Interview | Arbeit / Gewerkschaften - Wirtschafts- / Sozialpolitik - Westasien - Türkei Trotz Repression den Menschen mit einem Lächeln dienen

Vedat Bulut vom Bund der türkischen Ärzte über die Auswirkungen der Corona-Pandemie im türkischen Gesundheitssektor

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Vedat Bulut, Svenja Huck ,

Vedat Bulut: «Unsere wichtigste Forderung ist die Anerkennung von Covid 19 als Berufskrankheit.»
Vedat Bulut: «Unsere wichtigste Forderung ist die Anerkennung von Covid 19 als Berufskrankheit.»

Der Bund der türkischen Ärzte (TTB, Türk Tabipleri Birliği) besteht seit 1953 und schließt die Ärztekammern des Landes zusammen. Der TTB hat rund 100 Tausend Mitglieder, das entspricht 88 Prozent der Ärztinnen und Ärzte der Türkei.

Prof. Dr. Vedat Bulut ist seit Oktober 2020 Generalsekretär des TTB, nachdem er bereits Vorsitzender der Ärztekammer von Ankara war. Im Interview mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung sprach er über den politischen Druck auf den TTB und die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Angestellten im Gesundheitsbereich.

Svenja Huck studierte Geschichtswissenschaften in Berlin mit Auslandsaufenthalten in Istanbul und London. Ihre Abschlussarbeit thematisiert die türkische Gewerkschaftskonföderation DİSK 1967-80. Sie schreibt für verschiedene Zeitungen als freie Journalistin über Arbeitskämpfe und die politische Opposition in der Türkei.

RLS: Welche Auswirkungen hat die Covid 19 Pandemie auf den Gesundheitssektor in der Türkei?

Vedat Bulut: Die Pandemie ist in der Türkei weiterhin mit all ihren heftigen Auswirkungen präsent, doch das Personal im Gesundheitssektor ist 14 mal mehr stärker von Infektionen durch das Corona-Virus betroffen als die durchschnittliche Bevölkerung. Laut den Zahlen, die vom Gesundheitsminister veröffentlicht wurden, übersteigt die Zahl des mit Covid-19 infizierten Gesundheitspersonals nun die 40 Tausend. In der ersten Pandemiephase gab es Engpässe bei der Bereitstellung von entsprechender Schutzausrüstung. Die Anpassung der Produktion dauert zwei bis drei Monate, danach wurde versucht, Masken, Gesichtsschilde und Körperschutzanzüge für das Gesundheitspersonal bereit zu stellen. Da die Vorräte stellenweise nicht ausreichten, ließ das Gesundheitsminister an den TTB und andere Kolleg*innen Material liefern. Wir haben oft betont, dass die Gesundheit der Gesellschaft nicht geschützt werden kann, wenn die Gesundheit unserer Mitglieder nicht garantiert wird, in dem nicht jedem und jeder ausreichende und qualitative Schutzausrüstung zur Verfügung gestellt wird.

Um die Missstände zu ermitteln, haben wir Untersuchungen auf allen Diensträngen durchgeführt. Daraus ergab sich, dass neben dem erhöhten Krankheitsrisikos auch Arbeitsplatzunsicherheit und Einkommensverlust weitere Probleme für das Gesundheitspersonal darstellen. Fehlende und unregelmäßige Gehaltszahlungen beeinflussen die ökonomische Stabilität der Angestellten negativ. Bei der Umfrage, die wir unter 499 Personen aus dem Privatsektor durchgeführt haben, gaben 7,6 Prozent an, 30 Prozent ihres Lohns eingebüßt zu haben. Bei 6,4 Prozent waren es über 40 Prozent und 22 Prozent gaben an, 50 Prozent oder mehr verloren zu haben. Dass Arbeitgeber die Krisensituation während der Pandemie ausnutzen, um 21 Prozent der Angestellten entweder in unbezahlten Urlaub zu schicken oder zur Kündigung zu zwingen, obwohl gerade sie dringend gebraucht werden, ist eine Tragödie. Seit Beginn der Pandemie nimmt sowohl der soziale und psychische Druck, wie auch der Arbeitsdruck zu, was sich in Symptomen des Burnouts zeigt.

Dass das Gesundheitspersonal nicht ausreichend getestet wurde, ist ein ausschlaggebender Faktor für die erneut steigenden Infektionszahlen. Obwohl regelmäßige und breitflächige Tests für ihre Gesundheit wichtig sind, gaben nur 55 Prozent der Befragten an, getestet worden zu sein. 

Auf den Social Media Kanälen des TTB erscheint täglich mehr als eine Todesanzeige. Warum werden Ihre Kolleg*innen im Gesundheitssektor nicht besser geschützt? 

Seit Beginn der Covid-19 Pandemie bis heute haben wir 135 Personen aus dem Gesundheitsbereich verloren, 58 davon Ärztinnen und Ärzte. Neben den bereits erwähnten Unzulänglichkeiten im persönlichen Schutz der Angestellten sind fehlende gesamtgesellschaftliche Maßnahmen und intransparente Informationen weitere Faktoren für die Gefährdung unserer Kolleg*innen. Kürzlich hat der Gesundheitsminister zugegeben, nur die Zahlen von Infizierten veröffentlicht zu haben, die auch Symptome aufwiesen. Der Grund dafür sei die Sorge um die «Nationale Sicherheit» gewesen, erklärte er in einem Statement. Es ist allseits bekannt, dass während einer Pandemie die entsprechende Krankheit auf der Liste der meldepflichtigen Krankheiten geführt wird. Dass die Zahlen dennoch verschleiert wurden, schmälerte die Sensibilisierung für den Ernst der Lage. Schlussendlich führte dies zur höheren Arbeitsbelastung für uns. 

Wie reagiert der TTB auf diese Probleme, was sind Ihre Forderungen?

Unsere wichtigste Forderung ist die Anerkennung von Covid 19 als Berufskrankheit. In vielen europäischen Ländern ist dies bereits der Fall, dementsprechend kann auf längere Arbeitsunfähigkeit des Gesundheitspersonals oder die Auswirkungen der Krankheit für deren Familien reagiert werden. Doch die türkische Regierung lehnt dies vehement ab. Außerdem fordern wir die Bereitstellung von ausreichender Schutzausrüstung, dass Ärzte aus völlig anderen Branchen nicht in Covid 19 Kliniken arbeiten sollten und die Verbesserung der finanziellen Ausstattung der Praxen und Kliniken.

Nachdem Ende September Prof. Dr. Şebnem Korur Fincancı zur neuen TTB-Vorsitzenden gewählt wurde, sagte Präsident Erdoğan, sie sei von einer «Terrororganisation geholt und an die Spitze des TTB gesetzt worden». Warum glauben Sie hat er das gesagt und wie beeinflusst das Ihre Arbeit?

Die TTB-Vorsitzende Prof. Dr. Şebnem Korur Fincancı ist eine Menschenrechtsverteidigerin und war Vorsitzende der Menschenrechtsstiftung der Türkei (Türkiye İnsan Hakları Vakfı), die sich für die Opfer von Folter und Misshandlung einsetzt. Dr. Korur Fincancı verteidigt nicht nur die Menschenrechte in der Türkei, sondern in vielen anderen Ländern wie Palästina, Bosnien oder Bahrain. Als Forensikerin hat sie in diesen Ländern zahlreiche Beweise für Folter und Misshandlung sichergestellt und wurde zur Hoffnungsträgerin für die Hinterbliebenen. Sie ist ein Beispiel für die Art von Mensch, die autokratische Staaten und repressive Regime nicht dulden. Doch keine der Strafen, zu denen sie bisher verurteilt wurde, wurde letztendlich vollstreckt. Dr. Korur Fincancı ist eine Person, die daran arbeitet, die Verantwortung einer Wissenschaftlerin, eines aufmerksamen Menschen zu erfüllen. Mit den Stimmen der Ärztinnen und Ärzte wurde sie zur TTB-Vorsitzenden gewählt, deshalb verletzen unbegründete Beschuldigungen gegen sie die Würde aller Ärztinnen und Ärzte. In der Türkei ist es mittlerweile zur Gewohnheit geworden, dass die Regierung jeden als Terrorist abstempelt, der nicht die Regierungspartei gewählt hat. Indem also die Hälfte der Leute als Terroristen gebrandmarkt wird und diejenigen, die zumindest die Wahrheit aussprechen und für Sensibilität unter der Bevölkerung sorgen, diffamiert werden, versucht die Regierung die Dauer ihrer Herrschaft zu verlängern.

Zweifellos lassen wir uns durch diese Aussage des Präsidenten nicht in unserer Arbeit beeinflussen. Der Arztberuf hat eine sehr lange Tradition und auch wenn es zu jeder Zeit Repressionen dagegen gab, ist das wichtigste der Eid, den man als Mediziner*in ablegt. Wir haben darauf geschworen, unser medizinisches Wissen nicht dafür einzusetzen, Menschenrechte und die Freiheit der Individuen mit Füßen zu treten, ganz gleich, unter welchen Bedingungen wir unseren Beruf ausüben und wie sehr man uns bedroht. Aus diesem Grund werden wir weiterhin mit einem Lächeln der Menschheit dienen, auch wenn uns die Worte des Präsidenten traurig machen.

Rechnen Sie damit, dass der TTB verboten werden könnte?

Der Präsident hat in seiner Funktion als Parteivorsitzender auf dem Fraktionstreffen der AKP befohlen, rechtliche Reformen bezüglich des TTB einzuleiten. Die Gewaltenteilung in der Türkei wurde aufgelöst und der Präsident will die Exekutive, Legislative und Judikative auf sich persönlich vereinigen. Doch in Artikel 135 der Verfassung der Republik Türkei werden berufsständische Körperschaften unter dem Schirm der öffentlichen Institutionen geschützt. Solange dieser Artikel nicht geändert wird, kann von einer Schließung des TTB keine Rede sein. Auch das Parlament erlaubt in seiner aktuellen Zusammensetzung der Regierung keine Änderung des Paragrafen. Ähnlich wie auch bei der Rechtsanwaltskammer wird versucht, mit der Zahl der Delegierten zu spielen, sodass größere Städte weniger und kleinere Städte mehr Delegierte stellen.

Haben Sie den Eindruck, dass die Covid-19 Pandemie in der Türkei dazu genutzt wird, von der Verletzung der Menschenrechte abzulenken?

Dieses Phänomen wird auf der ganzen Welt diskutiert. In vielen Ländern formiert sich bereits Widerstand gegen soziale Kürzungen. In autokratischen Ländern ist die Pandemie für verschiedene Kapitalgruppen die Gunst der Stunde. Indem der türkische Staat finanzielle Unterstützung leistet, Schulden aufhebt oder stundet, wird das Vermögen von den Armen zu den Reichen transferiert. Die Pandemie betrifft die mittellosen Klassen deutlich stärker. Wir sehen, dass die Versorgung mit Lebensmitteln, die Bereitstellung von Unterkünften und Arbeitslosigkeit zunehmend Hindernisse für die Arbeiterklasse darstellen, dies jedoch weitestgehend ignoriert wird. Den Berufsorganisationen, Gewerkschaften und NGOs, die ihre Stimmen dagegen erheben oder öffentlich Presseerklärungen verlesen wollen, werden Verbote auferlegt, selbst dann, wenn sie für ausreichende Corona-Schutzmaßnahmen sorgen. Die Einschränkung der freien Meinungsäußerung ist überhaupt die größte Menschenrechtsverletzung. Im Chaos dieser Pandemie, wenn die Menschen ohnehin schon isoliert sind voneinander, ist es umso einfacher, ihre Recht auf Gesundheit oder Arbeit zu ignorieren. Auch die Gesundheit der Gefängnisinsass*innen oder der Menschen in den Geflüchtetenlagern beispielsweise wird vollkommen außer Betracht gelassen.

Die Krise in der Türkei wurde nicht erst durch Corona ausgelöst, bereits zuvor herrschte eine Wirtschaftskrise, Menschenrechte und politische Freiheiten werden eingeschränkt. Konnte die Opposition davon profitieren?

Die türkische Regierung, die nicht nur das Kapital, sondern auch die Presse dominiert, fördert eine Kultur von künstlichen Debatten. Die Konflikte und Kriege in Syrien, Libyen, im Mittelmeer und jetzt im Kaukasus verdecken die eigentliche Tagesordnung in der Türkei. Um die eigene Wählerschaft zu konsolidieren, sorgt die Regierung für eine Frontenbildung unter der Bevölkerung. Entweder du bist einer von uns, wenn du «heimatlich und national» (yerli ve milli) bist, oder du bist ein Verräter, dann bist du «anti-national und ein Feind». Diese hatespeech (Hassrede) verfinstert die Zukunft der Türkei, deren ökonomische Grundlage ohnehin schon zerstört ist. Die Opposition konnte diese Situation nicht ausreichend verwerten, sondern ist in dieser künstlichen Debattenkultur verfangen.