Es kann jede*n treffen. COVID-19 unterscheidet nicht zwischen arm und reich, Mann* oder Frau*, weiß oder People of Colour. Dass wir alle im selben Boot sitzen, wie viele glauben, ist allerdings ein großer Trugschluss. Die Pandemie verändert nicht in gleichem Maße das Leben der Menschen, sondern verstärkt sämtliche existierenden Ungleichheiten und wirkt sich massiv auf die ohnehin schon Verletzbaren und Benachteiligten aus. Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben und arbeiten, sind besonders infektionsgefährdet, sodass ihnen weitere Not und Stigmatisierung drohen.
Verfasst wurde dieses Manifest von den Mitgliedern der Arbeitsgruppe Europäischer Feminismus der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Wir leben und arbeiten über ganz Europa verteilt, in Belgien, Tschechien, Deutschland, Griechenland, Polen, Russland, Serbien, Spanien, dem Vereinigten Königreich und der Ukraine. Übersetzung von Katharina Martl und Utku Mogultay für Gegensatz Translation Collective.
Zu den besonders vulnerablen Gruppen zählen Frauen* – insbesondere diejenigen, die im Niedriglohnsektor tätig sind –, lesbische, bisexuelle, queere und Transpersonen, Migrant*innen und Roma-Communities. Es sind vor allem Frauen*, die kleine Kinder haben oder anderweitig in Heim- und Care-Arbeit eingebunden sind, die in sozialer Unsicherheit leben. Sie werden schlechter bezahlt, arbeiten häufiger in Teilzeit und in prekären Arbeitsverhältnissen und sind dementsprechend besonders akut von einem Erwerbsausfall bedroht. Auch sind Frauen* häufiger in der Pflege und anderen Dienstleistungsberufen beschäftigt, die momentan als «systemrelevant» erachtet werden. Sie sind dadurch exponierter und besonders infektionsgefährdet. Zusätzlich führen die mit der Pandemie verordnete Isolation und Kontaktsperre nachweisbar zu einem Anstieg häuslicher Gewalt gegenüber Frauen* und Kindern. Die Ausgangsbeschränkungen gründen auf der Annahme, dass Familie und Zuhause ein sicherer Ort sind. Doch manche Menschen sind durch Quarantäne und soziale Isolation in einem von Gewalt geprägten Umfeld gefangen und können sich nur schwer Hilfe suchen.
Die Pandemie hat bereits jetzt schon massive Auswirkungen auf unsere körperliche und psychische Gesundheit. Es ist zu erwarten, dass Traumata oder Retraumatisierungen, die im Zusammenhang mit bestimmten Berufsausübungen stehen oder allgemein durch den Lockdown hervorgerufen werden können, nachhaltig das Verhalten der Menschen prägen sowie unsere Beziehungen zueinander verändern werden sobald soziale Kontakte wieder möglich sind. Besonders gilt dies für Arbeiter*innen im überdurchschnittlich feminisierten Gesundheits- und Care-Sektor.
Die Pandemie hat eine globale Krise ausgelöst, deren verheerende Folgen noch jahrelang spürbar sein werden. Obwohl diese Auswirkungen als Bedrohung für den Feminismus gesehen werden können, bergen sie auch eine Chance. Für eine angemessene Lösung der aktuellen Situation ist es extrem wichtig, dass die jetzt ergriffenen Maßnahmen den genderspezifischen Auswirkungen Rechnung tragen. Die Krise bietet eine Gelegenheit, innezuhalten und darüber nachzudenken, in was für einer Welt wir leben wollen, und darauf zu drängen, dass es eine Welt wird, in der Menschen und Solidarität mehr zählen als Kapital und Konzerninteressen.
Dieses Manifest ist eine gemeinschaftliche Intervention aus europaweiter linker feministischer Perspektive vor dem Hintergrund der Corona-Krise. Die Forderungen und Vorschläge dieses Manifests basieren jedoch auf feministischen, aktivistischen und politischen Kämpfen der letzten Jahrzehnte. Die folgende Liste nennt nur einige der unterschiedlichen, aber doch miteinander verbundenen Anliegen, mit denen wir uns im Sinne weiterer Diskussionen und Interventionen beschäftigen:
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der Übergang hin zu einer feministischen Ökonomie, Klimagerechtigkeit und Solidarität;
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die Gefahr des Autoritarismus für Demokratie und Feminismus und mögliche Antworten darauf;
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der feministische Klassenkampf im Gesundheits- und Care-Sektor und in anderen Berufsgruppen «an vorderster Front»;
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die körperliche und psychische Unversehrtheit und das Recht auf Schutz vor Gewalt;
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Migration und die unmenschlichen Körperpolitiken der Grenzkontrollen.
Indem wir diese Themen aufgreifen, wollen wir sowohl zu Solidarität während und nach der Krise aufrufen als auch politische Diskussionen und Entscheidungen beeinflussen, denen es häufig an feministischen Perspektiven mangelt. Unsere Vorschläge können linken und feministischen Bewegungen, aber auch verschiedenen Institutionen und politischen Organisationen als Leitfaden bei der Entwicklung konkreter Strategien und Forderungen dienen.
Wir benutzen in diesem Text die Schreibweise Frauen*, um zu betonen, dass wir in unsere Definition von Frauen* ausdrücklich Transgender, queere und nichtbinäre Geschlechtsidentitäten sowie von Misogynie und spezifisch weiblichen* Problemen betroffene Personen miteinschließen.