Tremaine Wright hatte über zehn Jahre dem Community Board ihres Stadtviertels gedient, bevor sie 2016 in die New York State Assembly, das Abgeordnetenhaus des Bundesstaats, gewählt wurde. Als Velmanette Montgomery, die seit 35 Jahren im New Yorker Senat saß, ankündigte, dass sie 2020 nicht erneut zur Wahl antreten werde, hatte sie Wright als Nachfolgerin in ihrem Wahlbezirk empfohlen, der sich von Central- bis South Brooklyn erstreckt.
John Tarleton ist Mitbegründer und Chefredakteur von The Indypendent, einer progressiven Zeitschrift und Webseite, die seit 2000 in New York City veröffentlicht wird. Übersetzung von Charlotte Thießen und Utku Mogultay für Gegensatz Translation Collective.
Wright konnte sich auch den Rückhalt von weiteren Amtsträger*innen in Brooklyn sichern und Gewerkschaften sowie Basisgruppen der Demokratischen Partei für sich gewinnen. Unter normalen Umständen wäre Wrights Wahl zu einer womöglich jahrzehntelangen Amtszeit im New Yorker Senat eine reine Formsache und kein Wettstreit gewesen. Allerdings sind dies alles andere als normale Zeiten für die einst unschlagbaren Seilschaften der New Yorker Demokraten.
In der Wahlnacht lag Wright zwölf Punkte hinter Jabari Brisport. Der schwarze Lehrer und demokratische Sozialist arbeitete an einer öffentlichen Schule und hatte noch nie ein öffentliches Amt bekleidet. Als dann Anfang August auch die Briefwahlstimmen ausgezählt waren, lag Wright 23 Punkte hinter Brisport.
Brisports Sieg gegen eine Favoritin des demokratischen Establishments war in New York kein Einzelfall. Die Abgeordneten Félix Ortiz (Sunset Park), Walter Mosley (Fort Greene) und Aravella Simotas (Astoria) wurden allesamt von Kandidat*innen abgelöst, die erstmals antraten und von den Democratic Socialists of Amerika (DSA) unterstützt wurden.
«Die Ergebnisse des heutigen Tages sollten Amtsinhaber*innen in der ganzen Stadt eine Lehre sein,» twitterte Aaron Taube, Mitglied der Arbeitsgruppe Wahlen der DSA in Queens «dass man jeden Tag so leben muss, als trete man in den Vorwahlen gegen charismatische Sozialist*innen an, die sich auf die Spenden einer landesweiten Basisbewegung und einen beispiellosen Freiwilligeneinsatz verlassen können.»
Auch andere progressive Gruppen bestärkten diesen Trend:
- Die von ehemaligen Teammitgliedern der Wahlkampfkampagne von Bernie Sanders gegründete Organisation Justice Democrats unterstützte erfolgreich Jamaal Bowman, Schulleiter einer Mittelschule, gegen den Kongressabgeordneten und Hardliner Eliot Engel in einem Bezirk, der Teile der Bronx und des Westchester County umfasst.
- Die Working Families Party (WFP) spielte in der Bowman-Kampagne eine maßgebende Rolle. Die WFP verhalf auch Jessica González-Rojas zu ihrem Sieg gegen einen weißen, männlichen Abgeordneten, der als Vertreter eines multiethnischen Bezirks in Western Queens seinen Zenit überschritten hatte. Sie setzten sich auch für Khaleel Anderson ein, einen 24-jährigen Aktivisten, der im südöstlichen Queens einen freien Sitz in der State Assembly gewann und somit über einen Favoriten des Establishments siegte.
- Im Norden Brooklyns verdrängte Emily Gallagher den schon seit 47 Jahren amtierenden Joseph Lentol. Sie wurde von den NY Communities for Change und den New Kings Democrats unterstützt, einer Reformgruppe aus der Obama-Ära, die sich im letzten Jahrzehnt gegen das demokratische Establishment in Brooklyn durchzusetzen suchte.
Gruppen, wie die Justice Democrats und die Working Families Party, die eher politische Beratungsfirma als echte politische Partei ist, leisten den Kandidat*innen an der Basis wertvolle Hilfe in Sachen Spendenbeschaffung, Öffentlichkeitsarbeit und Wahlkampfinfrastruktur. Die Democratic Socialists of Amerika belassen es aber nicht dabei, sondern entwickeln Wahlkampagnen, wie sie New York noch nie gesehen hat.
Die DSA sind keine politische Partei, sondern eine Organisation, die sowohl inner- als auch außerhalb der Wahlpolitik arbeitet. Sie unterstützen Mietrechtkampagnen, Kampagnen gegen Polizeigewalt und militante Arbeitskämpfe, wo sie auftauchen. Sie machen keinen Hehl aus ihrem Wunsch, dem Kapitalismus ein Ende zu setzen und die Wirtschaft unter demokratische Kontrolle zu bringen. Im Gegensatz zu anderen sozialistischen Parteien, hinter deren revolutionärer Rhetorik oft nur wenig steckt, setzen sich die DSA für kleinere Erfolge im Hier und Jetzt ein und sind gewillt, mit dem politischen System zusammenzuarbeiten.
Eigene Kandidat*innen stellen die DSA fast ausschließlich im Kontext von demokratischen Vorwahlen. Das ist eine taktische Antwort auf die strukturellen Schranken des amerikanischen Zweiparteiensystems, das kleine Parteien an den Rand drängt. Zudem ist es ein wohldurchdachtes Vorgehen: In den Vorwahlen ist die Wahlbeteiligung generell niedrig und begünstigt somit Gruppen, deren hochmotivierte Anhänger*innen wählen gehen.
Mit mehr als 6.000 Mitgliedern ist der DSA-Verband in New York der größte im ganzen Land. Er entscheidet sehr sorgfältig, wen sie als Kandidat*in unterstützt. Kandidat*innen, die sich um die Gunst der DSA bemühen, müssen einen vielschichtigen Prozess durchlaufen, der durch die vielen Ebenen einer Organisation führt, die darauf bedacht ist, ihre Mitglieder in Entscheidungsprozesse miteinzubeziehen.
Wenn sich die DSA allerdings dazu entscheiden, Kandidat*innen zu unterstützen, dann werden viele Hebel in Bewegung gesetzt: Hunderte von höchst motivierten ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen gehen für ihre Kandidat*innen von Tür zu Tür und werben für sie, erfassen Daten, führen Telefonate und sammeln Spendengelder.Wenn sie sich auf eine Schlüsselwahl konzentrieren wollen, können die DSA als landesweite Organisation Verstärkung mobilisieren – Mitglieder der fast 200 Ortsverbände im ganzen Land arbeiten von Zuhause an ihren Laptops an Telefonkampagnen mit, verfassen handgeschriebene Postkarten an potenzielle Unterstützer*innen ihrer Kandidat*innen und spenden zusätzlich noch kleine Beträge.
Keine andere Organisation in New York City kann eine vergleichbare Armee ehrenamtlicher Mitarbeiter*innen vorweisen, auch nicht die zunehmend austrocknenden Gewerkschaften. Mit jedem Wahlzyklus gewinnen die DSA an Stärke.
Seit 2018 spielten sie eine Schlüsselrolle bei der Wahl der berühmtesten Kongressfrau der USA, Alexandria Ocasio-Cortez, zweier Bundesstaatssenator*innen und dreier Abgeordneter der State Assembly.
Die Erfolge ziehen neue Mitglieder an, die wiederum neue Dinge hinzulernen: von den Grundlagen der Wahlwerbung und der telefonischen Stimmenwerbung bis hin zu den Aufgaben, die in der traditionellen Kampagnenarbeit meist von professionellen Politfunktionären übernommen werden. Die Organisation sammelt sämtliche Informationen, die sie im Austausch mit Wähler*innen gewinnt, um sie bei künftigen Wahlkämpfen berücksichtigen zu können. Diejenigen, denen sie bereits zu Ämtern verhalf, verleihen auch zukünftigen Kandidat*innen, die unter dem Banner der DSA antreten, zusätzliche Glaubwürdigkeit.
Warum gerade jetzt dieser Aufschwung?
Ausgelöst wurde er durch die ideologische Kluft, die sich 2016 während der Präsidentschaftskandidatur von Bernie Sanders zwischen jüngeren und älteren Demokrat*innen auftat. Zwei Jahre später konnte Ocasio-Cortez mit ihrem historischen Sieg über Joe Crowley in den Kongressvorwahlen die Mär widerlegen, es sei vergebliche Mühe, eine*n Amtsinhaber*in herauszufordern.
Die Seilschaften der Demokratischen Partei haben sich als vollkommen ausgehöhlt gezeigt, ein Monopol, dessen Angebot nurmehr relativ wenige Bürger*innen anspricht und sich nur aufgrund der großen Spendensummen, gegenseitiger Befürwortung und undurchsichtigen Wahlgesetzen durchsetzen konnte. Seit sich nun endlich eine tatsächliche Opposition formiert und organisiert hat, ist das Establishment nicht selten überfordert. Brisport teilte dem Autor dieses Artikels mit, dass 1.000 Freiwillige an seiner Kampagne beteiligt waren. Ihm zufolge wurden 350.000 Telefongespräche getätigt. Zudem hat er einen Rekord für die meisten Spenden bei einer Wahl für den Senat des Bundesstaats aufgestellt: 7.500 Unterstützer*innen haben einen Gesamtbetrag von 280.000$ gespendet. Die anderen DSA-Kandidat*innen konnten ihre Basis mit ähnlichem Einsatz zu ihren Gunsten mobilisieren.
Im Kontext größerer, landesweiter Wahlen bleibt die traditionelle Art, Politik zu betreiben, vorerst bestehen. Abgeordnete, die ihre Position dahingehend ausnutzen, Millionen von Dollars von Lobbyisten zu sammeln, können diese Gelder dafür einsetzen, sämtliche Kanäle mit ihren Wahlwerbespots zu fluten. Eine Basis-Kampagne, die sich auf Freiwilligenarbeit stützt, hat es schwer, in einem großen Bundesstaat wie New York mit fast 20 Millionen Einwohner*innen mitzuhalten. So kam es auch, dass Andrew Cuomo 2018 in der ersten Vorwahl seinen linke Widerstreiterin um mehr als 30 Punkte hinter sich lassen konnte, während progressive Kandidat*innen in der Lage waren, mehr als sieben Sitze im Senat des Bundesstaats zu erobern und somit die gesamte Legislative nach links zu verschieben.
In New York werden sich bei den Lokalwahlen kommendes Jahr die Schleusentore öffnen, wenn sämtliche Ämter der Stadt und 35 der 51 Sitze des New Yorker Stadtrats zur Wahl stehen. Dasselbe gilt für die Vorwahlen für das Repräsentantenhaus im Jahr 2022. Nach Jahrzehnten des Stillstands werden Bundesstaats- und Lokalpolitik in New York einen demokratischen Aufschwung erleben, der vor wenigen Jahren noch unmöglich erschien.
Die Seilschaften der Demokratischen Partei haben sich als vollkommen ausgehöhlt gezeigt, ein Monopol, dessen Angebot nurmehr relativ wenige Bürger*innen anspricht und sich nur aufgrund der großen Spendensummen, gegenseitiger Befürwortung und undurchsichtigen Wahlgesetzen durchsetzen konnte. Seit sich nun endlich eine tatsächliche Opposition formiert und organisiert hat, ist das Establishment nicht selten überfordert.