Kirgisistan ist nach Kasachstan das zweite zentralasiatische Land, in dem Menschen an der Coronavirus-Infektion COVID-19 erkrankten. Über erste Fälle wurde am 18. März berichtet. Dabei wurde das Virus im Süden des Landes bei drei Männern diagnostiziert, die eine Woche zuvor von einer Reise nach Saudi-Arabien zurückgekehrt waren, wo sie die kleine Pilgerfahrt (Omrah) vollzogen hatten. Bis heute sind die meisten Erkrankten Pilger*innen sowie deren Verwandte und Kontaktpersonen. 95 Prozent der Erkrankungsfälle betreffen diese Personengruppe.
Yulia Kalinichenko ist als Projektmanagerin des Regionalbüros der Rosa-Luxemburg-Stiftung Zentralasien tätig. Sie stammt aus Bischkek, Kirgisistan, und studierte Internationale Beziehungen und Europastudien.
Die schnelle Verbreitung des Virus im Süden des Landes ist kein Zufall, denn viele Pilger*innen, die aus Saudi-Arabien zurückkamen, veranstalteten gleich nach ihrer Rückkehr sogenannte Adschy-tojs – traditionelle Feiern zum Anlass der Rückkehr eine*r Pilger*in aus dem Haddsch beziehungsweise der Omrah, zu denen viele Gäste geladen werden. So wurde in den Medien berichtet, dass einer der ersten Erkrankten in seinem Dorf 150 Gäste versammelt hätte. Wieso der von der Regierung im Januar eingerichtete Corona-Krisenstab und die Geistliche Führung der Muslime Kirgisistans die Isolation der aus der Omrah zurückgekehrten Bürger*innen nicht ernst genommen haben, bleibt ein Rätsel, denn die massenhaften Infektionsfälle in Saudi-Arabien wurden schon Ende Februar bekannt.
Die im ganzen Land täglich wachsende Anzahl der Infizierten hat zu einer regen gesellschaftlichen Debatte darüber geführt, ob die Namen und Adressen der an Coronavirus Infizierten veröffentlicht werden sollten, damit die Bürger*innen nachvollziehen können, ob sie Kontakte zu ihnen hatten – oder ob diese Maßnahme einen zu starken Eingriff in das Recht der Erkrankten auf den Schutz ihrer personenbezogenen Daten darstellen würde. Eine Umfrage durch eine der größten Nachrichtenagenturen Kirgisistans zeigte, dass ein Großteil ihrer Leser*innen, also 52 Prozent der Befragten (3.134 Personen), die Veröffentlichung der Daten befürwortete.
Als die ersten Infektionsfälle auftraten, erklärte die Regierung ohne eine weitere Verschlechterung der epidemiologischen Situation abzuwarten am 22. März den Notstand und am 25. März den Ausnahmezustand. In diesem Rahmen wurde das Recht der Bürger*innen auf Bewegungs- und Reisefreiheit eingeschränkt und die Arbeit aller Organisationen verboten, die nicht an der lebensnotwendigen Versorgung der Bevölkerung beteiligt sind. Zudem wurde eine Ausgangssperre verhängt. Diese Maßnahmen galten in erster Linie dem Schutz der Gesundheit der Bürger*innen durch soziale Distanzierung, denn wie die Erfahrungen anderer Länder gezeigt haben, spielt diese eine Schlüsselrolle beim Eindämmen der Infektionsausbreitung. Zugleich verschärften die gewählten Maßnahmen die ohnehin verbreitete wirtschaftliche Verwundbarkeit der Bevölkerung und führten auch zu Eingriffen in von der Verfassung garantierte Rechte, die in keinem direkten Zusammenhang mit der Verbreitung des Virus stehen.
Die flächendeckenden harten Beschränkungen der wirtschaftlichen Aktivitäten haben tausenden von Bürger*innen die Existenzgrundlage genommen. Die Dienstleistungsbranche und der Handel mussten ihre Arbeit so gut wie vollständig einstellen – alle Gastronomiebetriebe, Hotels, Schönheitssalons, Reisebüros, Unterhaltungsdienstleister, Anbieter von Waren, die nicht dem Lebensmittelsortiment zugerechnet werden, und viele weitere Betriebe mussten schließen. Besonders hart traf es die Solo-Selbständigen und diejenigen, die auf Stundenbasis oder im informellen Sektor arbeiten – Taxifahrer*innen, Fachleute, die diverse Dienstleistungen im Bereich Renovierung und Bau anbieten, unqualifizierte Hilfsarbeiter*innen. Laut Schätzungen des Ministeriums für Sozialschutz der Kirgisischen Republik könnten wegen der Coronavirus-Pandemie bis zu 1,8 Millionen Menschen ihre Arbeitsplätze verlieren, also über 75 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung Kirgisistans. Die ungünstige wirtschaftliche Lage, das Fehlen wirksamer Rettungsmaßnahmen und die Tatsache, dass auf manche Probleme jegliche Reaktion der Regierung ausbleibt, lassen die Unzufriedenheit der Bürger*innen hochkochen. Jede neue Sicherheitsmaßnahme oder Einschränkung wird mit einer Flut an negativen Rückmeldungen quittiert, nicht zuletzt im Internet.
Während die Regierung die möglichen Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung und der Wirtschaft noch erörtert, schließen sich die Menschen in Kirgisistan auf eigene Initiative zusammen und helfen zielgerichtet den Verwundbarsten: Familien mit geringem Einkommen, alleinstehenden älteren Menschen und Menschen mit Behinderung, Mediziner*innen in den Provinzen und Polizist*innen, also denjenigen, die unter den Bedingungen des Ausnahmezustandes für Sicherheit sorgen. So initiierten Ende März zwei Bischkeker, Urmat Nassykulow und Eldar Schabdanow, die ehrenamtliche Organisation «Biz Barbyz», was auf Kirgisisch «Wir sind da» bedeutet. In einer knappen Woche schlossen sich hunderte engagierte Bürger*innen an, die von der Initiative über soziale Netzwerke und Messengerdienste erfahren hatten. Heute engagieren sich im Verein etwa tausend Personen aus unterschiedlichen Regionen des Landes und ihre Anzahl wächst von Tag zu Tag. Die Tätigkeit des sogenannten Volksstabs wird aus privaten und Unternehmensspenden finanziert. Die Arbeit des Stabs wird online über einen Telegram-Kanal koordiniert, wo auch täglich Berichte über die geleistete Arbeit und die ausgegebenen Mittel veröffentlicht werden. Freiwillige stellen täglich Bedürftigenlisten zusammen und bringen den Empfänger*innen warmes Essen, Schutzmittel und Lebensmittelpakete nach Hause.
Hilfe kommt auch aus dem Ausland. Kirgis*innen, die im ferneren Ausland leben, verfolgen nicht nur die Situation in ihrer Heimat, sondern finden auch Möglichkeiten, aus der Entfernung Hilfe zu leisten. Auf mehreren Crowdfunding-Plattformen werden Mittel gesammelt. Eine der Initiativen hat bereits circa 24.000 Euro für zusätzliche Hilfen für das medizinische Personal gesammelt.
In einer schwierigen Lage befinden sich diejenigen kirgisischen Bürger*innen, die es nicht geschafft haben, vor der Grenzschließung in ihr Land zurückzukehren. Es handelt sich dabei vor allem um Arbeitsmigrant*innen, die in verschiedenen russischen Städten festsitzen und jetzt keine Möglichkeit haben, selbständig in die Heimat zu reisen - alle Flüge wurden abgesagt und die Grenzen sind geschlossen. Dabei sind ihre Erwerbsmöglichkeiten in der Russischen Föderation weggefallen, denn dort wurde der Zeitraum bis Ende April als arbeitsfrei deklariert. Zwar besteht die Regierung der Russischen Föderation darauf, dass die Beschäftigten weiterhin ihren Lohn erhalten, doch die Arbeitgeber suchen Wege, diese Forderung zu umgehen, vor allem weil die Einnahmen der Betriebe ebenfalls stark zurückgegangen sind und sie deutlich weniger Ressourcen zur Verfügung haben, um Lohnfortzahlungen an Beschäftigte zu gewährleisten. Auf die flehentlichen Bitten der Arbeitsmigrant*innen um Hilfe reagiert die Regierung Kirgisistans schulterzuckend: Im Moment sei es unmöglich, die Mitbürger*innen ins Land zurückzuholen. Dabei wird die Lage von Tag zu Tag problematischer: Die Bedingungen des zeitweisen Aufenthaltes, die die Regierung oder die Bürger*innen selbst absichern könnten, sind ungünstig; einige Betroffene leiden unter ernsthaften gesundheitlichen Problemen.
Die Beschränkung der persönlichen Bewegungsfreiheit und für Transportmittel haben die vollwertige Arbeit der Medien unmöglich gemacht. Außerdem bekommen Journalist*innen der nichtstaatlichen Medien keine Akkreditierung für die täglichen Briefings des Kommandanten der Hauptstadt Bischkek. Die Verweigerung der Akkreditierung wird von offizieller Seite mit der Sorge um die Gesundheit und Sicherheit der Medienvertreter*innen begründet; außerdem wird behauptet, die Journalist*innen könnten ja alle Informationen den Online-Briefings entnehmen. Dennoch bleibt die Kommunikation zwischen den Medien und den Vertreter*innen der Kommandantur und anderer staatlicher Strukturen äußerst ineffizient: Den Journalist*innen fehlt die Gelegenheit, kurzfristig Antworten auf die Fragen zu bekommen, die die Bevölkerung beschäftigen. Außerdem haben nur die staatlichen Medien die Möglichkeit, ihrer Tätigkeit in vollem Umfang nachzugehen, also in medizinischen Einrichtungen zu filmen, Interviews durchzuführen usw. [S. 2] Das Verbot wird damit begründet, dass die journalistische Arbeit nicht auf der Liste der während der Ausgangssperre erlaubten Tätigkeiten steht. Die staatlichen Medien sind jedoch von dieser Regelung nicht betroffen. Unter diesen Bedingungen sind die Medien nicht in der Lage, ihrer Pflicht nachzukommen, gesellschaftlich relevante Informationen darzustellen; dadurch werden die Rechte der Bürger auf Meinungs- und Informationsfreiheit verletzt.
Neben den Journalist*innen sehen sich auch Menschenrechtler*innen und Anwält*innen mit Schwierigkeiten konfrontiert. Ihr Recht auf Bewegungsfreiheit ist weiterhin nicht garantiert, was ihre Klient*innen während des Ausnahmezustandes in Gefahr bringt.
Eines der Themen, die die Gesellschaft zurzeit besonders beschäftigen, ist die alarmierend hohe Infektionsrate unter Mediziner*innen: Von den aktuell 466 bestätigten Infektionsfällen kommen 103 auf Mediziner *innen, wobei die ersten Infektionsfälle unter ihnen erst am 7. April bekannt wurden. Natürlich beunruhigt diese Statistik die Menschen, denn wenn die Erkrankungshäufigkeit unter den Ärzt*innen nicht zurückgeht, wird niemand da sein, um die einfachen Bürger*innen zu behandeln.
Auch die Ärzt*innen selbst schlagen überall im Land Alarm. In den sozialen Medien machen Mediziner*innen darauf aufmerksam, dass es ihnen an individuellen Schutzmitteln fehlt und dass die durch den Staat bereitgestellten Schutzmittel oft nicht den nötigen Sicherheits- und Qualitätsstandards entsprechen. Vertreter*innen der Regierung dementieren solche Informationen vehement und beschuldigen ihrerseits die Ärzt*innen der Fahrlässigkeit im Dienst und der Verbreitung von Falschmeldungen. Solche Erklärungen verstärken nur das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber den Behörden – denn der Ressourcenmangel im Gesundheitswesen ist eine allgemein bekannte Tatsache und keine Folge der Verbreitung von COVID-19.
Bischkek, 15.4.2020