Die Linke und die Kunst – Jens Kastner im Gespräch.
Teil 2: Von der Kritischen Theorie zum Poststruktualismus
In seinem 1956 erschienenen Buch »Avantgarde Film« hat Peter Weiss geschrieben: »Diese avantgardistischen Arbeiten aus dem Film, der Malerei, der Literatur, haben die Katastrophe überlebt. Sie bilden keinen Abschluss, sondern stehen immer noch an einem Anfang. Sie lassen sich weiterentwickeln, fortsetzen. Je konformistischer die äußere Ordnung wird, desto lebendiger wird diese respektlose, aufwieglerische Kunst. Wir brauchen wieder gewaltsame künstlerische Handlungen – in unserem satten, zufriedenen Schlafzustand.« Auf der Suche nach einer Filmsprache, die an die Experimente der historischen Avantgarden anknüpfen und eine beunruhigende Wirkung auf das Publikum haben sollte, mit dem Ziel einer »Veränderung der Gesellschaftsordnung«, engagierte sich Weiss ab Beginn der fünfziger Jahre in der Stockholmer »Arbeitsgruppe für Film« und setzte sich zugleich mit der Geschichte des experimentellen Films auseinander, eine Arbeit, die in sein Buchprojekt »Avantgarde Film« einfloss. Weiss versteht sich als linekr Künstler, der an die Kraft der Kunst für die Veränderung von Gesellschaft glaubte. Allein, die Linke Theoriebildung war in dieser Hinsicht nicht immer so optimistisch.
Der Wiener Soziologe und Kunsthistoriker Jens Kastner hat mit »Die Linke und die Kunst« eine erste Überblicksdarstelleung zur Rolle von Kunst in Linker Theorie vorgelegt, die eine Bogen von Marx und Engels über den Situationismus, den Feminismus bis hin zur postkolonialen Theorie schlägt. Für unsere Webseite haben wir Kastner zum Gespräch über den Blick der Linken auf die Kunst gebeten, das in drei Teilen veröffentlicht wird. Das Buch ist im Unrast Verlag erschienen.
Das Interview führte unser Mitarbeiter Jonas Engelmann.
Von der Kritischen Theorie zum Poststruktualismus
Innerhalb der Kritischen Theorie spielen die Kunst und die Kultur eine wichtige Rolle, es stehen nicht mehr die ökonomischen Produktionsverhältnisse im Mittelpunkt, sondern kulturelle Phänomene. Wie ist es für die marxistisch geschulten Theoretiker zu dieser Verschiebung gekommen?
Es gibt ein großes Missverständnis, was diese Verschiebung betrifft. Produziert wurde es von Perry Anderson, der in »Über den westlichen Marxismus« sein Unverständnis darüber äußert, dass marxistische Theoretiker (hier ist die männliche Form angebracht, Frauen kommen bei ihm nicht vor) sich plötzlich mehr für Kultur als für politische Ökonomie interessieren. Gemeint ist damit vor allem die Kritische Theorie, aber auch der französische Marxismus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Anderson unterstellt, die Theorie beschäftige sich fortan nur noch mit Lappalien wie Romanen, Kunstwerken und Filmen, anstatt sich mit den wirklich wichtigen Dingen zu beschäftigen, eben den ökonomischen Strukturen. Das Missverständnis entsteht durch eine falsche Interpretation des Kulturbegriffes: Mit der Hinwendung zu Kultur, die ohne Zweifel stattfindet, wendet man sich aber nicht vom großen Ganzen ab. Im Gegenteil, mit Kultur adressiert schon Max Horkheimer eine ganze Lebensweise, in der Kunst und Literatur nur spezifische Praktiken von vielen ausmachen. Die Verschiebung von Ökonomie zur Kultur hatte ihren Grund darin, dass rein ökonomische Erklärungen als unzulänglich angesehen wurden, um zu verstehen, wieso die Revolutionen nach dem Ersten Weltkrieg außer in Russland gescheitert waren, warum sich die Arbeiterklassen in den Kapitalismus integrieren ließen. Die Verschiebung fand also nicht von der Frage »wie funktioniert die politische Ökonomie?« zur Frage »wie funktioniert der moderne Film?« statt – wie Anderson unterstellt hatte –, sondern von der sozioökonomischen Produktionsweise hin zu den Gebrauchsweisen der Produkte. Damit sollte die Frage beantwortet werden können, warum die Leute vielleicht lieber ins Kino gingen als für ihre Rechte zu demonstrieren und den Kapitalismus abzuschaffen.
Die Rolle der Kunst in der Gesellschaft wird von den Vertretern der Kritischen Theorie sehr unterschiedlich bewertet, für Marcuse ist sie die »Architektur einer freien Gesellschaft«, ist also etwas über die soziale Realität hinausweisendes, produktives, für Walter Benjamin oder Adorno dagegen ist die Aufgabe der Kunst, die bestehende Realität zu verneinen. Kannst du die unterschiedlichen Positionen kurz umreißen?
Die Negation des Bestehenden ist vielleicht die große Gemeinsamkeit, die der Kunst in den verschiedenen Herangehensweisen der Kritischen Theorie zugeschrieben wird. Zunächst ist dabei einmal festzuhalten, dass diese Positionen als Abkehr vom (in der Linken) dominanten Widerspiegelungstheorem sowohl in deskriptiver als auch normativer Hinsicht konzipiert war: Also Kunst wurde nicht nur als etwas beschrieben, was mehr und anderes als soziale Realitäten widerspiegeln konnte, sondern sie sollte es auch. Bei Marcuse ist die Negation, die die Kunst betreibt, dann eher eine optimistische Angelegenheit, sie verneint das Gegenwärtige sozusagen als Hoffnung auf etwas ganz anderes. Bei Adorno und Benjamin gibt es dieses Hoffnungsmoment zwar auch, aber sie tendieren eher zu pessimistischen Visionen in dem Sinne, dass die Kunst als letztes und stets bedrohtes Reservat der Kritik angesehen wird. Das ist jetzt alles sehr verkürzt, aber im Wesentlichen, denke ich, sind die Positionen damit gekennzeichnet.
Ich habe mich im Buch immer bemüht, möglichst breit zu rezipieren, also nicht nur jeweils ein Buch oder einen zentralen Aufsatz heranzuziehen, sondern ein Panorama des Schaffens darzustellen. Hinzu kam der Versuch, in Ansätzen auch Debatten abzubilden und die jeweiligen theoretischen Formationen – also in etwa Labels wie »Kritische Theorie«, nach denen ich die Kapitel geordnet habe – in ihrer Relevanz bis in die Gegenwart ernst zu nehmen. Das Kapitel zur Kritischen Theorie endet also nicht mit Adornos Ästhetischer Theorie.
Alle Vertreter der Kritischen Theorie sind vom Nationalsozialismus aus Deutschland vertrieben worden, die Shoah fand während ihres Wirkens statt und hat auch ihre Schriften zutiefst geprägt. Hat sich aufgrund dieser Erfahrungen auch der Blick auf die Kunst geändert ? Wie kann politische Kunst nach Ausschwitz aussehen, nach der Ästhetisierung der Politik durch den Faschismus, wie Benjamin es ausgedrückt hat?
Das wäre sicherlich eine Untersuchung für sich wert. Es gibt Adornos viel zitierten und später relativierten Satz, dass nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben barbarisch sei, aber im Großen und Ganzen scheint mir die Shoah in Bezug auf das Kunstverständnis innerhalb der Kritischen Theorie nicht der Bruch zu sein, den man vielleicht erwarten würde. Walter Benjamin konnte seinen Aufruf, die Ästhetik zu politisieren, den er am Ende seines Aufsatzes zur technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerkes formuliert, ja nicht weiter ausführen. Es ist dann viel darüber spekuliert worden, wie eine Politisierung der Ästhetik aussehen könnte.
Einige der Vertreter der Kritischen Theorie haben selbst Kunst hinterlassen, Adorno Kompositionen, Sohn-Rethel literarische Texte, Walter Benjamin Radioessays. Wie ist denn das Verhältnis des theoretischen Anspruchs an die Kunst und ihrer konkreten Umsetzung?
Ich habe mich ja vor allem mit der Theorieproduktion beschäftigt und die Frage zu beantworten versucht, welche Rolle der Kunst in den gesellschaftstheoretischen Entwürfen zukommt. Die Kunstproduktion der Theoretiker*innen, auch jener, die selbst Künstler*innen waren, habe ich außen vor gelassen. Das hätte einfach den Rahmen gesprengt.
Der Situationismus ist die erste theoretische Schule nach 1945, die du untersuchst. Dort wird Kunst als eine affirmative Praxis verstanden, als Teil der „Gesellschaft des Spektakels“. Welche Rolle spielt die Kunst für die Situationisten in diesem Spektakel?
Die Kunst spielt eine nicht unwichtige Rolle für die Entwicklung des Spektakels, weil es in ihr so etwas wie ein Monopol auf Bildlichkeit und symbolische Bedeutung gab. Wenn also Gesellschaft (als Spektakel) bloß noch als falsches, ideologisches Abbild ihrer selbst wahrgenommen werden kann, dann kann die Spezialsphäre der Produktion und Rezeption von Bildern daran nicht unbeteiligt sein. Diese Position führte auch zu widersprüchlichen oder widerstrebenden Haltungen innerhalb der Situationistischen Internationale (SI). Während anfangs künstlerische Strategien, also auch Bilder zu malen, noch als probates Mittel angesehen wurden, dem Spektakel etwas entgegenzusetzen, wurden die Künstler*innen schon Anfang der 1960er Jahre aus der SI ausgeschlossen. Es lässt sich aber vielleicht hervorheben, dass vor allem Guy Debord, wenn er auch für den Ausschluss der Künstler*innen war, stattdessen kein reines Theorieprojekt vor Augen hatte. Es ging ihm schon darum, die theoretische Zuspitzung mit außertheoretischen Kämpfen, also mit klassenkämpferischen, rätekommunistischen Strömungen der Arbeiter*innenbewegungen zu verknüpfen.
Bei Raoul Vaneigen ist es vor allem das System Kunst, das kritisiert wird, wo sieht er dagegen in der künstlerischen Praxis noch ein Potential jenseits des Spektakels?
Raoul Vaneigem und Guy Debord sind in vielerlei Hinsicht die beiden Extrempole im situationistischen Diskurs. Beide benutzen den Spektakel-Begriff, aber Vaneigem setzt der Spektakelkunst viel stärker als Debord die Möglichkeit kreativen, lustvollen Schaffens entgegen. Die Gefahr der Vereinnahmung und der Kooptation wird schon gesehen und ständig problematisiert, aber die Hoffnung auf die Möglichkeit spontanen, lustbetonten, selbstbestimmten Handelns ist sehr groß. Vaneigem versucht das vielleicht auch in seinem eigenen Schreiben schon vorwegzunehmen, das viel poetischer ist als der eher wissenschaftliche Stil Debords. Beide treffen sich allerdings wieder in der Forderung nach einer generalisierten Selbstverwaltung. Aber die Frage bleibt selbstverständlich offen, ob es ein Außerhalb des Spektakels geben kann und falls ja, wie es initiiert und geschützt werden kann bzw. könnte.
Welche Strategien kann Kunst entwickeln, um die Durchdringung aller Lebenssphären durch den Kapitalismus, zu überwinden? Kunst bleibt ja eine Ware, zumindest im bestehenden Kunstsystem, das auf das Werk fokussiert ist?
Das ist wohl eine der Schlüsselfragen, die hier vielfach und in unterschiedlichen Begrifflichkeiten immer wieder gestellt wird. Leicht zu beantworten ist sie selbstverständlich nicht. Das Kunstwerk oder die künstlerische Arbeit ist eine Ware, aber keine Ware wie jede andere. Es produziert immer auch einen symbolischen Wert, der dem Tauschwert letztlich vorausgeht, weil dieser ohne den symbolischen Wert gar nicht entstehen könnte. Ohne dass ein Konglomerat von Kunstexpert*innen – der akademische Diskurs, die Museumsleute, die Sammler*innen, die Kunstkritik, usw. – einem Gegenstand die Weihe verleiht, gute Kunst zu sein, lässt er sich nicht verkaufen. Symbolisch ist der Wert der künstlerischen Arbeit nicht in dem Sinne, dass er keine wirklichen Auswirkungen hat, sondern im Gegenteil, dass er sich auf Prozesse der Sinn- und Bedeutungsgebung bezieht. Was ist gut, was ist richtig, was ist wertvoll – Antworten auf diese Fragen sind ja stets mehr oder weniger langlebige Effekte sozialer Aushandlungsprozesse oder Kämpfe. Darauf zielen nun verschiedene künstlerische Strategien: Die allgemeinen und hegemonialen Prozesse der Bedeutungsgebung zu irritieren, zu unterlaufen, ihnen etwas entgegenzusetzen. Das kann die heteronormative Matrix oder das Verschweigen der kolonialen Gräuel oder das Dogma sein, dass es zum Kapitalismus keine Alternative gäbe. Wie erfolgreich eine solche Strategie sein kann, hängt von verschiedenen Faktoren ab und kann wohl nur am Einzelfall nachgezeichnet werden. Ich denke, die Zeit ist vorbei, in der man allgemein sagen konnte, Überaffirmation ist die Strategie der Stunde oder Verweigerung oder Formalästhetik oder was auch immer.
Pierre Macherey, dessen Schriften für dich den Übergang von Lenin zum Poststrukturalismus markieren, hat Jules Vernes Science-Fiction-Texte auf das darin Ausgesparte und Verschwiegene analysiert, eine Herangehensweise, die Edward Said später als „Kontrapunktische Lektüre“ weiter ausgeführt hat. Was kann mit dieser Verschiebung des Fokus sichtbar gemacht werden?
Pierre Macherey schien mir eine interessante Figur, weil er einerseits ein Schüler Louis Althussers ist und als solcher vielleicht den letzten, anspruchsvollen Versuch unternimmt, das leninistische Widerspiegelungstheorem zu erneuern. Andererseits spielt seine Position in dem bekanntem Aufsatz der postkolonialistischen Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak »Can the Subaltern Speak?« eine wichtige Rolle und zwar genau durch die Betonung der theoretischen Bedeutung des Nicht-Sichtbaren, des Nicht-Gesagten und des Ausgeklammerten. Ihn interessiert die Frage, was der Spiegel der Wirklichkeit, der Kunst u.a. auch sein kann, gerade nicht zeigt. Darauf hinzuweisen, dass das kein Mangel sein muss, etwas nicht abbilden zu können oder wegzulassen, sondern ein Potenzial, das vor Verdoppelung und Reproduktion bewahren kann, ist vielleicht die von Macherey ausgehende Errungenschaft.
Du machst in diesem Zusammenhang den Begriff der »Brechung« stark, der bereits zur Auseinandersetzung des Poststrukturalismus mit der Kunst hinführt. Wie wird dort das Verhältnis von künstlerischer Arbeit und herrschender Ideologie analysiert?
Das ist natürlich eine kleine Nebenthese meinerseits, dass sich mit der Brechung, also dem auslassenden oder verzerrten Spiegelbild, das Macherey schon bei Lenin ausmachen will, schon der Poststrukturalismus ankündigt. Die poststrukalistischen Theoretiker*innen lassen in der Regel ja den Ideologiebegriff fallen und ersetzen ihn durch verschiedene andere Konzepte wie etwa das Dispositiv bei Michel Foucault und die Territorialisierung bei Gilles Deleuze und Félix Guattari. In den meisten Fällen führt das zu einer erstaunlichen Aufwertung der künstlerischen Arbeit, die nur noch selten als Reproduzentin des soziopolitischen Status quo angesehen wird und viel häufiger als potenzielle Produzentin anderer Wirklichkeiten, eben des Brechens mit der aktuellen Wirklichkeit. Das Anders-Werden spielt in diesen Ansätzen eine große Rolle und da scheint die Kunst meist wie selbstverständlich ihren positiven Beitrag zu leisten. Die Beharrungskräfte, also das, was andere als herrschende Ideologie bezeichnen würden, werden aus letztlich programmatischen Gründen weniger in den Vordergrund gerückt.