Nachricht | Soziale Bewegungen / Organisierung - Westasien - Libanon / Syrien / Irak - Westasien im Fokus Trauer, Stolz und eine Geschichte, die noch nicht zu Ende geschrieben ist

Jahrestag der irakischen Oktoberrevolution – ein Bericht aus Bagdad

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Schluwa Sama,

Protestierende auf der Al-Jumhuriya Brücke. Bagdad, 1.10.2020
Protestierende auf der Al-Jumhuriya Brücke. Bagdad, 1.10.2020 Foto: Schluwa Sama

Ein Jahr nach dem Beginn der irakischen Revolution haben sich wieder Aktivist*innen und Protestierende auf dem zentralen Tahrir-Platz in Bagdad versammelt. Viele von ihnen tragen schwarze T-Shirts: «Wir tragen schwarz, um unserer Märtyrer[1] und gefallenen Freunde zu gedenken», erklärt einer der Jugendlichen. Gleichzeitig entsteht auch eine revolutionäre Stimmung, als am frühen Morgen des 1. Oktober bei einer zentralen Demonstration auf dem Platz eine Reihe von Tuktuks, die zum Symbol der unterdrückten Klasse und der Revolution geworden sind, eine Tuktuk-Parade veranstalten. Es scheint nicht nur ein Tag der Erinnerung, sondern auch ein Tag der Trauer, des Stolzes und der Forderung nach einer Erneuerung des Revolutionsprozess zu sein.

Schluwa Sama hat in Berlin, Marburg und London, Politik und Wirtschaft Westasiens und Nordafrikas studiert und anschließend in Sulaymaniya, Kurdistan-Irak gearbeitet. Zurzeit promoviert sie zur politischen Ökonomie des Iraks und Kurdistans am Centre for Kurdish Studies, University of Exeter.

Vor genau einem Jahr begann die irakische Revolution, die schnell als Oktoberrevolution bezeichnet wurde. Sie zeichnete sich durch ein unglaublich großes Ausmaß an Selbstorganisation, Durchhaltevermögen und Leidenschaft der Jugend für die Ziele der Revolution aus. Zentrales Ziel war der Sturz des gesamten nach 2003 entstandenen Systems und seines sektiererischen und korrupten Machtapparats. Der Tahrir-Platz in Bagdad war einer der zentralen Protestplätze, der bis heute besetzt gehalten wird. Vor knapp einem Jahr noch wiesen revolutionäre Künstler*innen auf den Tunnelwänden des Tahrir-Platzes auf die Rolle von Frauen und Tuktuk-Fahrer*innen in großen Graffitis hin. Heute wurden mehrere Porträts von Märtyrer*innen auf die Wände gemalt. Auch viele der Zelte, die im letzten Jahr von unterschiedlichen Protestgruppen genutzt wurden, sind heute nach verschiedenen Märtyrer*innen benannt.

Gesichter der Märtyrer auf dem Tunnel zum Tahrir-Platz, Bagdad, 1.10.2020
Gesichter der Märtyrer auf dem Tunnel zum Tahrir-Platz, Bagdad, 1.10.2020 Foto: Schluwa Sama

Die Märtyrer*innen

Ein Zelt heißt heute «Zelt des Märtyrers Abu Ahmed Al-Timimi». Abu Ahmed war Bildhauer und stellte seine Skulpturen auf dem Tahrir Platz als Beitrag zur Kultur der Revolution aus. Abu Ahmed wurde von der Aufstandsbekämpfungseinheiten der Polizei getötet.

Unter den Märtyrer*innen sind viele sehr junge Männer wie zum Beispiel Saffa Al-Saray, dessen Gesicht heute ein Sinnbild für alle Märtyrer*innen der Revolution geworden ist. Er war einer der bekanntesten Aktivist*innen, die letztes Jahr während der Proteste durch den Beschuss mit Tränengaskanistern getötet wurden. Gleichzeitig wurden aber auch junge Frauen ermordet, und es gab verschiedene Entführungen und gezielte Attacken auf Aktivistinnen. Ihrer gedenkt der heutige Protest des Frauenmarsches vom Kahramane-Platz zum Tahrir-Platz. Dies ist ein vom Staat genehmigter Protest, bei dem verschiedener Aktivistinnen gedacht wird, so zum Beispiel der Aktivistin Sara Talib aus Basra. Sie war eine der ersten Frauen, die an der Frontlinie den Protestierenden medizinische Hilfe leistete.

Die Sicherheitskräfte des Staates, die neben der Demonstration herlaufen, agieren friedlich. Ein Sicherheitsmann hat eine Kamera dabei und fotografiert Sicherheitskräfte und Demonstrant*innen. Zahra (Name geändert) eine der Aktivistinnen beim Frauenmarsch, erklärt, dass dies einfach nur ein Teil ihrer neuen Taktik ist, mit der sie an ihrem öffentlichen Image arbeiten. Damit wollen sie als volksnah erscheinen. «Wie sollen wir das akzeptieren nach all den Toten, die sie zu verantworten haben?»

Frauenmarsch am 1.Oktober 2020 in Bagdad
Frauenmarsch am 1.Oktober 2020 in Bagdad Foto: Schluwa Sama

Tatsächlich wurden mehr als 600 Demonstrant*nnen getötet und Tausende verletzt. Viele Aktivist*innen sind aufgrund von Drohungen aus dem Land geflohen oder kommen nicht auf den Tahrir-Platz, wie die Frauenrechtsaktivistin Samia berichtet. Gleichzeitig grüßt sie, während wir über den Platz laufen, fortlaufend verschiedene Aktivist*innen.

Ahmed, ein Tuktuk-Fahrer, ist trotz aller Verluste froh, dass der Tahrir-Platz gegen Mittag voll wird und dass es verschiedene kleine Märsche und Proteste gibt: «Das gibt mir Hoffnung.» Er sitzt mit einem Freund in seinem Tuktuk auf der Jumhuriya-Brücke, die mittlerweile voll ist mit Demonstrant*innen. Auf ihren T-Shirts sind die Namen und Gesichter ihrer gefallenen Freunde zu sehen, während sie die irakische Flagge schwenken, zu der sie hinzugefügt haben: «Die Revolutionäre Bagdads. Die Gruppe der Schützer des Tahrir.» Dabei skandieren sie, an die Aufstandsbekämpfungseinheiten der Regierung gerichtet: «Versucht was ihr könnt, aber das Volk ist immer noch stark (Hele `Aleyhu hele. Al-Sha`ab ba`ad bi hela).»

Stolz und Hoffnung auf eine revolutionäre Zukunft

Neben Hoffnung und Trauer gibt es am 1. Oktober auf dem Tahrir-Platz auch einen enormem Stolz. Tuktuk-Fahrer Ahmed, der uns vor einem Jahr über die Solidarität unter Demonstrant*innen berichtet hat, erklärt, dass die Demonstrant*innen trotz allem bewiesen haben, dass sie Dinge ändern können: «Wir haben den Ministerpräsidenten Adil Abdul-Mahdi zum Rücktritt gezwungen. Der Rücktritt des Ministerpräsidenten war zwar nicht das primäre Ziel der Proteste, aber er hat uns gezeigt, dass wir genügend Macht haben, um eine Veränderung zu bewirken.» Dieser Rücktritt hat bewirkt, dass es momentan einen temporären Ministerpräsidenten, Mustafa Al-Kazemi, gibt und für 2021 Neuwahlen angesetzt sind. Nicht nur, dass die politische Führung des Landes gezwungen war, auf die Proteste zu reagieren, auch das Gefühl von Freiheit ist eine der Früchte der Revolution.

Die Frauenrechtsaktivistin Samia (Name geändert) erklärt, dass die bisherigen Protestwellen immer sehr männlich geprägte Proteste gewesen seien, die gegenüber religiösen und politischen Autoritäten respektvoll waren. Die Oktoberrevolution habe dies geändert: Irakische Frauen waren genauso sichtbar in dieser Revolution und die heilige Aura um Autoritäten konnte gebrochen werden.

In ähnlicher Weise erklärt Qasim (Name geändert), der als Tagelöhner im Bausektor arbeitet, dass nun der Zauber von religiösen Autoritäten und politischen Führern verschwunden sei. Er stellt zwar fest, dass die Sadr-Bewegung heute verschiedene Eingänge zum Tahrir Platz sowie auch das «Türkische Restaurant» kontrolliert. Gleichzeitig sagt er: «Wer hätte vor der Revolution gewagt, über al-Sadr [religiös-politische Autorität und Führer der Saray al-Salam Miliz] zu witzeln? Heute haben wir Dutzende politische Slogans skandiert, in denen wir zeigen, dass wir uns durch seine Ideologie nicht mehr beeindrucken lassen.» Obwohl sich Qasims ökonomische Situation nicht verbessert hat, beschreibt er ein neues Freiheitsgefühl, das nicht nur auf den Tahrir-Platz beschränkt ist: «Früher habe ich einen Weg heraus aus meinem Viertel und einen anderen Weg hinein genommen. Heute gehe ich normal ein und aus. Einige der Leute aus meinem Viertel, die zu den Milizen gehören, schauen mich heute anders an, denn sie wissen, dass ihre Macht schwindet. Auch wenn sich die ökonomische Situation nicht verbessert hat, habe ich Hoffnung in diese Revolution, denn ich habe keine Angst mehr.»

Ein Schrein für die Märtyrer der Revolution auf dem Tahrir-Platz, Bagdad, 1.10.2020
Ein Schrein für die Märtyrer der Revolution auf dem Tahrir-Platz, Bagdad, 1.10.2020 Foto: Schluwa Sama

Die eigene Geschichte selbst gestalten

Der 1. Oktober ist im Irak heute ebenso ein Erinnerungstag wie ein Protesttag. Zahlreiche Märsche und Kundgebungen erinnern nicht nur an das, was die Demonstrant*innen begonnen haben, sondern führen es auch fort. In einer Geschichte voller Kriege, Tod und Leid kreieren Iraker*innen eine Geschichte des Volkes von unten, auf die sie stolz sein können. Gleichzeitig ist die Revolution noch nicht Teil einer abgeschlossenen Geschichte. Samia erklärt: «Was wir hier begonnen haben, wird ein langer Prozess. Wir tun dies für unsere Kinder und hoffen, dass sie ein würdevolles Leben führen können.»

Qasim erwartet die Fortschreibung der Revolutionsgeschichte schon für den 25. Oktober 2020, dem Tag, an dem die Proteste vor einem Jahr in einen Aufstand umgeschlagen waren, der das ganze Land und viele soziale Schichten erfasste.

Für ihn ist es ein Tag der Befreiung. «Wir wollen, dass die Menschen zum Tahrir kommen. Es ist unser Land, und wir haben eine Verantwortung dafür, dass diese Revolution erfolgreich wird.» «Erfolgreich sein» bedeutet dabei nicht nur die Durchsetzung von Neuwahlen, sondern meint eine Rückbesinnung auf die zentrale Forderung des Aufstands: den Sturz des Systems.


[1] Der Begriff «Märtyrer» wird in diesem Text im Rückgriff auf seinen Gebrauch im Irak verwendet. Der Begriff hat zwar eine religiöse Konnotation, wird aber auch von säkularen Menschen genutzt, um denen zu gedenken, die in Zusammenhang mit der Revolution getötet wurden. Während der Begriff im irakischen Alltag normalisiert ist, gibt es unter Aktivist*innen und auf dem Tahrir-Platz in Bagdad eine kritische Auseinandersetzung zur Benutzung des Begriffs, in der u.a. versucht wird, sich von der religiösen Bedeutung zu distanzieren.