Am 31. März 1979 demonstrieren in Hannover 100.000 Personen gegen Atomkraft und besonders gegen die Pläne in Gorleben im Landkreis Lüchow-Dannenberg im äußersten Nordosten von Niedersachsen eine Wiederaufbereitungsanlage zu errichten. Die Demonstration ist der Abschluss eines eine Woche vorher gestarteten Sternmarsches, des sog. Gorleben-Treck. Diese Demonstration ist die bis dahin größte gegen Atomkraft in der Bundesrepublik. Niedersachsen ist mit Grohnde, dem an der Elbe gelegenen Brokdorf und eben Gorleben in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre der Hotspot der Protestbewegung gegen Atomkraft. Mit «Trecker nach Hannover», einer Ausstellung im Stadtmuseum Hannover wurde 2019 an diesen Treck erinnert. Nun liegt die (wissenschaftliche) Begleitpublikation dazu vor.
In insgesamt 19 Texten wird das Ereignis selbst und seine Einbettung in die Protestgeschichte dargestellt, wie auch die Historisierung der Anti-AKW-Bewegung und die historisch-didaktische Vorbereitung der Ausstellung. Nach einer Einleitung folgen vier Artikel zum Treck selbst, dann sieben zu Protesten und neuen sozialen Bewegungen allgemein, und dem relativ neuen Gedanken, dass solche Ereignisse mentale und materielle Spuren in der Stadt- und Landesgeschichte hinterlassen, diese also auch zum cultural heritage gehören. Konkret geht es um Wyhl, Wackersdorf, aber auch um die Umweltbewegung in der DDR oder transnationale Netzwerke der Anti-AKW-Bewegung.
Danach wird, in sechs Beiträgen, die erwähnte Ausstellung im Zusammenhang historisch-politischer Bildung reflektiert. Der Anti-Atom-Konflikt, der ja gerade in Gorleben bis in die Gegenwart anhält, wird hier und heute als zivilgesellschaftlicher Lernort angesehen, in dem es um die Frage gehe, «wie sich Demokratie als politisches System weiterentwickeln kann» (S. 327); statt als Periode scharfer politischer Konflikte, die, mitunter von beiden Seiten, erbittert ausgefochten wurde. Abschließend stellt sich das aus der Bürgerinitiative heraus entstandene Gorleben-Archiv in Lüchow vor.
In dem Band werden sowohl konkrete Kämpfe und Orte der AKW-Bewegung vorgestellt, wie auch Thesen zur Einbettung dieser wichtigen Bewegung in die Protest- und Gesellschaftsgeschichte (West-)Deutschlands. Die Orte und Protestereignisse vor allem als Anlass für «demokratisches Lernen» zu nehmen, ist bei heutigen Jugendlichen sicher nicht ganz falsch. Politisch-inhaltlich ging es aber weiten Teilen der Bewegung damals um etwas Anderes. Sie stellten fest, mussten feststellen, dass die Gegenseite nicht besonders viel Wert auf Demokratie legte, und mit dem Polizeiknüppel nachhalf.
Der Band enthält 77, z.T. farbige Abbildungen, und ist gut geeignet die Anliegen der Bewegungen in Erinnerung zu rufen.
Detlef Schmiechen-Ackermann, Christian Hellwig, Wienke Stegmann, Karolin Quambusch, Jenny Hagemann (Hrsg.): Der Gorleben-Treck 1979. Anti-Atom-Protest als soziale Bewegung und demokratischer Lernprozess, Wallstein Verlag, Göttingen 2020, 367 Seiten, 29 EUR