Migrantische Widerstandsformen
Einer unserer Schwerpunkte in der Bildungsarbeit diesen Jahres ist die Präsentation unterschiedlicher Facetten von Widerstand, die People of Colour in den letzten Jahren erprobt haben, um gegen Alltagsrassismus, Abschiebepraxis und Ausgrenzung zu mobilisieren. Den Auftakt hat der seit drei Jahren auch in Rheinland-Pfalz regelmäßig im Feburar stattfindende Black History Month dargestellt, der 2020 unter dem Motto »Afro-Deutscher Widerstand« stand. Dabei wurde unter Widerstand nicht nur der konkrete Aktivismus im Sinne von Demos, Petitionen etc. verstanden, sondern auch die Etablierung von Gegen-Narrativen oder die Bemühungen um Sichtbarkeit von Schwarzen Menschen.
Anschließend daran war für den Spätsommer eine Veranstaltungsreihe geplant, die historisch auf migrantische Selbstorgansiation und Widerstandsformen blickt, von Streiks von Arbeitsmigrant*innen über die deutsch-türkische Antifa Gençlik oder Strukturen wie Kanak Attak bis hin zu gegenwärtigen Formen wie The Voice Refugee Forum oder Lampedusa in Hamburg. Leider können diese Veranstaltungen aufgrund der gegenwärtigen Situation nicht wie geplant stattfinden, daher dokumentieren wir auf unserer Webseite in unregelmäßigen Abständen einzelne Aspekte der geplanten Reihe. Diese hoffen wir zu einem späteren Zeitpunkt nachholen zu können.
Den Anfang macht unser Mitarbeiter Jonas Engelmann mit einem Text, der auf migrantische Stimmen der Zeit zwischen Mauerfall und Jahrtausendwende wie die Antifa Gençlik und Kanak Attak blickt.
»diese schrift ist eine kampfhandlung«
Antifa Gençlik, Kanak Attak und andere migrantische Stimmen zwischen Wiedervereinigung und Jahrtausendwende
Von Jonas Engelmann
»in der beruhigten mitte prallen zitatartikel aufeinander oder poltern aneinander vorbei. so entstehen in einem starren sistem bewegliche teilchen und bewegende momente ohne einblicke in das starre sistem. darin haben sich alle ›subversiven‹ oder ›deviaten‹ grüppchen eingefunden. ihr alternativer zappel ist keine müde kuhmilz wert«, schreibt Feridum Zaimoglu in seinem Beitrag »sicarim süppkültürünüze, züppeler!« zum Sammelband Mainstream der Minderheiten (Zaimoglu 1996: 95). Wir schreiben die frühen 1990er-Jahre und nicht nur die »zitatartikel« poltern aneinander vorbei, sondern auch das Potential subkulturellen Widerstands, einer gemeinsamen, migrantisch und nicht-migrantisch geprägten Stimme gegen das »sistem«, gegen Alltagsrassismus, Asylrechtsverschärfungen und den ausländerfeindlichen Mob auf den Straßen. Dieser Widerstand zerschellte an der Ignoranz einer deutschen Linken, sich mit den eigenen Verstrickungen ins »sistem«, den eigenen Vorurteilen und Ausgrenzungsmechanismen auseinanderzusetzen.
Als 1992 mit den sogenannten Wohlfahrtsausschüssen durch Musiker*innen der Hamburger Subkultur ein kultureller wie auch aktivistischer Widerstand gegen den zunehmenden Rassismus in Deutschland nach der Wiedervereinigung etabliert werden sollte, schien dieser zunächst auf einer breiten Basis zu stehen. Im Einladungsflugblatt zur ersten Diskussion »Etwas Besseres als die Nation« formulierte der Wohlfahrtsausschuss Hamburg: »Indem die rechte Gewalt zunehmend den öffentlichen Raum kontrolliert, zwingt sie ihre Gegner, sich unsichtbar zu machen – und alle, die nur ihre Ruhe haben wollen, werden zu Mitläufern. Auch viele Leute mit einem linken/alternativen/subkulturellen Selbstverständnis bewegen sich in einem selbstgeschaffenen Raum jenseits politischer Einflußnahme. Diese Haltung ist angesichts der gravierenden Veränderungen im politischen Klima fragwürdig geworden. Wir halten es für dringend notwendig, Handlungsmöglichkeiten für eine neue antirassistische Praxis zu erarbeiten, welche die alten Probleme der Zusammenarbeit antifaschistischer Gruppen hinter sich läßt« (Wohlfahrtsausschuß Hamburg 1994: 17) An die Diskussion anschließend wurde ein Konzert unter anderem mit Advanced Chemistry, Absolute Beginner und King Size Terror angekündigt, politischer, migrantisch (im Falle der Beginner: mit-)geprägter HipHop, der sich deutlich gegen den grassierenden Rassismus positionierte. Die im Frühjahr stattfindende Tour der Wohlfahrtsausschüsse durch Ostdeutschland war allerdings dominiert von Bands, deren Mitglieder sich nicht mit Fragen des Alltagsrassismus herumschlagen mussten: Die Sterne, Die Goldenen Zitronen, Blumfeld, Kastrierte Philosophen, Cpt. Kirk. Und auch jenseits der Tour gab es nur wenig Vernetzung zwischen den Musiker*innen der Hamburger Subkultur – eine Kritik an der Dominanz (westdeutscher) weißer Männer im Kontext der Wohlfahrtsausschüsse ist selbstkritisch im Reader Etwas Besseres als die Nation abgedruckt worden (Kahina 1994). Dennis/Denyo von den Beginnern sagte 1993 in einem Interview über sein Verhältnis zu den Bands der Hamburger Schule: »Wir hängen absolut nicht mit denen rum zu Hause. Rumhängen tun wir eigentlich mit unseren Freunden, HipHops.« (Zap 1993:11)
Ähnliche Entwicklungen hatten sich auch in Berlin einige Jahre zuvor vollzogen: 1988 gründete sich mit Antifascist Gençlik eine migrantisch geprägte Jugendantifa, eine »Selbsthilfegruppe«, wie Ercan Yasaroglu 1994 nach dem Ende der Bewegung erklärte (Yasaroglu 2020: 117). »Wir wollten keine Opfer mehr sein, kein Anhängsel der Gesellschaft, über das man herrschen kann, sondern Teil einer Gesellschaft, sowohl auf rechtlicher wie auch auf sozialer Basis«, schreibt er weiter (Ebd.: 129). Antifa Gençlik entstand in expliziter Abgrenzung zur Antifa Berlin, wie sich ein Gründungsmitglied rückblickend in einem Interview mit der Zeitschrift »Straßen aus Zucker« erinnerte: »Es gab da so einen Fall in einem Gespräch in einer WG. Da meinte ein Genosse: ›Wir brauchen eure Wut und euren Mut und ihr unsere Klugheit.‹ Da sagt dir jemand ins Gesicht: Du bist dumm. Da gab es dann auch Diskussionen in der nicht-migrantischen Linken, ob es nicht doch sowas wie ›Rasse‹ gebe. Da dachten wir: Seid ihr bescheuert? Und auch beim gemeinsamen Handeln, beim Demo-Organisieren usw. zeigte sich eine Arroganz uns gegenüber. Da machte es Sinn, sich neu zu organisieren.« (Straßen aus Zucker 2013)
Garip Bali beschreibt als die wichtigsten Ziele von Antifa Gençlik die offensive Verdrängung von Nazis aus den Vierteln und die Mobilisierung und Politisierung von migrantischen Jugendlichen. »Wir können sagen, dass sich die Antifa Gençlik an einem Schnittpunkt von drei Strömungen formierte: da war erstens die Geschichte der migrantischen Selbstorganisation, etwa in Form der (…) türkisch-kurdischen Vereine; zweitens der enge Bezug zu den Jugendbanden, die sich damals verstärkt in migrantischen Stadtvierteln Berlins bildeten; und drittens der Bezug zur autonomen und antifaschistischen Szene« (Bali 2020: 14f.). Doch gingen einzelne Demoaufrufe und Flugblätter weit über dieses von Garip Bali formulierten Ziele hinaus. »Hand in Hand auf die Straße. (…) Um gegen Faschismus, Rassismus, Patriarchat und Kapital zu kämpfen. Mit dem Bewusstsein, dass die Grenzen nicht zwischen den Völkern sondern zwischen oben und unten liegen. Für ein freies Leben. Für einen gemeinsamen Kampf«, hieß es etwa auf einem Flugblatt vom Dezember 1989 (ak wantok 2020: 79). Die Antifa Gençlik legte großen Wert auf den proletarischen Background der eigenen Elterngeneration, die Großteils als Arbeitsimmigranten nach Deutschland gekommen waren. So heißt es programmatisch bereits im ersten Positionspapier von 1988: »›Der Kampf gegen Faschismus ist der Kampf gegen das Kapital‹ ist die Hauptlosung, die wir den Massen beibringen müssen. Denn es ist das Kapital selbst, das in der heutigen Phase, um der Interessen der Ordnung des Kapitals willen, den Rassismus entwickelt und den Faschismus braucht. Das Hauptmotiv, dessen der Faschismus und das Kapital sich heute bedienen (…) sind ›die Ausländer‹« (Ebd.: 25).
Antifa Gençlik löste sich 1994 auf, zerrieben von internen Konflikten, Polizei-Repression sowie Diskussionen um Sexismus und Militanz. Trotz aller Selbstkritik, die unmittelbar nach dem Ende der Gruppe in einem Text zusammengefasst wurde – »Es fehlte die Fähigkeit, unsere Aufgaben wahrzunehmen und unsere Widersprüche zu erkennen« (Yasaroglu 2020: 134) –, ist die Verantwortung dafür, politisch mit der westdeutschen Antifa auf keine gemeinsame Linie gekommen zu sein, vor allem bei letzterer zu suchen, wie Ercan Yasaroglu am Beispiel des gescheiterten Versuchs, mit der Antifa Westberlin zu kooperieren, ausführt: »Sie versuchten, sich als Lehrer von uns zu geben, und wollten die AG (Antifa Gençlik) erziehen und erwarteten von uns ein Verhalten im Rahmen ihrer Richtlinien. Statt sich ernsthafte Gedanken über die auftretenden Widersprüche zwischen uns zu machen, haben sie nach ihren Maßstäben die AG verurteilt, über unsere Köpfe hinweg Entscheidungen für uns getroffen und uns vorgeschrieben, wie wir etwas zu machen hätten.« (Ebd.: 138f.)
Wenn man Kultur wie Mark Terkessides und Ruth Mayer als »dynamischen Prozess oder flexible Struktur« versteht, »die sich über die Verdichtung von Machtkämpfen, über Verschiebungen und Umkehrungen politischer, sozialer und ökonomischer Hierarchien und ästhetischer Symbolsysteme ständig neu figuriert« (Mayer/Terkessides 1998: 18), so ist die Popkultur in ihrer noch stärker grenzüberschreitenden Dynamik erst recht von immer schnelleren Prozessen »der Umschreibung, Brechung und Neuinterpretation« (Ebd.: 19) geprägt.
Insbesondere HipHop war aufgrund seiner Geschichte als Musik der afroamerikanischen Minderheit und seiner hybriden und grenzüberschreitenden Form durch Zitat und Sampling für die migrantisch geprägte Jugend interessant: »HipHop in der Bundesrepublik Deutschland war in der Tat die erste Jugendsubkultur, in die in hohem Maße auch sogenannte Migrantenjugendliche involviert waren«, schreibt etwa Ayla Güler Saied (Güler Saied 2013: 2). Ayhan Kaya ergänzt: »HipHop ist eine Jugendkultur, die einerseits marginalisierte Minderheiten unter Jugendlichen in die globale Mainstream-Kultur integriert. Andererseits bietet HipHop Jugendlichen mit einem ethnischen Minderheitenhintergrund die Möglichkeit, Solidaritätsnetzwerke gegen die Schlüsselthemen der Moderne wie Kapitalismus, Industrialismus, Rassismus, Überwachung, Egoismus, Einsamkeit, Unsicherheit, strukturelles Außenseitertum und Militarismus zu etablieren.« (Kaya 2003: 246) Die radikale Linke allerdings blieb kulturell mehrheitlich in ihrem von Punk, Hardcore und Gitarrenmusik abgesteckten Terrain – einst als wichtige Abgrenzung und Provokation gegen die Gitarrenbarden-Friedensbewegung auch von nicht zu unterschätzender Bedeutung –, blickte kritisch auf die Entwicklungen im HipHop und gab sich im besten Fall onkelhaft arrogant: »Ich will mich an dieser Stelle nicht zum Richter über ›gut‹ und ›böse‹ aufspielen, geschweige denn Bands wie Advanced Chemistry den guten Willen absprechen, aber die Parallelen und Fehler in der Entwicklung der Hip Hop und Hardcore-Szene sind fast schon beängstigend«, schloss etwa der Herausgeber des Punk-Magazins Zap Moses ein Interview mit Toni, dem Koch der Heidelberger HipHop-Band Advanced Chemistry (Zap 1993: 13).
Eine Ausnahme bildeten Die Goldenen Zitronen, die im Sommer 1992 die HipHop-Maxi »80 Millionen Hooligans« in Zusammenarbeit mit Easy Business und Eric »IQ« Gray produzierten. Günther Jacob schrieb zu diesem Projekt: »Interessant an dieser Maxi ist die Zusammenarbeit einer linksradikalen ›Punk-Band‹ mit Vertretern der normalerweise unpolitischen norddeutschen HipHop Old School sowie einem US-Rapper, und was dabei herausgekommen ist: Midtempo Rap und Hardcore Agitprop HipHop mit deutschen Texten gegen Faschismus, Hooligans und Rassismus. (…) Diese Platte zeigt, daß Rap, auch deutschsprachiger Rap, ergänzt durch Samples, dem Rockschema mit seinen leerlaufenden Refrains überlegen ist, wenn es darum geht, Bleiwüsten in Musik umzusetzen.« (Jacob 1993: 219)
Für eine kurze Zeit schien Mitte der Neunziger ein Zusammendenken radikaler linker Kritik, Antirassismus, »schwarzem HipHop« und »weißem Punk« möglich: »Viele (…) DJs, Musiker, Plattenkäufer/Verkäufer und Clubgänger verstehen sich als Linke, Autonome, Alternative oder so ähnlich. Leute mit Punk/HC-Vergangenheit basteln an HipHop-Loops (…), kooperieren mit eingewanderten Rappern und Toastern gegen Superdeutschland und machen HipHop-Sampler unter der Parole ›Kill the Nation with a Groove‹.« (Ebd.: 222) Eine nur kurzzeitige Allianz, mit deren Abebben Migrant*innen wieder zu dem wurden, was ihnen bereits vorher zugeschrieben war: Anschauungsobjekte, auf ihr Ausländisch-Sein reduzierte Menschen, deren Lebensrealität zunehmend im Nebel des Desinteresses verschwand. Feridun Zaimoglu schrieb dazu in seinem Buch Kanak Sprak: »Der Kanake taugt in diesem Fall als schillerndes Mitglied im großen Zoo der Ethnien, darf teilnehmend beobachtet und bestaunt werden. Türkensprecher gestalten bunte Begleitprospekte für den Gang durch den Mulikulti-Zoo, wo das Kebab-Gehege neben den Anden-Musik-Pavillon platziert wird.« (Zaimoglu 1995: 11)
Diese Feststellung galt auch für die radikale Linke. Die Lebensrealitäten von MigrantInnen waren in Deutschland von der Linken immer wieder an den Rand der Wahrnehmung gedrängt worden, selbst wenn man die gleichen Kämpfe führte. Etwa den Kampf um bezahlbaren Wohnraum im Frankfurt der frühen 1970er-Jahre – auch wenn dies in der Geschichtsschreibung gerne vergessen wird, waren daran von Anfang an Migrant*innen beteiligt, die ihre Kritik an überhöhte Mieten und desolate Wohnbedingungen an eine Kritik am deutschen Alltagsrassismus koppelten (Murat/Güngör 2002: 76). Die Artikulation von MigrantInnen beschränkte sich also nicht nur auf sogenannte Gastarbeiterliteratur, die meist vom Ankommen und Leben in Deutschland berichtete und nur im Subtext den Alltagsrassismus beschrieb, sondern zeigte sich auch in politischen Kämpfen Seite an Seite mit Student*innen und links-kulturellen Aktivist*innen.
Dennoch blieb die Kluft zwischen MigrantInnen und gleichaltrigen Deutschen ohne Migrationshintergrund über die Jahrzehnte aufgrund der unterschiedlichen Lebenswelten bestehen; in den Tracks afroamerikanischer HipHopper und deren Auseinandersetzung mit Rassismus in den USA fanden die Kinder der ersten und zweiten Gastarbeitergeneration ihren Alltag stärker widergespiegelt als in den politischen Diskussionen und subkulturellen Orten der deutschen antirassistischen Linken: »Nicht von ungefähr vergleicht sich die deutsch-türkische HipHop-Szene ständig mit der afroamerikanischen Popkultur. […] In deutsch-türkischen Rap-Konzerten gerade in Berlin hört man immer wieder Fans, die sich als ‚die Schwarzen von Deutschland‘ oder ‚deutsche Nigger‘ bezeichnen.« (Caglar 1998: 45)
Ayla Güler Saied hat in zahlreichen Interviews mit migrantischen HipHoppern herausgearbeitet, dass sich der Alltagsrassismus unabhängig von den tatsächlichen Lebensumständen, Wohnorten, Berufen der Eltern oder dem Bildungshintergrund als prägende Erfahrung zeigte: »Es ist der Erfahrungshorizont, der diese Jugendlichen verbindet und nicht ihre vermeintliche ethnische Zugehörigkeit.« (Güler Saied 2013: 3) Und so entstand mit dem durch People of Colour geprägten Rap, der sich nach den rassistischen Ausschreitungen im Zuge der Wiedervereinigung immer stärker politisierte, die erste auch von der Mehrheitsgesellschaft wahrgenommene migrantisch geprägte Popkultur, die sich mit der Situation in Deutschland und dem am eigenen Leib erfahrenen Alltagsrassismus beschäftige. »Der amerikanischen HipHop-Kultur sollte jetzt eine deutsche Version entgegengestellt werden. Auf der anderen Seite politisierten die rechtsradikalen Brandanschläge eine ganze Generation von HipHops und motivierten vor allem viele junge Migranten, dich dem Rap als Ausdrucksmittel zuzuwenden. ›Die ganzen Anschläge waren für mich ein Riesenabtörn und gleichzeitig die Ursache für meinen ersten Raptext‹, erinnert sich Careem von den FFMC’s. ›Das war dann ein Text gegen Glatzen. Das war mein erster deutscher Raptext.‹« (Loh/Güngör 2002: 107) Aber auch der immer weiter wachsende Rap wurde mehr und mehr von weißen Deutschen übernommen und durchzogen von einem strukturellen Rassismus; er setzte die »Spielregeln der Mehrheitsgesellschaft wieder in Kraft«, wie Hannes Loh und Murat Güngör schreiben (Ebd: 155). In dieser Zeit, Mitte der 1990er, initiierte der Kölner Rapper Ade (Adegoke Odukoya) die Initiative Poets Against Racism And Violence, deren Kontakte später den Grundstein für das afrodeutsche Projekt Brothers Keepers legten. 1994 scheiterte der erste Versuch der Initiative, migrantische Künstler*innen zu vernetzen und auf einem Sampler zu präsentieren: »Du hast gemerkt, dass die so was nicht mehr hören wollten. Das Thema ›rechte Gewalt‹ war für die gegessen, und plötzlich hattest du grundsätzlich Probleme, mit solchen Projekten bei den Labels zu landen, auch bei den kleinen Plattenfirmen. Deutschrap war jetzt das Ding und da war Sommer-Sonne-Sonnenschein angesagt. 1994 wollte Deutschland zur Normalität zurückkehren«, erinnert sich Ade (Ebd.: 260).
2001 formulierten die Brothers Keepers dann ihre »Letzte Warnung« und prompt wurde dem afrodeutschen Projekt, an dem sich unter anderem Samy Deluxe, Afrob, Xavier Naidoo und Denyo 77 beteiligten, Ausverkauf vorgeworfen, eine übertriebene Darstellung von Rassismus und ähnliches. Mark Terkessidis bemerkt dazu in einem Interview: »Es ist schon auffällig, wie viele Leute kritisch auf den Erfolg von Brothers Keepers reagieren. (…) Plötzlich ist man damit konfrontiert, diese Menschen im Kulturbetrieb auch als Subjekte akzeptieren zu müssen. Bislang waren sie auch da, bislang waren sie vielleicht Objekte der Forschung, das waren Leute, denen konnte man über den Kopf streicheln, oder man konnte auch mal mit denen solidarisch sein, wenn sie sich über Rassismus beschwert haben.« (Ebd.: 264) Und jetzt das: »Dies ist so was wie eine letzte Warnung, / denn unser Rückschlag ist längst in Planung. / Wir fall’n dort ein, wo ihr auffallt, / gebieten eurer braunen Scheiße endlich Aufhalt. / Denn was ihr sucht ist das Ende; und was wir reichen sind geballte Fäuste und keine Hände.« Der Track, der dem Dialog eine Absage erteilt, war eine Reaktion auf die Ermordung des Afrodeutschen Alberto Adriano, der im Juni 2000 von Nazis in Dessau zu Tode geprügelt worden war. Weil sich die Brothers Keepers, ebenso wie ihre »weibliche Variante« Sisters Keepers, ausschließlich aus Afrodeutschen zusammensetzten, fühlten sich einige Migrant*innen mit anderem Background übergangen und wiederum ausgegrenzt: »Viele Rapper türkischer Abstammung sind sich sicher: Wäre ein vergleichbares Projekt von jungen Migranten initiiert worden, dann hätte es einen Aufschrei der Empörung gegeben. ›Wenn wir es gemacht hätten‹, vermutet Kutlu, ›wir als Schwarzköpfe, egal, ob Türke, Marokkaner oder sonst was, dann wären wir ganz schnell als Asoziale verschrien gewesen, weil wir zur Gewalt aufrufen.‹« (Ebd.: 265)
Das Projekt Kanak Attak war medial dann auch weniger präsent. Im Gründungsmanifest hieß es: »Kanak Attak ist ein selbstgewählter Zusammenschluß verschiedener Leute über die Grenzen zugeschriebener, quasi mit in die Wiege gelegter ›Identitäten‹ hinweg. Kanak Attak fragt nicht nach dem Paß oder nach der Herkunft, sondern wendet sich gegen die Frage nach dem Paß und der Herkunft.« (Kanak Attak) Im Gegensatz zu den Brothers Keepers artikulierte sich Kanak Attak hauptsächlich in Texten (u.a. von Zaimoglu und Terkessidis) und Filmen, jedoch schien ein im Namen des Projekts entstandener Song mit dem Titel »Dieser Song gehört uns« die von Kutlu befürchteten Reaktionen zu bestätigen: der Track, in dem unter anderem Elena Lange, Microphone Mafia, Boulevard Bou u.a. zu hören sind, wurde 2004 indiziert, da es darin unter anderen heißt: »Heut morgen ging’s mir nicht so toll / wusste nicht ob ich zuerst meinen Nachbarn oder Wolfgang Schäuble erschießen soll / aus mir spricht nur der Hass den ihr geschaffen habt / logisch dass ein normaler Mensch in Deutschland überschnappt / wenn man sieht wie Unterschriften gesammelt werden / von geistigen Brandstiftern die mit Integration werben / zu viele Wichser die wir schon zu lange verschonen / Edmund Stoiber ist Deutschlands größter Hurensohn / zuviele Brüder und Schwestern sind tot doch nicht vergessen« (Link zum Soundfile des Songs) .
»Unser kleinster gemeinsamer Nenner besteht darin, die Kanakisierung bestimmter Gruppen von Menschen durch rassistische Zuschreibungen mit allen ihren sozialen, rechtlichen und politischen Folgen anzugreifen. Kanak Attak ist anti-nationalistisch, anti-rassistisch und lehnt jegliche Form von Identitätspolitiken ab, wie sie sich etwa aus ethnologischen Zuschreibungen speisen«, schreiben sie in ihrem Gründungsmanifest (Kanak Attack). Es war eine Geste der Abwendung vom Opferstatus, eine Reaktion auf die deutsche Leitkulturdebatte Ende der Neunziger. Der Idee einer homogegen Kultur wurde eine im positiven Sinne »unreine Gesellschaft« entgegengesetzt, wie Burcu Dogramaci schreibt: »Geschlossene Geschichtsmodelle und auch normative Kulturbegriffe werden verworfen, negiert, ausgeschlossen. Und dieser Ansatz meint auch die Sprache, die ein Hybrid unterschiedlicher Versatzstücke aus verschiedenen Sprachen – Deutsch, Türkisch, Arabisch usw. – und Dialekten ist, die Anglizismen vermengt mit deftigen Fäkalausdrücken und einem eigenen Rhythmus und einer eigenen Logik folgt.« (Dogramaci 2017: 235f.) Diese Vielstimmigkeit zeigt sich auch im Auftreten von Kanak Attak: Einerseits in Form klarer politischer Forderungen, auf der anderen Seite immer wieder auch in künstlerischen Kontexten und Formen. Dogramaci fasst zusammen: »So ist es nahezu unmöglich, Kanak Attak zu kategorisieren: Ist es eine künstlerisch ambitionierte politische Gruppierung oder eher ein künstlerischer Zusammenschluss mit politischem Impetus? Geht es um Sprache, Politik oder Geschichte?« (Ebd.: 237) Die Verweigerung, sich als politische oder künstlerische Gruppe zu definieren, war bei Kanak Attak bereits Teil des eigenen Selbstverständnisses, sich Vereinnahmungen zu entziehen.
Hannes Loh schrieb 2001, als die beiden Projekte Kanak Attak und Brothers Keepers parallel ihre ersten breiter wahrgenommenen Lebenszeichen von sich gaben: »Allerdings lassen die bisherigen Reaktionen auf die Projekte Kanak Attak und Brothers Keepers eher befürchten, dass das antirassistische Engagement der migrantischen Künstler vor allem begrüßt wird, weil das Sprechen über Rassismus in diesem Land sich so auf eine family affair reduzieren lässt.« (Loh 2001) Und in der Tat könnten solche Projekte auch als Entlastung für das weiße deutsche Gewissen rezipiert werden, das eine eigene Auseinandersetzung mit rassistischen Strukturen überflüssig macht. Dabei hatte gerade Kanak Attak in seinem Versuch, Theorie und Praxis zusammenzuführen, durchaus das Potential eben nicht nur family affair zu bleiben, sondern zu einer übergreifenden Auseinandersetzung über Rassismus zu führen. Leider ist es dazu nicht gekommen, strukturell hat sich seitdem wenig geändert.
Anknüpfungen an diese Formen der politischen Konfrontation über HipHop gab es immer wieder, seien es einzelne migrantisch geprägte HipHop-Acts wie Hayat & Motando aus Berlin oder Projekte wie »Spuck auf Rechts«, eine von GigoFlow ins Leben gerufene Sammlung musikalischer Statements von migrantischen und nicht-migrantischen HipHoppern, die sich gegen Rassismus, Nazis und Dummheit wenden, und an der unter anderen Duman, Acero Moretti, Kronstadt, Daisy Chain & Mis Zebra und Sookee beteiligt waren. Die mediale Präsenz der Brothers Keepers hat allerdings keines der Projekte erreicht und ebenfalls nicht den theoretischen Anspruch einer Reflexion von strukturellem Rassismus wie bei Kanak Attak formuliert. Auf der anderen Seite stehen große, staatlich unterstützte Projekte wie »Rock gegen Rechts«, die wiederum auf klassische Gitarrenmusik setzen und stärker ein nicht-migrantisches Publikum ansprechen; kein Wunder bei einer Initiative, an der sich Musiker wie Udo Lindenberg oder Peter Maffay beteiligen. Die kulturelle Kluft zwischen den musikalischen Konzepten gegen Rassismus bleibt bestehen.
Ein hochkultureller Versuch, Grenzen zu überschreiten, stand dagegen am Anfang der Kampagne »kein mensch ist illegal«, dessen Gründungsaufruf auf der documenta 1997 in Kassel verabschiedet wurde: »Ende Juni kam es in Kassel zu einem bundesweiten Treffen antirassistischer Gruppen im Rahmen des documenta-Projekts Hybrid WorkSpace, einer Art offenem Medienlabor. In Ergänzung zur documenta-Vortragsreihe ‚100 Tage – 100 Gäste’ sollte Hybrid WorkSpace Raum zur Diskussion sozialer, politischer und kultureller Themen bieten (…).« (Barth 1997: 144) Die Journalisten jedoch interessierten sich nicht für die Verknüpfung von Kultur und Politik und ignorierten weitestgehend die dort stattfindenden Diskussionen. Die Kampagne hat sich in den Jahren ihres Entstehens immer weiter von ihrem Entstehungskontext im Kunstbetrieb entfernt, und wird seitdem wegen ihrer Verbindungen zu vermeintlich linksextremen Kontexten immer mal wieder in Verfassungsschutzberichten erwähnt.
Feridun Zaimoglu hat über das schwierige Verhältnis migrantisch geprägter Kultur, die versucht, sich einer »deutschen Leitkultur«, den Erwartungen des Literaturbetriebs oder der bürgerlichen Vorstellungen von Kunst anzupassen, geschrieben: »der alipoet steht für nixs, er ist nurmehr eine fassong mit langem bart, er ist ein zirkuspudel, und somit, was anfänglich mit voller absicht in seine natur gelegt war und wurde, nicht einmal mehr eine attraktion im mültikültizoo. wir reden über untotes, wir reden über menschen, die theoretisch und praktisch und ästhetisch zu den sozialen kämpfen der gegenwart und der nahen zukunft einen scheißdreck beitragen. wer sich aufs feuilleton-sentiment kapriziert und von den bourgeois staatstragender hochherrschaftspostillen mit einem toitschen flatus in die fremdenfresse bedacht wird, hat es als lakai im schlimmsten und täppsicher ziegentreiber im weniger schlimmen falle nicht anders verdient als erledigt zu werden. ihr seid erledigt, motherfuckers!« (Zaimoglu 1998: 96f.)
Literatur
ak wantok (Hg.): Antifa Gençlik. Eine Dokumentation (1988–1994). Münster: Unrast 2020 (2. korrigierte Auflage).
Moses Arndt: »Advanced Chemistry«, in: Zap #56/Januar 1993, S. 11–13.
autonome l.u.p.u.s. gruppe: Geschichte, Rassismus und das Boot. Wessen Kampf gegen welche Verhältnisse. Berlin: Edition ID-Archiv 1992.
Garip Bali: »Historische und soziale Verortung«, in: ak wantok (Hg.): Antifa Gençlik. Eine Dokumentation (1988–1994). Münster: Unrast 2020 (2. korrigierte Auflage), S. 13–16.
Vanessa Barth: »Kein Mensch ist illegal. Eine Kampagne«, in: Die Beute #15/1997, S. 144.
Ayse Caglar: »Verordnete Rebellion. Deutsch-türkischer Rap und türkischer Pop in Berlin«, in: Ruth Mayer/Mark Terkessidis (Hg.): Globalkolorit. Multikulturalismus und Populärkultur. Höfen: Hannibal 1998, S. 41–56.
Burcu Dogramaci: »Manifeste der Migration. Von Kanak Attak zum Manifest der Vielen«, in: Burcu Dogramaci/Katja Schneider (Hg.): Clear the Air. Künstler-Manifeste seit den 1960er Jahren. Bielefeld: transcript 2017, S. 231–246.
Ayla Güler Saied: Rap in Deutschland. Musik als Interaktionsmedium zwischen Partykultur und urbanen Anerkennungskämpfen. Bielefeld: transcript 2013
Günther Jacob: Agit-Pop. Schwarze Musik und weiße Hörer. Texte zu Rassismus und Nationalismus, HipHop und Raggamuffin. Berlin: Edition ID-Archiv 1993.
Hanna Kahina: »Autonome Flüchtlingshilfe. Der Osten schlägt zurück«, in: Wohlfahrtsausschüsse (Hg.): Etwas Besseres als die Nation. Materialien zur Abwehr des gegenrevolutionären Übels. Berlin: ID-Archiv 1994, S. 56–58.
Kanak Attak: »Manifest«.
Ayhan Kaya: »›Scribo Ergo Sum‹: Islamic Force und Berlin-Türken«, in: Jannis Androutsopoulos (Hg.): HipHop. Globale Kultur – lokale Praktiken. Bielefeld: transcript 2003, S. 245–272
Hannes Loh: »Die Scheiße wirklich halten«, in: Jungle World 25/2001.
Hannes Loh/Murat Güngör: Fear of a Kanak Planet. HipHop zwischen Weltkultur und Nazi-Rap. Höfen: Hannibal 2002.
Ruth Mayer/Mark Terkessidis: »Retuschierte Bilder. Multikulturalismus, Populärkultur und Cultural Studies, Eine Einführung«, in: Ruth Mayer/Mark Terkessidis (Hg.): Globalkolorit. Multikulturalismus und Populärkultur. Höfen: Hannibal 1998, S. 7–23.
Wohlfahrtsausschuß Hamburg: »Unser Minimalziel … Einladungsflugblatt zur ersten Diskussion um ›Etwas Besseres als die Nation‹«, in: Wohlfahrtsausschüsse (Hg.): Etwas Besseres als die Nation. Materialien zur Abwehr des gegenrevolutionären Übels. Berlin: ID-Archiv 1994, S. 17–18.
Ercan Yasaroglu: »Kritik Selbstkritik«, in: ak wantok (Hg.): Antifa Gençlik. Eine Dokumentation (1988–1994). Münster: Unrast 2020 (2. korrigierte Auflage), S. 117–150.
Feridun Zaimoglu: Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft. Berlin: Rotbuch 1995.
Feridun Zaimoglu: »sicarim süppkültürünüze, züppeler! Ich scheiße auf eure Subkultur, ihr Schmöcke!«, in: Tom Holert/Mark Terkessidis: Mainstream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft. Berlin: Edition ID-Archiv 1996, S. 86–95.
Feridun Zaimoglu: »Gastarbeiterliteratur. Ali macht Männchen«, in: Ruth Mayer/Mark Terkessidis (Hg.): Globalkolorit. Multikulturalismus und Populärkultur. Höfen: Hannibal 1998, S. 85–97.
Ohne Autor: »›Wir sind die Nicht-Gewollten‹. Ein Interview mit einem Gründungsmitglied der Antifa Gençlik«, in: Straßen aus Zucker #9/2013
Ohne Autor: „Die absolute Wahrheit über HipHop und Gottings“, in: Zap #70/August 1993, S. 9–11.