Nachricht | Erinnerungspolitik / Antifaschismus - Deutsche / Europäische Geschichte - Osteuropa - Umkämpftes Erinnern im Osten - 8. Mai 1945 Gedanken zum 8. Mai aus Warschau

Ein Kommentar von Holger Politt

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Holger Politt,

 Gedenkstein für die Aufständischen im Warschauer Ghetto, Foto: Holger Politt.
Gedenkstein für die Aufständischen im Warschauer Ghetto Foto: Holger Politt

Der 8. Mai 1945 steht in Polen schon länger im Schatten anderer denkwürdiger Ereignisse im Zweiten Weltkrieg. Gleich der Beginn des Weltenbrands im September 1939 prägte die Wahrnehmung in Polen in einer Weise, wie sie ansonsten kein anderes Land auch nur annähernd erlebt hat. Am 1. September überfiel die deutsche Wehrmacht das Land vom Westen, Süden und Norden, machte mit der Überlegenheit der Waffen schnellen Geländegewinn, so dass bereits frühzeitig feststand, wer als militärischer Sieger aus dem ungleichen Kampf hervorgehen wird. Noch bevor Warschau fiel, rückte am 17. September von Osten her die Rote Armee in das Land und annektierte vor allem jene Gebiete, in denen Ukrainer und Belorussen siedelten und vielerorts die Mehrheitsbevölkerung stellten.

Holger Politt leitet das Regionalbüro Ostmitteleuropa der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau.

Die später nachgeschobene Begründung, der Einmarsch habe der Befreiung dieser beiden Bevölkerungsgruppen gegolten, war von Anfang an schief, was auch der unfassbare Mord an den auf dem annektierten polnischen Territorium festgesetzten Reserveoffizieren der polnischen Armee im Frühjahr 1940 beweist. Den Ärzten, Juristen, Lehrern, Ingenieuren – die die Ermordeten in ihren zivilen Berufen meistens waren – konnte aus Moskauer Sicht vielleicht allerlei vorgeworfen werden, nicht aber, dass sie hochgefährliche Militärspezialisten seien und Belorussen und Ukrainern unterdrückt hätten. Der Mord in Katyn ist zudem ein Beweis, dass Moskau mit einem Überfall Deutschlands zu dieser Zeit gar nicht rechnete.

Kein anderes Land im sowjetischen Machtbereich hatte nach 1945 eine solch zugespitzte schizophrene Situation auszuhalten, denn jeder in Polen wusste natürlich, wer die Täter von Katyn gewesen waren, auch wenn entsprechend den geltenden Regelungen im gegenseitigen Umgang in Warschau bis in die allerletzten Jahre der VR Polen nichts mitgeteilt werden konnte, was der offiziellen Haltung der Sowjetunion widersprach. Die Lösung bestand oftmals darin, die Sache mit Schweigen zu übergehen, um wenigstens nichts Falsches behaupten zu müssen, d. h., die Deutschen als Täter zu bezeichnen. Wichtig in diesem Zusammenhang ist außerdem, dass die polnischen Armeestreitkräfte, die an der Seite der Roten Armee Ende April 1945 bis nach Berlin vorgedrungen waren, anschließend zu einer wichtigen Machtsäule in der VR Polen aufstiegen, also in besonderer Weise dem schändlichen politischen Spiel um Katyn ausgesetzt waren und mitmachten. Nach 1989/90 wurde dafür kein geringer Preis bezahlt.

Eine Umfrage im Lande, was aus heutiger Sicht das wichtigste Ereignis im Zweiten Weltkrieg gewesen sei, hätte eine klare Antwort: der am 1. August 1944 ausgebrochene Warschauer Aufstand. Das militärische Ziel der in London sitzenden polnischen Exilregierung war es, mit einem siegreichen Aufstand die Hauptstadt vor dem Eintreffen der Roten Armee aus eigenen Kräften von deutscher Okkupation zu befreien, um diesen Faustpfand im politischen Poker der Großmächte in der Anti-Hitler-Koalition um die zukünftige Gestaltung Europas einzubringen. Obwohl die britische Regierung ihren engen Verbündeten rechtzeitig und eindringlich vor einem solch riskanten Schritt gewarnt hatte, wurde der selbstmörderische Waffengang leichtfertig losgetreten. Er kostete auf polnischer Seite knapp 200.000 Menschenleben, darunter wohl 180.000 Opfer unter der Warschauer Zivilbevölkerung, die nicht unmittelbar an den Waffenhandlungen beteiligt gewesen waren. Die schlimme militärische Niederlage, die für Warschau einer Katastrophe glich, war gleichbedeutend mit der politischen Niederlage des Londoner Exillagers, das für die Entscheidungen über die Nachkriegssituation dramatisch an Bedeutungen verlor.

Zu einem massiven Vorwurf hat sich in den zurückliegenden Jahrzehnten die Meinung verfestigt, Stalin habe die Rote Armee mit Absicht am rechten Weichselufer zurückgehalten, um den politischen Gegner auf polnischer Seite verbluten zu lassen – er habe also, zugespitzt formuliert, das kämpfende Warschau absichtsvoll ans deutsche Messer geliefert. Dass der Aufstand militärisch zwar gegen die deutschen Besatzer gerichtet war, politisch aber auf die aus dem Osten anrückende Rote Armee zielte, wird von niemandem bestritten. Was immer die Beweggründe des Sowjetführers bezüglich des aufständischen Warschaus gewesen sein mögen, klar ist allemal, dass kein Aufstandsführer in den eigenen Plänen mit einem Eingreifen der Roten Armee gerechnet hatte. Kalkuliert wurde allein mit der Drohkulisse der heranrückenden roten Panzerwalze, die für die Deutschen ein klares Signal gewesen sein sollte, sich im Sommer 1944 von der Weichsel und aus der polnischen Hauptstadt zurückzuziehen. Eine schicksalsschwere Fehlrechnung, wie sich schnell herausstellen sollte.

Insgeheim rechnete man in London in den polnischen Exilkreisen mit einer Wiederholung der Situation an der Ostfront ausgangs des Ersten Weltkriegs. Beide kämpfende Seiten verloren damals, Russland auf der einen, Deutschland und Österreich-Ungarn auf der anderen Seite. So wie damals die unabhängige Republik Polen auf den Trümmern der Wiener Dreiteilung von 1815 errichtet werden konnte, so sollte nun diese Republik, die im September 1939 durch die Schläge der deutschen und sowjetischen Truppen zerschlagen worden war, wieder auferstehen. Dieser Analogieschluss hatte auf der Seite des Londoner Exil-Lagers immer eine größere Rolle gespielt, es war indes eine Überzeugung, die niemand sonst auf westlicher Seite teilte.

Während der Aufstand in Warschau 1944 auf tragische Weise gegen die aus dem Osten heranrückende Rote Armee gerichtet war, hätten die Aufständischen im Warschauer Ghetto im Frühjahr 1943 das letzte Hemd gegeben für die Nachricht, die Sowjetarmee rücke bereits auf das gegenüberliegende Ufer der Weichsel zu. Zu jener Zeit hatten die Rotarmisten mit einem unbeschreiblichen Blutzoll an der fernen Wolga in Stalingrad soeben die entscheidende Wende im Zweiten Weltkrieg herbeigeführt. Vielen im Ghetto war spätestens jetzt klar, dass der verhasste Feind besiegt werden, den Krieg nicht mehr gewinnen wird. Der Aufstand, der am 19. April ausbrach, als die deutschen Besatzer mit militärischer Gewalt das übriggebliebene Ghetto zu räumen versuchten, in dem von einst 500.000 noch schätzungsweise 60.000 Menschen hausten, war ein Verzweiflungsakt und von vornherein ohne jede Aussicht auf Erfolg. Mit diesem heroischen Akt vor allem junger Frauen und Männer schrieb sich das jüdische Warschau unauslöschlich ein in das mit blutigen Lettern geschriebene Buch der Befreiung Europas vom Faschismus.

Wenn heutige nationalkonservative Geschichtspolitik in Polen den Menschen einzureden versucht, das Land sei 1945 nicht aus größter Bedrohung und Gefahr befreit worden, es habe damals lediglich die eine Diktatur mit die andere gewechselt, so mündet es vollkommen verstiegen in einem Geschichtsbild, in dem leicht behauptet werden kann, für das Land sei der Weltkrieg nicht 1945, sondern erst 1989 zu Ende gegangen. Als Aleksander Kwaśniewski als amtierendes Staatsoberhaupt Polens am 9. Mai 2005 an den Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag des Sieges über Hitlerdeutschland in Moskau teilnahm, galt das im nationalkonservativen Lager nur noch als vollendeter Verrat. In der Delegation des Staatspräsidenten befand sich General Wojciech Jaruzelski, der als junger Offizier der polnischen Volksarmee an der Seite der Roten Armee am Ende des großen Krieges im Mai 1945 bis an die Elbe gelangt war.
 

[Dieser Beitrag erschien zuerst in «Das Blättchen», Nr. 9/2020]