Die COVID-19 Pandemie bedroht die Musikindustrie in der Türkei. Seit dem 17. März sind die Theater, Kinos und Konzertsäle geschlossen und die Aktivitäten der Veranstaltungsorte wurden eingestellt. Viele Musiker:innen konnten seit März keine Live-Konzerte mehr geben. Dabei sind Konzerte und Festivals für die Musikwelt sehr wichtig, da Künstler:innen aus zahlreichen Gründen, die durch die Digitalisierung bedingt werden, kein Einkommen mehr aus Albumverkäufen, Urheberrechten oder privatem Musikunterricht erzielen können. Weder bietet die türkische Regierung finanzielle Unterstützung für die Musiker:innen und die anderen Arbeiter:innen der Musikindustrie an, noch stellt sie Pläne in diese Richtung vor. Einige Initiativen von Branchenfachleuten unterstützen teilweise die verzweifelten Künstler:innen und diejenigen, die Kunst ermöglichen, durch das gemeinsame Herausgeben von Pressemitteilungen, die Organisierung von Spendenkampagnen und Solidaritätsalben, oder Aktionen zur Sichtbarkeit auf sozialen Medien. Diese Initiativen bieten aber keine langfristigen Lösungen an.
Merve Namlı arbeitet als qualifizierte Konferenzdolmetscherin seit zehn Jahren für diverse öffentliche Institutionen. Sie engagiert sich als Aktivistin in antirassistischen und feministischen Initiativen und Kollektiven in der Türkei und in Europa und kuratiert und veranstaltet Konzerte und Festivals für unterrepräsentierte BiPOC-Künstler:innen.
Gamze Taşçıer, Abgeordnete der Republikanischen Volkspartei (CHP) und Mitglied der Parteiversammlung sagte, dass fast hundert Musiker:innen seit Beginn der Pandemie Selbstmord begangen haben. Offizielle Daten zur Selbstmordrate sind laut Hasan Aldemir, Vorstandsmitglied der Müzik-sen (Gewerkschaft für Musik und Darstellende Künste), jedoch nicht möglich, da Musiker:innen in der Türkei keinen anerkannten Berufsstand haben. Laut Aldemir mussten viele Künstler:innen ihre Musikinstrumente verkaufen, sich anderen Jobs suchen oder ihre Häuser verlassen. Normalerweise arbeiten die Musiker:innen in der Türkei für 100-200 Lira (11-22 Euro) am Tag. Durch die Pandemie haben sie nun auch plötzlich dieses geringe Einkommen verloren. Sie haben keine soziale Absicherung, keine Arbeitsplatzsicherheit, keine Kurzarbeiterzulage oder andere Unterstützungen von der Regierung anderen Industrien anbietet.
Bereits vor den Auswirkungen der COVID-19 Pandemie beklagten sich Gewerkschaften und Arbeiter:innen der Musikindustrie darüber, dass sie sich nicht organisieren können. Laut Mesam, der seit 1986 aktiven Vereinigung der Eigentümer*innen musikalischer Werke in der Türkei, gibt es 24 Berufsverbände in der Musikindustrie. Doch viele Musiker:innen sind sich der Existenz solcher Gewerkschaften nicht bewusst. Auch die Gewerkschaft Müzik-Sen kritisiert, dass Musik- und Bühnenarbeiter:innen nach dem Gesetz Nr. 6356 über Gewerkschaften und Tarifverhandlungen unter den Arbeitsbereichen Unterkünften und Vergnügungsorten zusammengefasst ist. Hier muss es eine Reform geben, damit Gewerkschaften in dem tatsächlichen Arbeitsbereich für ihre Mitglieder tätig sein können.
Einige Musikveranstaltungsorte mussten aufgrund der unsicheren Situation bereits schließen. So hat zum Beispiel das Anahit Sahne in Istanbul, welches in 2018 von dem facettenreichen Künstler und Schriftsteller Mehmet Deniz mitbegründet wurde, diese prekäre Zeit nicht überlebt. Mit der Schließung des beliebten Veranstaltungsortes Anahit, in dem nicht nur Mainstream-Konzerte sondern auch beliebte Drag-Performances namens Dudakların Cengi, queerwaves Partys und Treffen feministischer Menschenrechtsverbände stattgefunden haben, schließt nicht nur ein Veranstaltungsort, sondern auch ein safer Space musste seine Existenz aufgeben.
Kampagnen zur Sichtbarkeit der Krise der Musikindustrie
Musiker:innen, Gewerkschaften sowie unabhängige Kollektiven organisieren eine Reihe von Kampagnen, um die Industrie und ihre Kolleg:innen, die dringend Hilfe benötigen, zu unterstützen und um auf die derzeitigen Missstände aufmerksam zu machen. Nachfolgend wird eine Auswahl der Kampagnen vorgestellt.
Viele Musiker:innen, darunter Özgün Uğurlu, Aynur Aydın, Günel, Seçil Gür und Ceylan Ertem, haben einen gemeinsamen Aufruf mit dem Titel #müziğesesver (Speak up für Musik) veröffentlicht, und sprachen sowohl in der nationalen als auch in der internationalen Presse über die aktuelle Schwierigkeiten. Im Aufruf schrieben die Musiker:innen, dass sie für das Erdbeben in Van im Juni 2020 als Organisator:innen, Veranstaltungsorte, Betreiber:innen und Musiker:innen zusammenkamen, um ein Benefizkonzert abzuhalten und mit dem eingenommenen Geld eine Schule zu errichten. Sie organisierten noch mehrere andere Solidaritätskonzerte und spendeten ihr Einkommen an Bedürftige.
Nach der Verbot für alle Arten von Musikprogrammen in Cafés, Bars und Restaurants nach 24 Uhr zu einer Zeit, als AKP-Kundgebungen und Hochzeiten von AKP-Abgeordneten fortgesetzt wurden und Einkaufszentren geöffnet waren, haben Musiker:innen, Manager:innen, Veranstalter:innen und DJs ihre Profibilder in sozialen Medien rot gefärbt, um gegen die unfaire Einschränkung des Nachtlebens zu protestieren. Für sie sei die Aufforderung sich einen anderen Job zu suchen eine Beleidigung, da sie Jahre damit verbracht haben, ihre Geschäfte aufzubauen. In einem Protesttext fordern sie, Musiker:innen endlich rechtlich als Berufsgruppe anzuerkennen und kritisieren, dass mit diesen unfairen Einschränkungen die Unterhaltungsindustrie eliminiert wird.
HOOD Base und Hexe Music organisierten am 21. März 2020 einen ganztägigen Live-Stream-Konzertmarathon mit dem Titel «Who is in a bunker». Akkor, Ali Gem, Anıl Aydın, Cava Grande, Flower Room, In Hoodies, Make Mama Proud, Mind Shifter, Nilgün Özer, Nilipek., Onat Önol, Özgün Semerci, Ponza und Selin Sümbültepe beteiligten sich und teilten per Live-Stream ihre Auftritte auf ihren Social-Media-Kanälen. In einer zweiten Reihe vom 11. bis 12. April 2020 gaben 22 Musiker:innen Live-Konzerte in ihren Häusern oder Studios und organisierten eine Gesprächsreihe mit dem Titel Quo vadis, bei der die Entwicklung der Musikindustier nach der Pandemie diskutiert wurde.
queerwaves, die bisher mehr als 30 Veranstaltungen (Partys, Bootstouren, Theater, Brunchs, Panels und Workshops) in verschiedenen Stadtteilen von Istanbul und anderen Städten in der Türkei organisiert hat, hat eine GoFundMe-Kampagne als Nothilfefond für queere Nachtlebenarbeiter:innen in Istanbul gestartet.
Einige Musiker:innen, die sich in der Pandemie allein gelassen gefühlt haben, kamen in einer Albumreihe namens «Olta» zusammen. Das Einkommen dieses Solidaritätsalbums, das auf die Initiative von İrfan Alış von der Peyk-Musikgruppe zurückgeht, wird unter den Musiker:innen geteilt.
ClubCoweed, eine Gruppe aus Istanbul, organisiert jeweils freitags, samstags und mittwochs eine Zoom Party-Reihe mit lokalen und internationalen DJs und Drag-Performer:innen, die keine soziale Sicherheit haben. Sie streben einen Ort an, an dem viele Queers Arbeitsplätzen bekommen und an dem viele LGBTI+ existieren, Kontakte knüpfen und tanzen können.
Wie erleben Musiker:innen diesen Prozess?
Musiker:innen kritisieren, dass die politische und ökonomische Instabilität der Türkei in den letzten Jahrzehnten, hervorgerufen durch Erdbeben, Minenkatastrophen, Terroranschläge im In- und Ausland, Krieg und Geflüchtetenkrise an den Grenzen, eine direkte negative Auswirkung auf die Musikindustrie gehabt haben. Allein vor der Corona-Pandemie im Jahr 2020 hatte die Operation Idlib der AKP-Regierung die Musikszene in der Türkei gelähmt.
Fotini-Asineth Kokkala, einer der Musiker:innen, die ich interviewt habe, wurde in Griechenland geboren und lebt seit 10 Jahren in Istanbul. Die Multiinstrumentalistin beschreibt, dass Musik das einzige Kommunikationsmittel für sie sei und bedauert, dass sie nicht nach Griechenland gehen und sich mit ihren Musikerkollegen:innen treffen kann. Auch mit privaten Musikstunden kann sich Fotini nicht über Wasser halten, da viele Schüler:innen keine Klavier bei sich zuhause haben. Als Gründerin des Istos-Chores, der an Rembetiko und traditioneller griechischer Musik arbeitet, versucht sie den Chor mit Online-Meetings am Leben zu erhalten, jedoch können sie die Musik nicht synchronisieren. Um diese Zeit produktiv zu verbringen hat Fotini eine Reihe von zweimonatigen Seminaren mit dem Titel «Griechische Musik- und Rembetiko-Seminare» gestartet.
Boran Mert ist Bağlama Spieler bei Kardeş Türküler, einer mehrsprachigen und multiethnischen Volksmusikband. Live-Konzerte sind seine einzige Einnahmequelle, wobei die Band seit etwa 7 Monaten kein Konzert mehr geben konnte und er davon ausgeht, dass sie auch erst ab frühestens März 2021 wieder Konzerten geben können. Mert war überrascht zu sehen, dass sogar bekannte Künstler:innen ihre Instrumente verkaufen musste um sich finanziell über Wasser zu halten. Auf die Frage, was er von den Online-Konzerten und Partyreihen während der Corona-Zeit halte, antwortete er, dass er der Digitalisierung kritisch gegenüber stehe, weil die Werke, die in den sozialen Medien geteilt werden, nach drei Tagen wieder in Vergessenheit geraten würden. Er geht jedoch davon aus, dass die Leute nach der Pandemie Live-Musik zu schätzen gelernt haben und sich wieder auf die Konzerte freuen.
Forderungen und Vorschläge von Musiker:innen und Gewerkschaften für eine nachhaltige Musikindustrie
Die Befreiung von Konzerten von der besonderen Unterhaltungssteuer ist eine der am wichtigsten Forderungen der Musikarbeiter:innen in Zeiten der COVID-19 Pandemie. Burhan Şeşen, Vorstandsvorsitzender des Musik-Performer:innen-Verbands (MÜYORBİR), fasst weitere Forderungen zusammen: Befreiung von der Körperschaftsteuer, die Verschiebung von Rechnungen und Zahlungsmöglichkeiten bis zum Ende der Pandemie, die Senkung des Mehrwertsteuersatzes auf 1 Prozent, und die Verteilung der im Ministerium anfallenden «Sonderkopiergebühr» an die Mitglieder:innen durch Berufsverbände. Şeşen betonte auch, dass die staatlichen Einnahmen von Kunst und Kultur wieder zurück in diesen Industriezweig fließen sollen, um die negativen Auswirkungen etwas abzufedern.
Hasan Aldemir, Vorstandsmitglied von Müzik-Sen und Musiker, betont, dass sich Gewerkschaften mit Parteiführern und Ministerien treffen müssen, um sicherzustellen, dass Musiker:innen ihre Rechte auf soziale Sicherheit erhalten. Musiker:innen sollen eine offizielle Dokumente bekommen, womit sie arbeiten können. Aldemir redete auch über die Wichtigkeit nach grünen Pässen [1] für die Musiker:innen. Bülent Forta, Vorstandsmitglied des Verbandes der assoziierten Phonogrammproduzenten (MÜYAP), bestärkt Aldemir und fordert die Schaffung eines rechtlichen Rahmens, der den Status und die sozialen Rechte von Künstler:innen garantiert und der der Struktur der Branche entspricht. Die Müzik-Sen Gewerkschaft ruft ihre Musiker:innen auf ihrem Social-Media-Kanal ebenfalls dazu auf, um ihre Rentenrecht zu kämpfen.
Um soziale Sicherheit in der Musikindustrie in der Türkei zu gewährleisten, schlägt die Ethnomusikologin Evrim Hikmet Öğüt ein staatliches Überbrückungsgeld für freischaffende Künstler:innen vor, welches besser geeignet sei als das derzeitige Arbeitslosengeld. Ögüt bezieht sich dabei auf ein während der Pandemie eingeführtes System in Frankreich, welches ein regelmäßiges Einkommen im Bereich der darstellenden Künste darstellt. Dieses System ermöglicht es Künstler:innen, die eine bestimmte Anzahl von Aufführungen während des Jahres geben, ein Gehalt vom Staat zu erhalten, wenn sie aufgrund der Pandemie nicht arbeiten können. Ögüt denkt, dass es möglich sei, eines solches System auch in der Türkei einzuführen.
Um jetzt die Arbeiter:innen in der Musikindustrie in der Türkei zu unterstützen, sind die initiierten Spendenkampagnen und Initiativen ein erster wichtiger Schritt. Jedoch braucht die Musikindustrie in der Türkei, die von Krieg, politischer Instabilität, Unterdrückung und aktuell durch Corona erschöpft wird, eine grundlegende Reform und soziale Stabilität, um auch nach dem Ende dieser Pandemie überleben zu können.
Weiterlesen: www.mpg.de/14777336/music-culture-covid19