Nachricht | Staat / Demokratie - USA / Kanada - Brennpunkt USA Der Niedergang der USA

Der amerikanische Rassismus ist im Begriff, die Fortschrittlichkeit der USA zunichte zu machen – und damit das, was am liberalen Internationalismus positiv war.

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John Feffer,

Spätestens seit dem Vietnamkrieg sind Klagen über den Niedergang der USA gang und gäbe.

Mit der Veröffentlichung von Paul Kennedys «Aufstieg und Fall der großen Mächte» erfuhr die Untergangsstimmung (Deklinismus) in den späten 1980er Jahren einen Aufschwung. Kennedy warnte darin vor den Gefahren eines überdehnten Imperialismus. Selbst der vermeintliche Sieg über die Sowjetunion im Kalten Krieg bedeutete nur eine kurze Verschnaufpause für die endlosen Diskussionen über den Statusverlust der USA gegenüber anderen Nationen, insbesondere dem aufstrebenden China.

John Feffer ist Direktor von Foreign Policy in FocusÜbersetzung von Charlotte Thießen und Lisa Jeschke für Gegensatz Translation Collective.

Hierzulande erreichen die Klagen um Amerikas Verfall normalerweise spätestens dann einen neuen Höhepunkt, wenn die American Society of Civil Engineers (ASCE) alle vier Jahre ihre Noten für die Infrastruktur des Landes vergibt. 

2017 bewertete die ASCE den Zustand von Straßen, Brücken, Schulen, Parks und öffentlichem Verkehr in den USA mit einer 4+. «So soll eine fortschrittliche Wirtschaft aussehen?» fragen sich die Menschen, wenn sie auf den heruntergekommen Bus warten; auf der Autobahn in ein Schlagloch fahren; sich vom Wasser, das aus den Wasserhähnen kommt, als ungenießbar abwenden; oder ihre Kinder an der baufälligen, bald abzureißenden Schule absetzen.

Im amerikanischen Schulwesen ist eine 4 zwar keine zufriedenstellende Note, offiziell ist sie  jedoch noch ausreichend. Was die Infrastruktur angeht, so stehen die USA kurz davor, die Prüfung nicht zu bestehen.

Nun ist es soweit gekommen: Die Prüfung der letzten Monate wurde nicht bestanden. Mit rasanter Geschwindigkeit, enormen Leichtsinn und großer Impulsivität hat sich das Land in den Bereich des Totalversagens begeben.

Als Erstes wäre da das Versagen der Staatsführung zu nennen: Die letzten drei Jahre hindurch wurde das Land von einem korrupten, inkompetenten Möchtegern-Diktator regiert, der sich bei dicht aufeinander folgenden Krisen als sagenhaft unfähig herausgestellt hat. 

An zweiter Stelle steht das Versagen, amerikanische Leben zu retten: Mehr als 100.000 Menschen sind am Coronavirus gestorben – eine Sterberate, die man normalerweise nur aus Kriegszeiten kennt.

Drittens ist da das Scheitern des amerikanischen Traums: Das Coronavirus hat zum Zusammenbruch der Wirtschaft mit einem Anstieg der Arbeitslosenquote auf nahezu 20 Prozent geführt.

Zu guter Letzt ist das chronische Versagen zu nennen, das im amerikanischen Rassismus liegt. Der Tod eines weiteren Afroamerikaners in den Händen der Polizei hat landesweite Proteste ausgelöst: Am 25. Mai legte ein Polizist in Minneapolis George Floyd wegen des Verdachts, er habe mit einem gefälschten 20-Dollar-Schein gezahlt, in Handschellen, drückte ihn zu Boden, presste ihm das Knie in den Nacken und tötete ihn so. Floyd zählt zu den über 7.5000 Menschen, die seit 2013 von der Polizei ermordet wurden. 

Die Protestierenden haben die Nase voll vom Profiling, von den gezielten Festnahmen und den Tötungen durch die Polizei. Gleichzeitig sind sie wütend darüber, dass sowohl die Pandemie als auch der Wirtschaftskollaps People of Color unverhältnismäßig hart trifft. Die Wut ist vollkommen nachvollziehbar. «Ich kann nicht atmen» beschreibt die Erfahrung sowohl von Opfern von Polizeigewalt als auch von am Coronavirus Erkrankten.

Trotz der 60.000 Soldat*innen der Nationalgarde, die in 24 Staaten mobilisiert wurden, sind die Proteste an sich ein Zeichen der Hoffnung.

Auch die vielen Solidaritätsbekundungen während der Proteste geben Anlass zur Hoffnung. In mehreren Städtenknieten Polizist*innen neben Demonstrant*innen nieder. Bürgermeister*innen wie zum Beispiel Keisha Lance Bottoms in Atlanta haben sich offen gegen den US-Präsidenten ausgesprochen. Hier in Washington sagte die Inhaberin eines Restaurants, das von Randalierer*innen in Brand gesteckt wurde: «Was hier passiert ist, ist nebensächlich. Wir waren drei Monate lang im Lockdown; 100.000 Menschen sind gestorben. Ich finde die Proteste super, meiner Meinung nach sind sie berechtigt.»

In jedem Fall kann man Amerika in Anbetracht der langen Liste wirtschaftlicher, politischer, sozialer und medizinischer Mängel kaum als fortschrittliche Industrienation bezeichnen. Während Aufstieg und Untergang von früheren Zivilisationen nur per Zeitraffer visualisiert werden können, lässt sich der unglaublich rapide Statusverlust der USA gerade mit bloßem Auge beobachten. «Ich kenne diese Art von Gewalt», äußerte sich ein ehemaliger CIA-Analytiker für China und Südostasien in der Washington Post: «Das ist das Verhalten von Autokraten. So sieht es in Ländern aus, die vor dem Zusammenbruch stehen.»

Die Mittel- und Oberschicht mag das überraschen, dabei sind die derzeitigen Proteste ein klares Anzeichen dafür, dass ein beträchtlicher Anteil der amerikanischen Bevölkerung nie in einem entwickelten Land gelebt hat. Viele Amerikaner*innen leben in einem Land, das Michael Harrington schon vor fast 60 Jahren als «das Andere Amerika» bezeichnete.

Trumps rassistische Antwort

Obwohl seine Taten Chaos stiften und gesetzeswidrig sind, hat sich Donald Trump von Anfang an als Law-and-Order-Politiker inszeniert.

Er hat kaum bis gar kein Mitgefühl für die Opfer von Polizeigewalt. Kaum hatte Trump nach George Floyds Tod flüchtig sein Beileid bekundet, ging er dazu über, sich abfällig über Demonstrant*innen, demokratische Governeur*innen, «KRIMINELLE» und dergleichen zu äußern. Sollte man es wagen, das Gelände des Weißen Hauses zu betreten, drohte er «mit den bösartigsten Hunden und den unheilvollsten Waffen». Er verkündete, dass er die Antifa zur terroristischen Organisation erklären würde. Sein Tweet «Wo geplündert wird, wird geschossen» steht dem Gehabe eines Diktators der untersten Liga in nichts nach.

In einem Telefongespräch legte er Gouverneur*innen nahe: «Ihr müsst dominieren. Wenn ihr nicht dominiert, verschwendet ihr eure Zeit. – Sie werden euch überrennen und ihr werdet ausschauen wie ein Haufen Idioten». Er legte nach: «Ihr müsst Festnahmen machen, die Leute vor Gericht stellen und heftige Gefängnisstrafen verhängen.» Später drohte er im Rosengarten des Weißen Hauses: «Wenn eine Stadt oder ein Bundesstaat sich weigern, Maßnahmen zu ergreifen, die notwendig sind, um das Leben und den Besitz ihrer Bürger*innen zu schützen, dann werde ich das Militär der Vereinigten Staaten einsetzen und das Problem schnell für sie lösen.»

Trotz Trumps Forderungen nach Recht und Ordnung heißen Rechtsextreme die gelegentlichen gewaltsamen Ausschreitungen der Proteste willkommen, da sie ihrem Bestreben, das Land in einen «Rassenkrieg» zu stürzen, zugutekommen. Mitglieder von Milizen, weiße Extremist*innen und sogenannte «Boogaloo Bois» wollen die Coronaviruskrise dahingehend ausnutzen, den Niedergang eines liberalen, multikulturellen

Amerikas zu «beschleunigen». Dabei beteiligten sie sich sogar an Protesten gegen polizeiliche Gewalt und verbreiteten Informationen zu ihren eigenen gewaltsamen Aktionen im Internet.

Letzten Endes begünstigen militante Störungen ansonsten friedlicher Demonstrationen diese rechtsextremen Absichten. Und auch Trumps Vorhaben wird durch diese Gewalt gefördert.

Trump betreibt seine eigene Form des Akzelerationismus und tut alles, was in seiner Macht steht, um das Land von innen zu zerstören: Er greift zu hasserfüllter Sprache, führt polarisierende Maßnahmen ein und erfreut sich allem Anschein nach am Chaos, den seine Staatsführung auslöst. Seine einzige Hoffnung auf eine zweite Amtszeit könnte derzeit die Ausrufung des Ausnahmezustands zur Beruhigung des selbstgeschaffenen Chaos sein – was zu weiterem Chaos führen würde, das natürlich nur er unter Kontrolle bringen könnte.

Edward Luc schreibt in der Financial Times: «Trump macht wenig Hehl daraus, dass er ein Amerika wie von vor den Bürgerrechten herbeiwünscht, in dem weiße Männer die unangefochtene Machtposition innehatten.» Mehr noch, Trump selbst will sich diese unangefochtene Machtposition sichern und er meint, dieses Ziel auf dem Rücken der Proteste erreichen zu können.

Amerikas Rassismus ist ein Problem für die Außenpolitik

Donald Trumps Außenpolitik hatte schon immer rassistische Aspekte.

Seit seinem Amtsantritt gab Trump zum Beispiel in seiner Einwanderungspolitik vorwiegend «weißen» Ländern den Vorzug; er führte ein Einreiseverbot für Menschen aus mehrheitlich muslimischen Staaten ein und äußerte sich abwertend über «Drecksloch-Länder», stattdessen sollte es mehr Einwanderung aus Ländern wie Norwegen geben. Vier Kongressabgeordnete – von denen drei in den USA geboren sind – sollten «zurück, wo sie herkommen, und dazu beitragen, diese total kaputten und von Kriminalität befallenen Orte in Ordnung zu bringen». Er macht mit Vorliebe «die Chinesen» für den Ausbruch des Coronavirus verantwortlich, wobei er genau weiß, dass derartige Verschwörungstheorien die anti-asiatische Stimmungsmache befeuern.

Geld und Atomwaffen machen ihm ein «Drecksloch-Land» jedoch zum Freund. So biedert sich Trump bei Nordkoreas Kim Jong-un und Saudi Arabiens Mohammed bin Salman an. Das war schon immer Trumps modus operandi: Wenn es um Machthaber geht, sieht Trump keine Hautfarbe.

Donald Trump hat den Rassismus nicht aus dem Nichts in die amerikanische Außenpolitik eingeführt. Wie ich schon im Januar 2018 schrieb, «fasste Trump lediglich ein der amerikanischen Außenpolitik zugrundeliegendes Prinzip in Worte. Über Jahrzehnte behandelten die USA andere Länder wie ‹Dreckslöcher›, selbst wenn die politischen Entscheidungsträger sie nicht als solche bezeichneten, zumindest nicht in der Öffentlichkeit.» Rassismus schlägt sich in den Prioritäten des Staatshaushalts nieder, sei es im lächerlich kleinen Budget für Entwicklungshilfe, in den Mustern amerikanischer Interventionen, in der ethnischen Zusammensetzung der «Frontarbeiter*innen» (auch «grunts», «Frontschweine», genannt) der US-Armee und selbst in der Militarisierung der Polizei durch das Pentagon. Trump ist sicherlich nicht der Urheber dieser Dynamiken, allerdings hat er in vielen Fällen dafür gesorgt, dass sie sich weiter zuspitzen.

Die Art und Weise, wie der amtierende Präsident den Rassismus anfacht, ist allerdings nicht nur Rhetorik. Sein Wahnsinn hat Methode. 

Trump bedient sich des Rassismus als Werkzeug, um auch die letzten Überreste einer liberalen internationalistischen Einstellung in den USA zu beseitigen. Die Philosophie des liberalen Internationalismus inspirierte die USA, die Vereinten Nationen ins Leben zu rufen, das Friedenscorps einzurichten, Entwicklungshilfe zu organisieren und mit anderen Ländern gegen die Erderwärmung zu kämpfen. Der liberale Internationalismus mag schon immer seine Schwächen gehabt haben – von Paternalismus bis hin zur Naivität –, aber er ist dem autoritären Nationalismus, den Trump als Alternative vorschlägt, allemal vorzuziehen.

Trumps rassistisches Vorgehen im In- und Ausland hat dem liberalen Internationalismus den Boden unter den Füßen weggezogen. Kein Land kann die Menschenrechtsrhetorik der USA mehr ernstnehmen. Kein Land kann den Anspruch auf Unparteilichkeit der USA als Vermittler in Friedens- und Klimaabkommen oder Abkommen sonstiger Art annehmen. Kehr erst einmal vor deiner eigenen Tür, wird die Antwort sein.

Vor der eigenen Tür zu kehren, ist schon lange der Wunsch sozialer Bewegungen in den USA: der Bürgerrechtsbewegung, der Bewegung für die Rechte von LGBT-Menschen, der Black Lives Matter Bewegung. Sie haben auch weltweit Bewegungen in anderen Ländern ausgelöst, die sich vor Ort für die Verbesserungen einsetzen. Am heutigen Tag zum Beispiel haben die Proteste gegen amerikanische Polizeigewalt auch in Paris 15.000 Menschen, in Amsterdam 10.000 Menschen, mehrere zehntausend Menschen in Auckland, und tausende in London und Berlin und in ganz Australien dazu bewegt, zu demonstrieren. 

Das amerikanische Bemühen um die Durchsetzung der Menschenrechte weltweit sollte als Erweiterung dieser sozialen Bewegungen verstanden werden. All das wird gefährdet von Trumps rassistischer Inlandspolitik sowie seinem Angriff auf den liberalen Internationalismus in der Auslandspolitik.

«Wir hoffen sehr, dass die weltweiten Proteste Washington daran erinnern, dass die Vorbildfunktion der USA ein einzigartiger Vorteil ist, der die USA von anderen Großmächten abhebt – von China, Russland und selbst von Europa», bemerkt Wolfgang Ischinger, ehemaliger Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in den USA. «Es wäre höchst bedauerlich, wenn die Trump-Administration eine riesige Chance für die USA zu einer moralischen Abdankung verkommen ließe.»

Leider hat Trump seine eigene Vorstellung davon, was es bedeutet, vor dem Haus zu kehren und diese Vorstellung schließt es nicht aus, das Haus einfach in Brand zu setzen. Gegen Trumps Nationalismus hilft nicht weniger Internationalismus, sondern, im Gegenteil: der Wiedereintritt in internationale Organisationen und Abkommen, aus denen Trump ausgetreten ist, und erneutes Engagement in der Welt und auf Augenhöhe.

Ein solcher Wiederaufbau von Beziehungen muss mit einer schwierigen Auseinandersetzung mit dem Rassismus der USA einhergehen, denn die Ungerechtigkeit, die in den USA herrscht, spiegelt sich in den globalen Machtstrukturen wider.

Nur so kann Amerika seinem Niedergang ein Ende setzen und erneut an der Gemeinschaft der Nationen teilhaben.