Nachricht | Kultur / Medien - Kommunikation / Öffentlichkeit - Digitaler Wandel - International / Transnational - Corona-Krise Die Pandemie, die Epidemiologie und ihre Bilder

Zur medialen Viralität in Zeiten der Pandemie

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George Floyd Mural an der Ecke Chicago Ave und E 38th St in Minneapolis, Minnesota
George Floyd Mural an der Ecke Chicago Ave und E 38th St in Minneapolis, Minnesota CC BY-SA 2.0, Lorie Shaull, via Flickr

Bilder, die viral gehen? Was bedeutet das eigentlich? Sind sie krank machend wie Corona-Viren? Oder haben sie vielmehr ein transformatives politisches Potenzial? Und wer hat die Macht über sie? Der Staat, das Kapital und – wie gerade zu Zeiten der Pandemie - EpidemiologInnen? Oder digitale wie analoge Protestbewegungen? Das Video, das zeigt, wie der schwarze US-Amerikaner George Floyd am 25. Mai in Minneapolis von einem Polizisten solange gewürgt wird, bis er stirbt, ging auf allen Social Media-Kanälen in wenigen Stunden viral und löste antirassistische Massenproteste in zahlreichen US-amerikanischen Städten mit aus. Am Beispiel zweier global zirkulierender Fotos erschöpfter Gesundheitsarbeiterinnen aus Italien diskutieren Ute Kalender und Aljoscha Weskott verschiedene Strömungen der kritischen Epidemiologie und analysieren entlang feministischer sowie postkolonialer Medientheorien das transformative Potenzial viraler Bilder der Corona-Krise – und deren rassistischen Ausschlüsse.
 

Es ist Samstagabend. «Beide – Bilder und Epidemiologie – stehen im Dienste eines biopolitischen Kommandos», erklärt uns eine befreundete Philosophin. Statt in unserer Lieblingsbar Wolf sitzen wir zu Coronazeiten vor den Rechnerbildschirmen unserer Wohnungen. Zum «iBier». Auf Zoom. Die Philosophin fährt fort, dass Bilder und Epidemiologie Komplizen einer Politik sind, die unter dem Deckmantel der allgemeinen Gesundheit unsere Freiheit außer Kraft setzen möchte. «Absolut!», steigen wir ein und fragen uns, inwiefern die Epidemiologie eine wissenschaftliche Rationalität liefert, der Politik und breite Masse bereitwillig folgen, sind diese doch bis ins Letzte den Experten hörig. Und kommen die unmittelbaren Affekte nicht wiederum von den Bildern der Pandemie? Ähneln sie sich nicht Katastrophenbildern aus Hollywoodfilmen? Schaffen sie nicht ein Schreckensszenario? Und verbreiten sie sich nicht besonders über die sozialen Netzwerke?

Selbstsorge

Aufgeregt geht das Gespräch hin und her, bis ein weiterer Freund irgendwann mit leise mahnender Stimme dazwischen geht: «Wie könnten wir denn damit umgehen? Wie könnte denn gute Selbstsorge in Coronazeiten aussehen?» Der Freund hat kritische Psychologie an der Freien Universität studiert. Mittlerweile arbeitet er als Traumatherapeut. Und leider passt zwischen ihn und das neue Achtsamkeitscredo kein Haar mehr. Er beantwortet seine verhaltenstherapeutischen Fragen selbst: «Physische Distanz!» – allerdings nicht von anderen Menschen, sondern vom TV, vom Handy, von Facebook, Twitter und Instagram. – von diesem ganzen digitalen Medienwahnsinn. Sie würde jetzt wieder viel mehr Lesen und mit ganzen Sinnen Musizieren, stimmt die Philosophin zu. Und plädiert für «vernünftige» Distanz, ein sinnvolles Filtern der Seuchenbilder: «Wir sollten uns mit unserem Kopfkino rational auseinandersetzen.»

Ute Kalender forscht zu neuen feministischen Digitalaktivismen und ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie der Charité-Universitätsmedizin. Mehr über Sie auf utekalender.de.

Aljoscha Weskott ist Politik- und Kulturwissenschaftler. Er forscht in seinem Postdoc-Projekt zu Fragen digitaler Bildpolitiken anhand von Susan Sontags Begriff der «Ökologie der Bilder».

Umkämpfte Epidemiologien

Am nächsten Tag kommen uns allerdings Zweifel an diesem kritischen Narrativ: Ist das gestrige Bild der Epidemiologie nicht zu eindimensional? Ute, die in der epidemiologischen Abteilung der Charité arbeitet, weiß, dass die Epidemiologie keinem einheitlichen Tenor entspricht, sondern von unterschiedlichen Denkstilen (Bolte und Lahn 2015) geprägt ist, zwischen denen Kämpfe ausgefochten werden. Neben genetischen und biomedizinischen Zugängen existieren intersektionale, arbeitswissenschaftliche und globale Ausrichtungen. Tendieren erstere tatsächlich dazu, Krankheit auf individuelle Lebensstilfaktoren zu reduzieren und so zu entpolitisieren, sind die drei letztgenannten sehr viel breiter und kritischer aufgestellt.

Bilder als Viren?

Zweitens erscheint uns das Verständnis der Bilder als zu eng gefasst. «Bilder der Pandemie als Bilder zu verstehen, die wie Viren operieren, so ein Blödsinn» findet Aljoscha. Das wären dann «fremde» Bilder, die in unseren Organismus eindringen und unseren Seelenfrieden von innen heraus zersetzen und zerstören. Sie lagern sich in unseren Körpern ab, gehen unter die Haut, sie dringen tief in uns ein, lassen uns nicht mehr schlafen. Ein gängiges Bilderverständnis, das sich auch in zweifelhaften Gesundheitsstudien findet. Sie assoziieren das Wischen auf dem Smartphone mit Suchtverhalten und flankieren das mit dubiosen Geschlechterklischees, wenn sie Männer als vom Nachrichtendienst Twitter und Frauen als vom Online-Konsum abhängig einstufen.

Kritische Epidemiologie

Ohne Zweifel haben Bilder eine immense Bedeutung zur Bekämpfung der Pandemie. Dennoch gehen sie nicht immer oder nicht überwiegend in den üblichen Verdächtigen von Staat, Kapital und Biopolitik auf, sondern entsprechen komplexeren visuellen Praktiken und Strategien, ja sie haben sogar ein Eigenleben. Wir schlagen daher vor, Bilder der Pandemie aus der Perspektive kritischer Epidemiologien zu betrachten, die Impulse aus Medienwissenschaften, aktuellen feministischen Sorgediskursen und postkolonialen eBlack Studies aufnehmen, die politische, soziale, kulturelle und ökonomische Effekte der Digitalisierung und digitaler Medien für Schwarzes Leben untersuchen. Corona-Bilder werden hier als Bilder der Sorge und sorgende Bilder verstanden.

Elena Pagliarini
Die erschöpfte Krankenpflegerin Elena Pagliarini im Krankenhaus von Cremona/Italien Foto: Francesca Mangiatordi, @france_exa / Instragram

Bilder der Sorge

Ein am 8. März 2020 auf Facebook gepostetes Foto zeigt die italienische Krankenschwester Elena Pagliarini. Die erschöpfte Frau liegt vornüber gebeugt auf einem Krankenhausschreibtisch. Sie trägt Maske und Haarnetz. Neben ihrem Kopf steht ein Plastikspender, den heute, drei Monate später, vermutlich viele Betrachtende als ein Desinfektionsmittel deuten würden. Innerhalb kurzer Zeit machen etliche internationale Medien das Facebook-Foto zu einem Schlüsselbild der Corona-Krise: Das «Foto einer wahren Heldin» titelt die BRIGITTE, «Sinnbild der Epidemie» (RBB), «ein triftiges Bild der Krise» oder das Bild der «Corona-Ikonografie» (Harun Farocki Institut).

Die Fotografin selbst bettet das Foto in einen Sorgediskurs ein, wenn sie in einem dankenden Kommentar antwortet: «Wir kämpfen hier mit allen Kräften bis zur Erschöpfung – wie Du siehst. Sie haben die Bettenzahl reduziert. Und jetzt befinden wir uns in diesem Zustand.» Sorge gilt hier als eine gesundheitspolitische Frage des Versorgungssystems – und seines Scheiterns. Die Sparmaßnahmen haben zu einer Reduzierung der Betten geführt und das wiederum zu einem Quasi-Kollaps der italienischen Kliniken. Doch auch ohne den Kommentar suggeriert das Bild: Die Coronakrise ist eine Krise des Versorgungssystems.

Das Foto nimmt vorweg, was zu einem zentralen Argument gegen die verheerenden Folgen des Virus wird: Nur wenn unser Versorgungssystem funktioniert, kann die Kurve abgeflacht werden. Das kann nur gelingen, wenn wir den Blick auf jene lenken, die dort Tag für Tag unsichtbar und schlecht entlohnt, arbeiten: Pflegerinnen und Krankenschwestern. Nur wenn wir sie stärken, können sie sich um die Kranken kümmern.

Alessia Bonari
Krankenpflegerin Alessia Bonari im Selbstportrait Foto: Alessia Bonari, @alessiabonari_ / Instragram

Corona und No Make Up

Ein weiteres Bild aus Italien, ein Instagram Foto, erhält innerhalb weniger Wochen über 100.000 Likes. Etliche Herzen, Danke-Smileys, aber auch zum Kampf erhobene Faust-Emojis zieren die Kommentarspalte neben dem blassen Gesicht einer jungen Frau. Es weist rote Druckstellen auf Nase, Wangen und Stirn auf. Auch eine Teilnehmerin von Germanys Next Topmodel hätte das Bild nach einer körperlich beanspruchenden Challenge posten können.

Tatsächlich zeigt es den Körper einer toskanischen Krankenschwester. Alessia Bonari lädt das Selfie am 9. März 2020 hoch. Die roten Flecken resultieren aus dem stundenlangen Tragen der Maske. Die Blässe aus unzähligen Arbeitsstunden. Auch Bonari verweist auf die physisch zermürbende Arbeit in den Seuchenräumen. Während aber zeitgleich eine textlastige Nachricht über streikende Arbeiter in baskischen Mercedes-Werken auf Facebook keine zehn Likes erhält, geht auch das Instagram-Bild der italienischen Krankenschwester abermals viral.

Nun könnte der Erfolg der ewigen Mär der jugendlichen Schönheit der Abgebildeten geschuldet sein. Eher aber scheint die starke Resonanz damit zusammen zu hängen, dass das Bild bewusst oder intuitiv einen anderen beliebten Bilddiskurs aufnimmt: Den «No Make up» Trend. Dabei posten Stars seit einigen Jahren Fotos ihrer ungeschminkten Gesichter.

Sorgende Bilder

Inwiefern nicht auch «No Make Up» dem Dogma von Sichtbarkeit, Schönheit und Formbarkeit des weiblichen Körpers verhaftet bleibt, sei dahin gestellt. Deutlich aber wird: Ja, die Bilder gingen viral. Sie waren nicht zu stoppen, ihre Verteilungsketten weder vorhersehbar noch kontrollierbar. Doch ihre Viralität macht keinesfalls krank. Sie fordert eher dazu auf, sich mit krankmachenden Arbeitsbedingungen auseinander zu setzen. Die Bilder stützen das Anliegen der Arbeitsepidemiologie – einer Epidemiologie, die kritisch gefährdende Arbeits- und Kapitalverhältnisse untersucht.

Solche Bilder werden dann selbst zu sorgenden Bildern – sorgend im Sinne von aktiv, agierend und appellativ. Sie stoßen Auseinandersetzungen an, in denen es um eine politische Sorge geht – um jene, die in Krankenhäusern, an der Kasse oder in Schlachthöfen arbeiten müssen. Und die eben nicht als relativ Privilegierte zu Hause bleiben und im Homeoffice arbeiten dürfen.  

Wartende Frachtschiffe in der Straße von Singapur, Mai 2016 CC BY-NC-SA 2.0, Corey Seeman, via Flickr

Sorgende Bilder sind, wie das Virus in der ersten Coronawelle, agiler als die Kapital- und Warenströme. Diese Agilität wird von den Bildern einer alten Ökonomie konterkariert: von Öltankern, die in einer Warteschleife in der Straße von Singapur liegen. Die Tanker brauchen 30 bis 40 Tage, um Rotterdam zu erreichen, während sich das Virus und dessen digitalen Bilder in dieser Zeit bereits viel schneller, weltumspannend und radikal dezentral, ausgebreitet haben. Ein solches Bilderverständnis ist wiederum näher an den transnationalen Perspektiven der globalen Epidemiologie: Sie gehen von der Prämisse aus, dass zwar Menschen an nationalstaatlichen Grenzen sterben, Viren dort aber keinesfalls Halt machen und Pandemien deshalb nur transnational bekämpft werden können. So argumentieren etwa globalwissenschaftliche Epidemiolog*innen in einem offenen Brief an die Europäische Kommission, dass die Geflüchtetenlager der griechischen Inseln evakuiert werden müssten – um die Menschen in den Lagern nicht der Pandemie auszuliefern und auch mit Blick auf die Gesundheit von Menschen außerhalb der Lager: «Ein Ausbruch könnte zu einer Katastrophe werden, von der die Bewohner der Inseln, des griechischen Festlandes und letztlich ganz Europa betroffen wären.»

Schließlich entspricht diese Unstoppbarkeit der digitalen Bilder neuen Ansätzen eines kritischen Bilddenkens. Hierzu gehört der Medientheoretiker Karl Sierek. In Anlehnung an Aby Warburg schlägt er vor, das digitale Bild als flüssiges Bild zu verstehen: «ein Bildtyp im Prozess des Werdens [....], der nirgendwo Festigkeit und Zuverlässigkeit bietet. Das digitale Bild schwingt, vibriert, oszilliert und moduliert» (Sierek 2007, 131). Aber auch  postkoloniale Bildtheoretikerinnen wie Alison Green Wade schlagen eine solche Lesart vor (2017). Ausgehend von digitalen Medien wie Black Twitter oder dem Hashtag #BlackLivesMatter entwickelte sie das Konzept der «Viral Blackness». Viralität folgt hier keinem biologischen Verständnis. Es ist nichts Schädigendes, sondern etwas, das Schädigendes – nämliche weiße Vorherrschaft – unterwandern kann. Viralität hat dann ein transformatives Potential und ebenso haben digitale Bilder und Medienprodukte nicht per se schlechte oder gute Eigenschaften. Vielmehr zeigt Wades Analyse politischer Bewegungen, wie digitale Produkte für die Bekämpfung einer rassistischen Gesellschaft umgewendet werden können. Handyvideos von Riots der Black Lives Matter Bewegungen, wie sie etwa seit dem rassistischen Mord von Polizisten an George Floyd in Minneapolis am 25. Mai global in den Medien und auf Social Media kursieren, oder von Märschen schwarzer Frauen unterwandern kapitalistische Kontrollgesellschaften – Gesellschaften, die die Bewegungsfreiheit schwarzer Körper einschränken, schwarze Stimmen zum Schweigen bringen und schwarzes Denken unterdrücken wollen.

Auch die oben diskutierten Fotos der erschöpften Krankenschwestern gingen viral. Sie entsprechen einer positiven Viralität und enthalten ein mögliches transformatives Potential, weil sie Arbeiten visualisieren, die uns am Leben erhalten, in der Regel aber genauso unsichtbar bleiben wie das Virus – Sorgearbeiten. Diese Bilder haben Auseinandersetzungen über den Quasi-Kollaps eines maroden Versorgungssystems angestoßen und können möglicherweise auch Kämpfe gegen die schlechten Arbeitsbedingungen und für die langfristige Andersorganisierung im Versorgungssystem unterstützen. Allerdings sind es Bilder weißer Krankenschwestern. Diese Viralität scheint somit auf den ersten Blick begrenzter als die von Wade diskutierte Viral Blackness. Oder anders ausgedrückt: Noch umfassender müsste nach jenen Sorgearbeiten gefragt werden, die bei diesen Bildern weißer Arbeiterinnen unberücksichtigt bleiben, ja quasi ihre Rückseite bilden. Solche Arbeiten umfassen, wie Käte von Bose in ihren Forschungen gezeigt hat, zum Beispiel auch Hygienearbeiten in Krankenhäusern, jene Tätigkeiten an der Gesundheitsbasis, die zwar zu den wesentlichsten, dennoch aber zu den prekärsten Arbeiten in den Krankenhäusern gehören – und die nach wie vor meist Migrantinnen und People of Color leisten.
 

Literatur

  • Gabriele Bolte, Ulrike Lahn. 2015. Geschlecht in der Public-Health-Forschung zu gesundheitlichen Ungleichheiten: Potenziale und Begrenzungen des Intersektionalitätsansatzes. GENDER 2015; 2: 51-67.
  • Karl Sierek. 2007. Foto Kino und Computer. Aby Warburg als Medientheoretiker. Philo Fine Arts.
  • Ashleigh Greene Wade (2017) «New Genres of Being Human»: World Making through Viral Blackness, The Black Scholar, 47:3, 33-44, DOI: 10.1080/00064246.2017.1330108
  • Offener Brief evacuate-moria.com