Die Wissenschaft ist – wie die Politik – ein Feld, das von vielen Menschen mit großem Ego bewohnt wird. Zwischen Einzelkämpfern und Ich-AGen findet, wer Glück hat, diejenigen, die wissenschaftliche Glanzleistungen vollbringen und politisch wirksam werden, ohne den Drang zur Selbstvermarktung; die Witz und Ironie mit eingreifendem Denken verbinden, die Teil einer größeren Sache sind, mit und durch ihre Individualität. Rainer Rilling ist einer von ihnen. Davor ziehen wir unsere Hüte und feiern ihn. Heute, am 14. Oktober, wird er 75 Jahre alt.
Weil Rainer Rilling sein Licht oft unter den Scheffel stellt, wollen wir es umso heller scheinen lassen. In der Redaktion der Zeitschrift «LuXemburg: Gesellschaftsanalyse und linke Praxis» fällt sein Name oft, wenn es darum geht, Texte zu schreiben oder zu beurteilen. Denn seine Forschungsinteressen und seine Expertise stecken ein enorm breites Feld ab: Gesellschafts- und Staatstheorie, Arbeits- und Industriesoziologie, allgemeine Produktivkraft- und besondere Technikentwicklung, Digitalisierung und Informationstechnologie, die Kräfte zur Erneuerung des Kapitalismus, Gemeingüter («Commons»), Eigentum, Ungleichheit und Reichtum, internationale politische Ökonomie, Friedens- und Sicherheitspolitik, USA, europäische Integration und transatlantisches Verhältnis, Hegemonie, extreme Rechte, Futurologie – es gibt kaum ein Thema, zu dem Rainer nicht originelle Überlegungen beigetragen und Begriffe geprägt hat: «Transformationsforschung», «Futuring», «Imperialität», «Gated Capitalism» usw.
Rainer Rilling hat vieles lange erkannt, bevor es Mainstream wurde. Nur wenige sind so offen für neue Entwicklungen, neue Technik, neue Theorie, gleichzeitig scharf und klug im Urteil, begeisterungsfähig, ohne Fan zu sein. Er hat über Demokratie und Internet geforscht, als die Zukunft dieser neuen, für viele völlig unbekannten Technologie noch unklar war. Der Sorge, das Internet würde den Buchdruck verdrängen, widersprach er schon Ende der 1990er Jahre. Seine These, dass die Digitalisierung stattdessen die Fernsehgewohnheiten grundlegend verändern würde, hat sich bewahrheitet.
Die «Sirenen der Ökonomie», so der Titel einer seiner Veranstaltungen im Jahre 2002, hörte Rainer Rilling lange bevor mit der globalen Finanzkrise die Relevanz ökonomischer Prozesse mit Wucht ins linke Bewusstsein zurückkehrte. Sein Beharren auf der Bedeutung von Finanzialisierung vor dem Hintergrund der geplatzten «New Economy»-Blase zeigt sein Gespür für die entscheidenden globalgesellschaftlichen Entwicklungen. Als mit dem Aufstieg des Neoliberalismus Armutsberichte dringlicher werden, fragt Rainer Rilling nach dem Reichtum in der Gesellschaft und greift Thomas Piketty vor, mit dessen Buch diese Fragen wieder im links-liberalen Mainstream ankamen. Jahre bevor der durchaus hervorragende Martin Wolf von der Financial Times darauf hinweist, benutzt Rainer Rilling den Begriff der «Strongmen» und nimmt die «Politik der starken Männer» in den Blick, diese Häufung von besonders toxisch-maskulin auftretenden Politikerfiguren der Rechten: Trump, Bolsonaro und Duterte in besonderem Maße, aber auch Modi, Putin, Johnson, Netanjahu, Sebastian Kurz etc.
Mit «Futuring», also der strategischen Planung von Zukunft vor dem Hintergrund der globalen Analyse von Produktionsverhältnissen sowie nationalen und internationalen Kräfteverhältnissen gesellschaftlicher Klassen und Klassenfraktionen, prägt er die Arbeit eines ganzen Forschungsinstituts über Jahre hinweg. Rainer Rilling lehrt als Privatdozent an der Philipps-Universität-Marburg, und organisiert als Geschäftsführer des Bundes demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Räume des Austauschs nicht zuletzt für jene, die von politischen Berufsverboten betroffenen sind. Über Jahre begleitet er diese «Organisation ohne Macht» durch die sich wandelnden Zeiten. Er wirkt im Herausgeberkreis der Blätter für deutsche und internationale Politik, in der LINKEN und in zwei ganz unterschiedlichen Phasen im Vorstand der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Mit anderen gründet er deren Strategiezeitschrift LuXemburg, baut Webkataloge und Forschungs-Server auf, organisiert zahllose Tagungen und Konferenzen und schafft in Zusammenarbeit mit ver.di jedes Jahr eine Woche der Reflexion und des gegenseitigen Lernens in der Villa Rossa in der Toskana.
Rainer Rilling ist ein Nachkriegskind. Die Auseinandersetzung mit dem deutschen Faschismus ist auch eine mit der eigenen Familie. Der Enge des Schwabenlandes nach Marburg entkommen (aber mit einer lebenslangen Liebe für die schwäbische Küche), studiert er bei Wolfgang Abendroth, Werner Hofmann und Reinhard Kühnl. Er fällt schnell als guter Nachwuchswissenschaftler auf, Kühnl bezieht ihn in seine Forschung zur NPD ein (die hatte 1968 in Baden-Württemberg gerade 9,8 Prozent erreicht). Die Freundschaft hält bis an Reinhards Lebensende. Nach seinem Studium geht Rainer Rilling nach Bremen und promoviert 1973 bei Lothar Peter im Bereich der Rüstungsforschung und Rüstungspolitik. Zurück in Marburg, arbeitet er als wissenschaftlicher Assistent am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften, wo er sich 1980 habilitiert.
Rainer Rilling hat die Veränderung der Hochschul- und Wissenschaftslandschaft begleitet: politisch und wissenschaftlich. Ganze Kohorten von jungen linken Wissenschaftlern*innen wurden aus den Unis gedrängt, durch Streichung von Themen, Umbau von Curricula, durch Ausweitung der Befristungen – eine «Kombination aus Refeudalisierung und neoliberaler Vermarktlichung» (Rilling). Er schuf alternative Räume für linke Wissenschaft, wie die Herbstakademie des BdWi in Italien, die später in die Stiftung GegenStand überging. Als die 1990 gegründete Rosa Luxemburg Stiftung 1999 ihren zweiten großen Entwicklungsschritt tat, war es nur logisch, dass sie sich sogleich um ihn bemühte. Rainer Rilling war es, der seine weitreichenden wissenschaftlichen Netzwerke nutzte, um zusammen mit einigen anderen Kolleg*innen Vertrauensdozent*innen für die RLS vorzuschlagen. Er trug so zum Aufbau des Studienwerkes bei. Er war nicht Mitgründer der Stiftung, aber für den zweiten großen Schritt ihrer Weiterentwicklung ist er eine zentrale Figur, nicht zuletzt an der Schnittstelle von Wissenschaft/ Forschung und Öffentlichkeitsarbeit/ digitaler Kommunikation: Die erste Website der Stiftung, der erste Jahresbericht und manch anderes sind unter seiner Federführung entwickelt worden.
Rainer Rillings Funktion entspringt einem besonderen Wissen. Er versteht nicht nur das Politische in der Wissenschaft. Er versteht auch die Logik von Organisationen. Das ist für Wissenschaftler*innen eher ungewöhnlich. Während andere sich um das Verfassen von Standardwerken bemühen und als Einzelkämpfer*innen oft genug daran scheitern, für ihr Werk andere instrumentalisieren oder Wissenschaft eins zu eins in Politik übersetzen wollen, versteht Rainer Rilling das System selbst: In Politik und Wissenschaft gibt es immer Vorder- und Hinterbühnen. Rainer Rilling bewegt sich elegant auf der Vorderbühne, aber er ist auch ohne Groll und Bedauern ein Mann für die Hinterbühne. Er versteht die Logik der Vorderbühne, auch wenn es ihn nicht unbedingt immer dorthin drängt.
In der Stiftung ist Rainer Rilling damit eine zentrale Figur, die verbindet, anregt, zusammenbringt und Anregungen weitergibt. Er ist ein Verdichter von Diskussionsfäden. Er hat viele neue Themen erschlossen, die zukünftig Wirkung entfalten könnten. Im Wissenschaftsbetrieb kommt ein solches Handeln selten zur Geltung, aber in Organisationen wie der Rosa-Luxemburg-Stiftung ist es unerlässlich und von strategisch entscheidender Bedeutung.
Hin und wieder überfordert seine Impulsgeschwindigkeit seine Kolleg*innen. Aber Rainer Rillings gutem Riecher hat die Stiftung viel zu verdanken. Es waren, seiner Persönlichkeit gemäß, ganz unterschiedliche Dinge: Zukunftsszenarien, ein europäisches und globales Netzwerk gegen Privatisierung und für das Öffentliche, ein Großprojekt wie «Auto.Mobil.Krise» und – lange vor der Debatte um Sanders oder den «Neosozialismus» – der grüne Sozialismus. Der Strang «globaler Autoritarismus», dem jetzt ein wichtiger Teil der internationalen Arbeit der Rosa-Luxemburg-Stiftung folgt, war Rainer Rillings Idee für die er sich zusammen mit anderen im Vorstand der RLS stark machte, ebenso wie für das erste Promotionskolleg der Stiftung vor über zehn Jahren.
Rainer Rilling hat eine Faszination für das Empire und den Widerstand – auch daher rühren seine guten Kontakte zu den großen linken Intellektuellen in den USA. Die Strukturen des Imperiums mit mehreren Zentren, die Rolle von USA und Deutschland darin und was sich vom Widerstand im «belly of the beast» lernen lässt wollte er auf beiden Seiten des Atlantiks diskutieren. Ohne ihn und den «Nordatlantischen linken Dialog» wäre die Arbeit der Stiftung in den USA kaum vorstellbar. Mit seinem freundlichen Wesen schafft er eine kollegiale und produktive Arbeitsatmosphäre, die motiviert. Er treibt zur Originalität an, von der Herangehensweise bis zu Aufsatztiteln – und das weit über die Pensionierung hinaus. Als Fellow am Institut für Gesellschaftsanalyse arbeitet er weiter, verhindert stets, sich in Erreichtem einzurichten, ausgetretenen Pfaden zu folgen - Futuring im besten Sinne.
Vielleicht ist ihm deswegen auch ein Rückblick nicht so recht. Nach vorne muss es gehen.
Rainer Rilling hat Leidenschaften auch für Abgelegenes, für gute Infografiken, Kartografien der Macht, für Pinguine, Science-Fiction und Serien, Marx mit Zipfelmütze, für Bildsprache und schöne Zeitschriften – eine Reihe von besonders ästhetischen Buchcovern geht auf ihn zurück – und gute Typographie. Innovation und Originalität kommen auch vom Dezentrieren.
Erstmals musste Rainer 2020 eine Pause machen. Und die Pandemie hat auch vor der jährlichen Tagung in der Villa Rossa im August nicht Halt gemacht. «Aufruhr» sollte ihr Thema sein. Wir freuen uns auf die gemeinsame Fortsetzung der Arbeit im Widerstand. Es gibt kein ruhiges Hinterland.
Lutz Brangsch
Michael Brie
Mario Candeias
Alex Demirović
Frank Deppe
Richard Detje
Dagmar Enkelmann
Barbara Fried
Thomas Händel
Cornelia Hildebrandt
Christina Kaindl
Dieter Klein
Peter Ostholt
Sabine Reiner
Katrin Schäfgen
Ingar Solty
Sybille Stamm
Daniela Trochowski
Florian Weis