Nachricht | Wirtschafts- / Sozialpolitik - Westasien - Türkei Von Corona bis Lira

Die Vielfachkrise der Türkei

Information

9. Dezember 2020: Alltag beim Einkaufen im Zentrum von Istanbul, Türkei
Die Corona-Maßnahmen der türkischen Regierung lassen die Wirtschaft weitgehend unangetastet. 9. Dezember 2020: Alltag mit Maske im Zentrum von Istanbul, Türkei, picture alliance / NurPhoto | Diego Cupolo

Während die türkische Regierung mit Militärinterventionen und einer agressiven Außenpolitik versucht Stärke zu demonstrieren, wachsen die innenpolitischen Probleme weiter. Dabei verstärken sich Wirtschafts- und Coronakrise gegenseitig. Eine Lösung seitens der türkischen Regierung ist indessen nicht in Sicht.

In den vergangenen Wochen und Monaten machte die Türkei vor allem mit ihrer Außenpolitik Schlagzeilen. Neben den offenen Militärinterventionen in Nordsyrien und im Nordirak, bei denen es regelmäßig zu Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen, wie etwa die Ermordung und Folterung von Zivilist*innen durch türkische Truppen oder diesen nahestehende Milizen kommt, ist die Türkei inzwischen auch in Libyen und im Kaukasus militärisch involviert. Allerdings wurden die Provokationen der Türkei, beispielsweise die Hinterfragung der Meeresgrenzen in der Ägäis und im Mittelmeer sowie die Verstöße gegen die Grenzziehungen in Zypern, in der europäischen Öffentlichkeit deutlich intensiver rezipiert und debattiert als in der Türkei selbst. Dies hat zur Wahrnehmung der Türkei als Agressor und Störfaktor in der gesamten Region geführt. Gleichzeitig ist der Eindruck entstanden, die Türkei sei politisch besonders stark und die türkische Regierung könne die Politik der gesamten Region bestimmen.

Ismail Küpeli ist Promotionsstipendiat der Rosa-Luxemburg-Stiftung an der Universität zu Köln. 

Diese Wahrnehmung entspricht durchaus den Interessen der türkischen Regierung unter Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan. Sie versucht seit längerem die innenpolitischen Probleme mit einer aggressiven Außenpolitik zu überspielen. Denn für die beiden bedrohlichsten Krisen des Landes, die weiter eskalierende Coronakrise und die sich dadurch ebenfalls verschärfende Wirtschaftskrise hat die türkische Regierung keine überzeugenden Krisenstrategien vorlegen können.

Leugnung und Relativierung einer Pandemie

Zu Beginn der Coronakrise versuchte die türkische Regierung die Ausweitung der Pandemie in der Türkei zu leugnen. Noch bis Anfang März behauptete sie, dass es in der Türkei keine Covid-19-Infektionen gebe und in regierungsnahen türkischen Medien wurde behauptet, dass ein «Türken-Gen» vor Corona schützen würde. Erst ab Mitte März wurde diese Politik der Leugnung teilweise aufgegeben, nachdem in kritischen- und sozialen Medien über die tatsächlichen Zahlen der Infektionen und Todesfälle berichteten. Die Regierung ging dazu über, das Ausmaß der Erkrankungen mit Covid-19 kleinzureden sowie die Infektions- und Todeszahlen zu manipulieren – etwa mit sehr wenigen Tests. So wurden vom 10. März 2020 bis 16. April 2020 insgesamt nur etwa 500.000 Menschen in der Türkei getestet, während beispielsweise in Deutschland, mit einer fast identischen Bevölkerungszahl, im gleichen Zeitraum etwa 100.000 Tests täglich durchführte (vgl. Nelli Tügel: Im Land des ständigen Ausnahmezustandes, 17. April 2020). In den Wochen und Monaten danach, als die Zahl der Tests, auch aufgrund der Eigeninitiative vieler Menschen, die in die Angaben des türkischen Gesundheitsministeriums wenig Vertrauen zeigten, allmählich stieg, änderte die Regierung ihre Informationsstrategie. Das Gesundheitsministerium begann, nur noch jene Infizierten, die mit Symptomen in einem Krankenhaus behandelt und als Covid-19-Fall erfasst wurden, in ihren Statistiken zu erfassen. Die eher regierungskritischen Ärztekammer schätzen, dass so nur ein kleiner Anteil der tatsächlichen Infektionen in den Statistiken des türkischen Gesundheitsministeriums auftaucht (vgl. Tagesschau, 26. November 2020). Diese Manipulation der Infizierten-Zahlen diente auch dazu, den Tourismussektor aufrecht zu erhalten und vor allem ausländische Touristen, nicht von einer Türkei-Reise abzuhalten. Nach Gesprächen mit der türkischen Regierung hob die bundesdeutsche Regierung am 24. August 2020 die Reisewarnung für die türkischen Provinzen Aydin, Izmir, Mugla und Antalya, die wichtigsten türkischen Urlaubsgebiete, auf. Es ist davon auszugehen, dass die deutsche Regierung durchaus wusste, dass auch in den «freigegebenen» Provinzen die Infektionszahlen sehr hoch waren, sich aber aus diplomatischen Gründen darauf eingelassen hat. Erst als nach kritischen Medienberichten immer deutlicher wurde, welches Ausmaß die Pandemie in der Türkei angenommen hatte sowie und auch in der deutschen Öffentlichkeit die Empörung wuchs, änderte das Auswärtige Amt seinen Kurs und sprach ab dem 9. November 2020 eine Reisewarnung für die gesamte Türkei aus (vgl. Deutsche Welle, 28. Oktober 2020).

Die Maßnahmen der türkischen Regierung gegen die weitere Ausweitung der Pandemie beschränkten sich indes weitgehend auf jene Bereiche, welche die Wirtschaft nicht betreffen. So wurden zwar im April und Mai 2020 landesweite Ausgangssperren für die gesamte Bevölkerung verhängt. Diese beschränkten sich allerdings auf die Nächte und die Wochenenden. Daneben wurden partielle Ausgangssperren für Menschen unter 20 Jahren und über 65 Jahren beschlossen. Damit sollte gewährleistet sein, dass Menschen zwischen 20 und 65 Jahren weiterarbeiten können und die Wirtschaft möglichst wenig Schaden nimmt. Im Sommer 2020 wurden jedoch selbst diese recht begrenzten Maßnahmen wieder zurück genommen, damit die Urlaubssaison möglichst ungestört stattfinden kann. Erst Ende November 2020 beschloss die Regierung erneut einige konkrete Maßnahmen zu Eindämmung der Pandemie. Neben der Wiederauflage der Ausgangssperren vom Frühjahr wurden die Schließung von Restaurants, Cafés, Kinos und Schulen bis Ende 2020 angeordnet. Allerdings bleiben Einzelhandel und Betriebe weiter geöffnet und auch für Hotels sowie andere Unterkünfte gibt es keine Einschränkungen.

Ökonomische Grenzen der Coronapolitik

Die Corona-Maßnahmen der türkischen Regierung lassen die Wirtschaft also weitgehend unangetastet. Schon immer ist das ökonomische Wachstum für die amtierende rechtskonservative AKP-Regierung auch deswegen wichtig gewesen, um die eigene Anhängerschaft mit einer gewissen Wohlstandmehrung stärker an sich zu binden. Dieses Wirtschaftswachstum wurde mittels staatlicher Kredite und einer expansiven Geldpolitik ermöglicht. Ein relevanter Teil dieses Wachstums wurde durch unzählige staatlich finanzierte Bauprojekte ermöglicht. Dieser Bauboom ist allerdings ökonomisch gesehen wenig nachhaltig, weil bei vielen Bauprojekten, wie etwa Flughäfen, bereits jetzt absehbar ist, dass diese Objekte keine Mehreinnahmen produzieren werden. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sie auch im laufenden Betrieb weitere staatliche Zuschüsse benötigen werden. Diese Aussichten und die expansive Geldpolitik der türkischen Regierung führten zu einem drastischen Einbruch der türkischen Lira. Um hier gegen zu wirken müsste die türkische Zentralbank die Zinsen deutlich erhöhen, wodurch ausländische Investitionen in die Türkei fließen und damit den Währungsverlust stoppen würden. Allerdings würden höhere Zinsen zumindest kurzfristig die kreditfinanzierten Sektoren, wie etwa den Bausektor, belasten. Daher wurden aufgrund der politischen Bedeutung dieser Sektoren die Zinsen nicht angemessen erhöht und der Währungsverlust der Lira konnte nicht gestoppt werden. Dennoch konnte diese Niedrigzinspolitik nicht aufrechterhalten werden. Zwar versuchte die türkische Zentralbank mittels Verkäufe ihrer ausländischen Devisen die Lira zu stabilisieren. Aber als diese Bestände immer weiter abnahmen, wurde erkennbar, dass hier ein Kurswechsel nötig ist. Der politische Wechsel wurde indes von einem personellen Wechsel begleitet: Der bisherige Finanzminister Berat Albayrak, der Schwiegersohn des türkischen Staatspräsidenten Erdoğan, trat am 8. November 2020 zurück. Allerdings ist noch nicht absehbar, ob ein tiefgehender finanzpolitischer Kurswechsel erfolgen wird oder ob die machtpolitischen Interessen der Regierung nur begrenzte Maßnahmen zulassen.

Abschließend lässt sich festhalten, dass die türkische Regierung sowohl in der Corona- wie in der Wirtschaftskrise angemessene und wirksame Maßnahmen aus machtpolitischen Gründen weitgehend vermieden hat. Stattdessen verdeckten Regierung und Medien mit Desinformation und Manipulation die dramatische Lage des Landes in der Pandemie und verbrauchte in der Wirtschaftskrise finanzielle Ressourcen, um allzu harte Einschnitte abzufedern und die Wähler*innenbasis nicht zu verunsichern. Doch die harte Realität zeigt sich immer deutlicher, egal wieviele «alternative Fakten» das Regime produziert.