Nachricht | Geschlechterverhältnisse - Südasien Witwenverbrennung in Indien

Grausamer religiöser Brauch zwischen Tradition und Moderne

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Autorin

Muriel Weinmann,

Das Verbrennen einer Witwe auf dem Scheiterhaufen ihres Mannes ist in Indien verboten. Trotzdem ist auch in den vergangenen Jahrzehnten vereinzelt immer wieder zu Vorkommnissen dieses alten religiösen Brauchs gekommen, nach denen die verbrannten Frauen zu Göttinnen stilisiert wurden. Feminist*innen müssen auch heute noch für das Recht auf Leben für Witwen kämpfen und sich gegen die Befürworter*innen und die religiöse Auslegung dieser Tradition behaupten.

Die Autorin ist Mitarbeiterin des Südasien-Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Neu-Delhi und hat ihre Abschlussarbeit im Fach Ethnologie zum Thema Witwenverbrennung in Indien und der Darstellung von Sati in nicht-indischen post-kolonialen Filmproduktionen geschrieben.

«Ich habe einen Anblick erschaut, [...] einen schrecklicheren [...] habe ich nie gesehen. Es war die Verbrennung eines menschlichen Wesens in der Blüte des Lebens, mit Gesundheit und Jugend im Gesicht.» (1) Mit diesen eindrücklichen Worten beschrieb im 19. Jahrhundert ein britischer Kolonialoffizier eine von ihm beobachtete Witwenverbrennung in Indien.

Witwenverbrennung, in Indien Sati genannt, bezeichnet den Brauch, eine Witwe zusammen mit ihrem Ehemann auf dessen Scheiterhaufen lebendig zu verbrennen. Auch in Skandinavien, China oder Griechenland wurden Zeugnisse von Witwenverbrennungen gefunden, womit es sich geschichtlich gesehen nicht um eine ausschließlich hinduistische Praktik handelt. Es konnte nachgewiesen werden, dass dieser Brauch schon vor über tausend Jahren praktiziert wurde, worin dessen Ursprünge liegen, ist jedoch noch ungeklärt. Wissenschaftler*innen gehen davon aus, dass soziale und materielle Faktoren eine große Rolle spielten. So konnte etwa eine erneute, oft kostspielige Heirat vermieden werden und es gab weniger Komplikationen bei der Aufteilung des Erbes.

Heute hingegen wird der Sati-Tradition vor allem aus religiösen Gründen gedacht. Über ganz Indien verteilt werden lokale Gottheiten mit dem Namen Satimata verehrte. Satimatas oder kurz Satis sind Frauen, welche durch das Verbrennen auf dem Scheiterhaufen ihres Mannes selbst zu Göttinnen stilisiert wurden. In ihrem Namen wurden Tempel und Schreine gebaut, die bis heute von Millionen Gläubigen besucht werden. Im Hinduismus, dem sich mehr als 80 Prozent der indischen Bevölkerung zugehörig fühlen, bezeichnet der Begriff Sati das Ideal einer tugendhaften Frau, die ihrem Mann bis in den Tod folgt. Es ist der Inbegriff weiblicher Treue und Hingabe.

Allerdings ist die grausame Praxis kein Relikt der Vergangenheit, auch das moderne Indien musste und muss sich immer wieder damit auseinandersetzen. Vor allem Feminist*innen und Frauenrechtsbewegungen kämpfen für das Recht der Witwen, auch nach dem Tod ihrer Ehemänner ein gerechtes Leben führen zu können. Einer der bekanntesten Fälle ereignete sich im September 1987. In dem Dorf Deorala nördlich der Millionenstadt Jaipur im westindischen Bundesstaat Rajasthan wurde die damals erst achtzehnjährige Roop Kanwar gezwungen, sich zusammen mit dem Leichnam ihres Ehemannes auf einem Scheiterhaufen verbrennen zu lassen. Die Nachricht verbreitete sich schnell und Hunderte Menschen pilgerten in das Dorf, um an dem Ereignis teilzuhaben. Die meisten sahen die Verbrennung nicht, aber gedachten in den Folgentagen mit Zeremonie und Rituale der neuen Sati-Gottheit, zu der Roop Kanwar angeblich geworden war.

Zwar wurde die Witwenverbrennung bereits in der Kolonialzeit von der britischen Kolonialmacht verboten und das Gesetz, wie viele andere in der Kolonialzeit entstandenen Gesetze, im unabhängigen Indien ohne Überarbeitung übernommen. Trotzdem schritten die Behörden nicht ein. So verwandelte sich Deorala binnen kürzester Zeit in ein Pilgerzentrum. Bilder von Roop Kanwar und ihrem Ehemann wurden in kleinen goldenen Bilderrahmen verkauft. Imbissbuden versorgten die hungrigen Pilger*innen, die oft von weit her kamen und, wie der Brauch es will, opferten hunderte Frauen ihre Hochzeitsschleier, um von der neuen Gottheit gesegnet zu werden.

Erst als das mediale Interesse stieg und der Druck durch indische Frauenrechtsbewegungen immer größer wurde, sah sich die Regierung zum Handeln gezwungen und machte dem Treiben ein Ende. Auch die koloniale Gesetzgebung wurde überarbeitet und als Resultat wurde nicht nur der Brauch selbst unter Strafe gestellt, sondern auch die Glorifizierung der toten Witwen. Das Einhalten des sogenannten Comission of Sati (Prevention) Act, der 1987 in Kraft trat, wird von Seiten der indischen Regierung jedoch kaum kontrolliert und so kommt es vereinzelt immer wieder vor, dass eine Frau zusammen mit ihrem toten Ehemann verbrannt wird. Dies geschieht vor allem in abgelegenen, ländlichen Gegenden. So wurde im Jahr 2006 eine 35-jährige Frau in einem kleinen Dorf im nördlichen Bundesstaat Uttar Pradesh bei einer Sati-Zeremonie getötet. Das ist nur eine der mindestens zehn offiziell dokumentierten Witwenverbrennungen der letzten drei Jahrzehnte.

In vielen Gegenden Indiens finden sich zudem historische Hinterlassenschaften des Brauchs. Ein Beispiel ist die Mehrangarh-Festung in Jodhpur, die majestätisch über der rajasthanischen Stadt thront. Wer den steilen Aufstieg unter brennender Sonne gemeistert und wahrscheinlich ein wenig außer Atem den Eingang erreicht hat, erblickt in einem der Tore ein Relief aus rotem Stein, das mit Blumengirlanden geschmückt ist. Es stellt die Hände der Witwen von Maharadscha Man Singh dar, die nach dessen Tod im Jahr 1843 mit ihm verbrannt worden sein sollen.

In bildlichen Darstellungen der Witwenverbrennung und in Erzählungen wird das Bild einer hingebungsvollen Ehefrau konstruiert, die dem Mann freiwillig in den Tod folgt. Aus Augenzeugenberichten britischer Kolonialbeamter und Reisender wird deutlich, dass dieses Bild falsch ist. Auch indische Frauenrechtler*innen sind sich darin einig, dass es sich hier keinesfalls um Freiwilligkeit handelt. Viele der Frauen wurden vor der mörderischen Zeremonie unter Drogen gesetzt, um sich nicht wehren zu können. War das nicht der Fall und versuchten sie dem brennenden Scheiterhaufen zu entfliehen, endete das oft in schlimmen Gewaltszenen.

Hier muss angemerkt werden, dass auch britische Kolonialbeamte und Reisende jener Zeit durchaus fasziniert waren von dem angeblichen Bild der bedingungslosen Liebe und Treue einer indischen Witwe ihrem Ehemann gegenüber. So schreibt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Beamter über eine Witwenverbrennung: «Ich hatte ein wildes und ungeduldiges Verlangen zu bleiben.» (2) Ein anderer verliert sich in der Beschreibung der Schönheit und Tragik der Witwe: «Die große persönliche Schönheit des Opfers verlieh diesem Sati ein ungewöhnliches Interesse und Bedeutung und machte das tragische Schauspiel sehr beeindruckend.» (3)

Ab dem Jahr 1815 mussten alle Witwenverbrennungen in Indien verpflichtend dokumentiert werden. Daher liegen Daten über deren Anzahl sowie Kastenzugehörigkeit, Namen und Alter der Witwen vor. Zudem musste mindestens ein britischer Kolonialbeamter an einer Witwenverbrennung teilnehmen, weshalb Historiker*innen auf eine Vielzahl von Augenzeugenberichten zugreifen können. «Die britische Besessenheit von Sati war grenzenlos. Tausende Seiten von Parlamentspapieren enthielten die Namen und Details der etwa 4000 Opfer, während das Sterben von Millionen Menschen aufgrund von Krankheit und Hunger nur beiläufig erwähnt wurde», schreibt der Historiker Christopher Alan Bayly in seinem Essay über tödliche Rituale und Zeremonien in hinduistischen Gesellschaften. (4)

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde die Witwenverbrennung in Indien durch die britische Kolonialmacht immer weiter eingeschränkt und schließlich verboten. Lange Zeit wurde dies als Meilenstein für die Frauenrechtsbewegung gesehen und die Briten schmückten sich damit, die indischen Frauen vor ihren «barbarischen» Männern gerettet zu haben. Doch ging es den Briten damals wirklich um die Frauen?

Die aus Indien stammende Sozialwissenschaftlerin Gayatri Chakravorty Spivak, die als Mitbegründerin der postkolonialen Theorie gilt, sieht in dem Verbot der Witwenverbrennung durch die britische Kolonialmacht in erster Linie Eigennutz: «Das Verbot diente dazu, den britischen Imperialismus unter dem Deckmantel einer zivilisatorischen Mission – nämlich der Rettung der einheimischen Frauen – zu rechtfertigen.» (5) Auch die Historikerin Lata Mani hat Zweifel. Die Ansicht, dass die Kolonialisierung Indiens eine positive Neubewertung der Rechte von Frauen mit sich gebracht hat, wird laut ihr bereits zu lange unhinterfragt akzeptiert. (6)

Der populäre Fall der Roop Kanwar trieb Gegner*innen wie Befürworter*innen des Brauchs der Witwenverbrennung auf die Straße. Für Feminist*innen ist bereits deren Glorifizierung ein Verstoß gegen die demokratischen Rechte der Frauen, da diese immer wieder zu Morden an Witwen geführt habe. Befürworter*innen sehen das anders. Der reiche Geschäftsmann Natawarlal Goenka hat Anfang des 20. Jahrhunderts zu Ehren einer Satimati in der Stadt Jhunjhunu im Bundesstaat Rajasthan einen riesigen Tempel errichten lassen. Der Rani-Sati-Tempel gehört zu einem der reichsten Gotteshäuser Indiens. Die Historikerin Anne Hardgrove zitiert Goenka mit den Worten: «Die Sati unseres Tempels war eine mutige und aufopfernde Frau, die uns inspiriert. Schritte gegen den Tempel werden von uns als Schritte gegen die Rechte unserer Bürger und unsere Religionsfreiheit gesehen.» (7)

Auch der ökonomische Faktor der Tradition darf nicht außer Acht gelassen werden. Darin sind sich Feminist*innen einig. Zahlreiche Menschen profitieren finanziell durch die Glorifizierung von Sati – im großen Stil durch den Bau und Betrieb von Tempeln wie in Jhunjhunu und das Sammeln von Spendengeldern in Millionenhöhe oder im kleinen Stil durch den Verkauf von religiösem Kitsch oder den Betrieb von Imbissbuden im Umfeld dieser Tempel. Auch Transportunternehmen und Hotels profitieren in Gemeinden, in denen Witwenverbrennungen stattgefunden haben. Städte wie Jhunjhunu oder das Dorf Deorala werden bis heute alljährlich von Tausenden Gläubigen besucht und haben dadurch an Wohlstand gewonnen.

«Es ging nicht um die Frau, es ging um Tradition», schreibt Mani. (8) Die Diskussion über Sati sei daher eine Debatte über Tradition und Moderne. Befürworter*innen stehen auf der Seite der Tradition. Für sie ist Sati ein festgeschriebener Brauch ihrer Geschichte und ein Teil ihrer kulturellen Identität. Gegner*innen stehen auf der Seite der Moderne. Die ist in Indien oft negativ konnotiert, denn sie wird gleichgesetzt mit Verwestlichung und Entfremdung von der eigenen Kultur. Der größte Konflikt der beiden Parteien ist, dass Sati für die Gegner*innen nichts anderes als Mord ist. Die Befürworter*innen dagegen sehen Sati als kulturellen, tief in der hinduistischen Geschichte und in ihrem Glauben verankerten Brauch, den es zu bewahren gilt.

Roop Kanwars Tod hat dem modernen Indien die alte Tradition brutal ins Bewusstsein gerufen. Feminist*innen ist es ein Anliegen, den Brauch der Sati zu entmystifizieren und ihn von seinen zahlreichen Debatten über Religion, Moderne und Tradition zu lösen um ihn als das zu sehen, was er im Kern ist. Ein patriarchaler Gewaltakt, der dazu dient, Frauen zu unterdrücken.


Quellen

Bayly, C. A. (1981): From Ritual to Ceremony: Death Ritual and Society in Hindu North India since 1600. In: Whaley, Joachim (Hg.): Mirrors of Morality: Studies in the Social History of Death. London: Europa Publications, S. 154-18.

Hardgrove, Anne (1999): Sati Worship and Marwari Public Identity in India. In: The Journal of Asian Studies 58 (1999), 3, S. 723-752.

Mani, Lata (1987): Contentious Traditions: The Debate on Sati in Colonial India. In: Cultural Critique 7 (1987), S. 119-156.

Mani, Lata (1998): Contentious Traditions: The Debate on Sati in Colonial India. New Delhi: Oxford University Press.

Spivak, G. C. (1994): Can the Subaltern Speak? In: Wiliams, Patrick / Chrisman, Laura (Hg.):Colonial Discourse and Post-Colonial Theory: A Reader. Hemel Hempstead: Harvester Wheatsheaf, S. 90-105


Endnoten

(1) Vgl. Mani 1998: 173
(2) Vgl. Mani 1998: 173; 33
(3) In: Calcutta Jornal 1821, zitiert nach Mani 1998: 173
(4) Vgl. Bayly 1981: 174
(5) Vgl. Spivak 1994: 98
(6) Vgl. Mani 1987: 153
(7) Vgl. Hardgrove 1999: 723
(8) Vgl. Mani 1987: 153