsamkeit in sozialen Fragen, auf ein ausgeprägtes Gespür für soziale Ungerechtigkeiten und zu überwindende politische Machtverhältnisse zurück. Tych meinte, der Verweis auf das Familienmilieu, auf die offene geistige Atmosphäre daheim, gebe dafür alleine keine ausreichende Erklärung. Rosa Luxemburg kannte von der Familienseite her den jungen, stürmischen, vorwärtsdrängenden und höchst widersprüchlichen Industriekapitalismus in ihrer Heimat, in dem Arbeiterkämpfe bereits eine zunehmende und nicht mehr zu übersehende Rolle spielten. Das Elternhaus selbst gehörte nicht zu der wohlhabenden, den materiellen Alltagssorgen enthobenen Schicht, aber in der nächsten Familie sah das schon ganz anders aus. Rosa Luxemburg nahm zu Hause aber auf jeden Fall einen aufrichtigen Freiheitsimpuls auf, der an die besten Traditionen des aufgeklärten Bürgertums erinnerte, in denen Chancengleichheit und Bildung eine herausragende Rolle spielten. Sie bezog in ihr Freiheitsverständnis, als dieses reifte und sich entwickelte, den fortschrittlichen Arbeiterkampf, den modernen Sozialismus nicht nur ein, sondern diese Elemente des sozialen und politischen Kampfes wurden ihr zur Voraussetzung für den Freiheitskampf schlechthin.
Hat die «Spurensuche» die Sicht der Herausgeber auf Rosa Luxemburg beeinflusst?
Krzysztof Pilawski: Ich bin natürlich stärker von der polnischen Sichtweise auf Werk und Leben Rosa Luxemburgs geprägt gewesen. Da wird gerne alles der polnischen Frage untergeordnet, also auf den allerdings auch in Polen kaum bekannten polnischen Teil verwiesen. Die heutige herausragende Weltgeltung aber wird voreilig und unüberlegt allein der deutschen Seite zugeordnet. Es erscheint dann mitunter so, als sei sie aus Polen nicht nur weggegangen, sondern habe sich schließlich auch selbst «ausgebürgert». Die Geschichte der engen und engsten Familienangehörigen Rosa Luxemburgs wirft aber ein ganz anderes Licht, zeichnet ein anderes Gewicht in dieser gar nicht so einfachen Frage. Plötzlich wird ja deutlich, mit wieviel Fasern Rosa Luxemburg an diese Familie gebunden war, ein Faden, der niemals ganz gerissen ist. Und wieviel Voraussetzungen für die beeindruckende Karriere als brillanter Kopf im europäischen Marxismus wurden hier mitgegeben! Die im Buch nachgespürten Teile der Familiengeschichte selbst sind ja zugleich ein scharfes Spiegelbild der polnischen Geschichte bis hinein in den Zweiten Weltkrieg. Eine Rosa Luxemburg ohne angemessene Berücksichtigung des polnischen bzw. des jüdischen Kontextes in Polen ist eigentlich gar nicht vorstellbar!
Holger Politt: Ich kannte den polnischen Teil Rosa Luxemburgs, der immerhin fast ein Drittel des Gesamtwerkes ausmacht, bereits ganz gut. Nachweislich hat sie mindestens bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs polnische Texte geschrieben. Das ist eine Menge Holz. Aber mir ist plötzlich etwas aufgefallen, das stärker mit dieser Familiengeschichte zusammenhängt, die ja an allen Ecken und Kanten unweigerlich festgezurrt war an der polnischen Frage und an der jüdischen Frage in Polen. Rosa Luxemburg hatte in ihren Schriften den Stellenwert der nationalen und Nationalitätenfragen heruntergedrückt oder später in einem anderen Kontext aufzuheben versucht. Daraus konnte schnell der Vorwurf gestrickt werden, der immer in die Richtung zielte, dass sie sich in diesen Fragen eben geirrt habe. Vielleicht wird aber umgekehrt ein Schuh draus: Wer im ausgehenden 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts über die beiden Fragen nachdachte, stocherte im Grunde im dicken Nebel, fuhr, wie es jetzt in einem ganz anderen Zusammenhang oftmals bildlich heißt, nur «auf Sicht». Rosa Luxemburg hatte in ihrem Werk bis zur Revolution 1905/06 diesbezüglich ein festgefügtes Navigationssystem, das ihr erlaubte – um in dem Bild zu bleiben – vergleichsweise schnell unterwegs zu sein, auch wenn sie höchst vorsichtig blieb und um die Untiefen wusste. Die schicksalsschwere Niederlage der Revolution erwies sich als Klippe, an dem dieses Navigationssystem in die Brüche ging. In ihrer großartigen Arbeit «Nationalitätenfrage und Autonomie» (1908/09) versuchte sie mit aller zur Verfügung stehenden Meisterschaft, dasselbe wieder schnell flottzukriegen, um auch in diesen Fragen wieder Fahrt aufnehmen zu können. Den Ausgang kennen wir.