Ende 2020 kam überraschend die erste Folge von «Spadework» raus, einem Podcast zum Thema Organizing. Stellt euch doch mal vor und erzählt uns, wie ihr dazu gekommen seid.
Daniel: Für mich sticht hervor, dass wir beide einen starken Wunsch danach haben, die Welt zu verändern – trotz unserer sehr unterschiedlichen Wurzeln ein sehr ähnliches Bedürfnis.
Für mich selbst würde ich sagen, dass ich absolut ein Kind meiner Zeit bin. Ich habe damals Obama gewählt und gedacht, dass ich dafür ein Sozialdemokratisches System im Stil von Schweden bekommen würde. Stattdessen gab es mehr Krieg gegen den Terror, mehr Abschiebung und die staatlichen Universitäten wurden an Banken verkauft.
Mittlerweile haben es alle mitbekommen, die Finanzkrise hat nicht zum Ende des Neoliberalismus geführt – ganz im Gegenteil, sie hat ihn intensiviert. Für mich heißt das, dass viele meine Freunde erdrückende Schulden angehäuft haben. Viele von ihnen verharren in Jobs, die sie hassen, weil sie einfach keine andere Möglichkeit haben. Fast alle von Ihnen leben noch bei ihren Eltern, trotz Universitätsstudium. Kaum jemand geht zu Vorsorgeuntersuchungen oder nimmt irgendeine regelmäßige Behandlung in Anspruch – einfach, weil es zu teuer ist. Du kannst dir das Gesicht des Zahnarztes nicht vorstellen, als ich hier in Berlin zur «Zahnreinigung» gegangen bin – das erste Mal seit etwa 10 Jahren.
Das Leben ist für Viele in meinem Alter ziemlich hart.
Spadework = Spadework bezieht sich auf die vorbereitende und schwierige Arbeit, die notwendig ist, damit ein Garten oder eine Ernte im Frühjahr blühen kann. Der Begriff wurde von Ella Baker populär gemacht, einer wichtigen Organisatorin der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und Architektin der Freedom Schools des Student Nonviolent Coordinating Committee. Er wird in einer Reihe von Texten erwähnt, darunter zuletzt in Alyssa Battistonis Artikel Spadework und Chris Crass' Buch Towards Collective Liberation.
Dieses Erleben der Krise hat für mich zu einer Politisierung geführt. Occupy war meine erste Erfahrung aktiv gelebter Politik. Daran anschließend war ich Teil einer kleinen anarchistischen Organisation (cadre organization) und von 2013 bis 2015 war ich Mitglied und gewählter Vertreter einer Gewerkschaft, die an der Universität arbeitende Studierende repräsentierte (UAW 2865). Nachdem ich mit Antje 2015 nach Berlin gezogen war ich in die Kämpfe Geflüchteter involviert und seit 2019 bin ich Mitglied der Linkspartei.
All das waren transformative Erfahrungen. Was sie alle vereint war eine langsame und oftmals schmerzhafte Erkenntnis, dass lohnende, resiliente und politisch effektive Organisationen nicht von selbst entstehen. Unabhängig von Ort und Organisation, es war immer auch ein Kampf, die Organisationen selbst zu erhalten mit denen wir unsere eigentlichen Kämpfe führen wollten.
Wir erleben zurzeit, dass unsere politischen Kämpfe wieder von mehr Experimentierfreude geprägt sind und in der Organisation wieder stärker versuchen sich tatsächlich in die gesellschaftlichen oder sozialen Gruppen einzubinden, in denen Veränderung erreicht werden soll, statt abstrakten Organisationsformen und Analysen die Treue zu halten. Das bedeutet aber auch, dass wir eine langsame und schmerzhafte Umorientierung erleben, die Organisationen mehr dahin bewegt, die Gegensätze und Widersprüche anzunehmen, die letztendlich die Kulturen der Arbeiter*innenklasse definieren.
Dieser Podcast ist für mich ein Forum für politisch Aktive in dem wir uns darüber austauschen können, was Organisationen heute sein können und müssen, in dieser sehr speziellen Zeit über Räume und Territorien hinweg. Das Ziel soll dabei sein, besser zu verstehen, was funktioniert und was eben nicht.
Antje: Daniel hat ja bereits erwähnt, dass wir gemeinsam in sehr verschiedenen politischen Organisationen waren; in verschiedenen Ländern (USA und Deutschland), in verschiedenen Strukturen (von Gewerkschaft über autonome Gruppe bis Partei). Und während ich sehr davon überzeugt bin, dass ich durch diese verschiedenen Organisationsformen sehr viel gelernt habe, und dass es grundsätzlich gut für die politische Entwicklung ist, mehr als eine Organisation mal von innen gesehen zu haben – habe ich dennoch das Gefühl, dass manche Fragen sich in allen Kontexten wiederholt haben: Die Frage wie wir Menschen jenseits der eigenen Szene erreichen können, die Frage wie unsere Organisationen größer werden können, die Frage was eine gute Führung ausmacht, oder die Frage wie wir Repressive Verhaltensmuster basierend auf Sexismus, Rassismus oder Klassismus in unseren Organisationen überwinden können.
In den letzten Jahren haben wir aber nicht nur Probleme gesehen, sondern auch, dass Menschen immer wieder Antworten auf diese Fragen gefunden haben. Nicht auf alle Fragen, aber auf ein oder zwei. Für uns ist die Werkstatt für Bewegungsbildung der Ort an dem wir all die gefundenen Antworten zusammensuchen um – so die Hoffnung – die Linke insgesamt stärker zu machen. Wir machen das durch Workshops, aber wollen zusätzlich ein kleines Archiv anlegen, in dem wir dieses sehr spezielle Wissen sammeln. Für uns sollte Spadework diese Rolle erfüllen.
Was hat euch für das auditive Format besonders inspiriert?
Daniel: Wir sind beide ziemlich überarbeitete Eltern, die Arbeit, Politik und Familie in Zeiten einer katastrophalen Pandemie organisieren müssen. Aber auch schon vor Corona hatten wir nicht übermäßig viel Zeit zum Lesen oder Schauen jenseits von dem was wir für die Arbeit tun mussten. Podcasts passen da genau in die Lücke. Du kannst sie auf dem Fahrrad hören, beim Laufen, im ÖPNV oder beim Autofahren. Ich habe durch Podcasts eine Menge gelernt und da dachte ich mir: warum nicht?!
Antje: Außerdem gefällt mir die Möglichkeit, Themen über Gespräche zu erörtern, also im Dialog. Das passt in diese Idee des «fragend Vorangehens». Ich bin überzeugt davon, dass dieser fragende, vorsichtige Zugang unseren Lernprozess dominieren sollte. Ein Podcast kann diesem Anspruch sehr gut entsprechen.
Welche Ansätze und Projekte spielen für euch dabei eine Rolle? Welche Gäste sind euch besonders wichtig?
Antje: Als politisch aktive Menschen in den USA hat uns die Entwicklung der Democratic Socialists of America, der DSA ziemlich begeistert. Es ist faszinierend zu beobachten, wie dieses Experiment der massiven Mobilisierung sich entwickelt. Und das ein politisches Umfeld erschaffen wurde, um solche Projekte zu unterbinden.
Eine weitere beeindruckende Organisation ist das Sunrise Movement. Dieser Organisation ist es, gemeinsam mit Alexandria Ocasio Cortez, gelungen, klimapolitische Fragen in das Zentrum der politischen Debatte zu rücken. Und dann noch #BLM, die in ihrer sehr diversen, manchmal sogar widersprüchlichen Struktur alle zum Nachdenken anregen müsste, die einen Dichotomie sehen bei der Frage nach Spontaneität und Organisation.
Daniel: Hier in Deutschland ist DIE LINKE ohne Zweifel eine spannende Organisation. Die Wichtigkeit dieser Organisation habe ich noch nie angezweifelt, nicht einmal als Anarchist in den USA. Ich habe direkt davon profitiert, dass die Rosa-Luxemburg-Stiftung Material in den USA publiziert hat. Und auch wenn ich sicherlich manche der politischen Positionen nicht teile, finde ich es doch wichtig zu betonen, dass DIE LINKE eine Art tragender Pfeiler in der Linken ist, der vielen anderen Entwicklungen Raum verschafft.
Antje: Und dann ist da natürlich die Deutsche Wohnen Enteignen Kampagne. Darin ist besonders die Starthilfe beeindruckend. Es ist eine organisationsstrukturelle Innovation – eine Unterorganisation zu schaffen, die ihre gesamte Energie darauf verwendet, möglichst vielen Menschen die Fähigkeit zu geben, führende Funktionen in der Kampagne zu übernehmen. Und das alles nur mit der Hilfe von Freiwilligen. Das ist auf jeden Fall ein Projekt von dem wir alle etwas lernen können.
Daniel: Natürlich sind alle Gäste die wir hatten und haben werden wichtig. Sie bringen unterschiedliche Erfahrungen und unterschiedliches Wissen von dem wir denken, dass es mehr Sichtbarkeit verdient. Für mich persönlich war das Gespräch mit Chris Dixon und Sharmeen Khan, aber auch die geplanten Gespräche mit Gästen wie Rodrigo Nunes, Bue Rübner Hansen, und Manuela Zechner besonders spannend, weil sie für eine Art Mittelweg stehen, der viele der Dichotomien überwindet, in denen wir unsere politische Arbeit oft denken.
Für diese Genoss*innen ist Politik nicht schwarz oder weiß – Organisation oder Spontanität, horizontale oder vertikale Strukturen, Aktivismus oder Organizing – sie bewegen sich vielmehr in einem sich beständig wandelnden grau. Und darum geht es in Politik und Organizing: Anpassen, Reagieren auf sich ändernde Bedingungen und die äußeren Faktoren und Kräfte. Es verlangt ein Wohlfühlen mit Veränderung.
Antje: Wir sind wirklich auf der Suche nach Menschen die in praktischer Politik, in Organizing-Projekte involviert sind (oder manchmal waren). Menschen die in diesen langweiligen Treffen saßen, die aber auch dieses Gefühl der praktischen Solidarität erlebt haben. Menschen, die ihr eigenes Engagement reflektieren wollen. Menschen die ihre jeweiligen Bewegungen in höchsten Tönen loben aber auch Schwächen benennen können.
Was sagt ihr zu: «Organizing ist ein US-amerikanischer Ansatz, der mal wieder nach Europa getragen wird»?
Daniel: Ich persönlich finde es eher nervig, wenn «Organizing« auf ein sehr spezifisches Modell beschränkt wird. Rodrigo Nunes macht in diesem Zusammenhang immer deutlich, dass wir alle bereits organisiert sind und uns beständig selbst organisieren. Wenn man ganz bestimmte Praktiken isoliert um sie als Organizing zu betrachten ignoriert das den gesamten Kontext, in dem diese Praktik stattfindet.
Diese Herangehensweise findet sich auch in der Vorstellung, dass es einen grundlegenden Gegensatz zwischen organisieren und mobilisieren gibt. Häufig geht es dabei mehr darum, die eigenen Projekte von anderen abzugrenzen. Das soll nicht heißen, dass es keine Unterschiede in organisatorischen Tendenzen gibt – ein Zugang fokussiert sich darauf, bereits existierende Ressourcen zu mobilisieren, in der Hoffnung, dass diese Mobilisierung mehr Mobilisierung schafft, der andere Zugang ist eher darauf konzentriert mehr Ressourcen aufzubauen um die gesellschaftlichen Strukturen zu verändern. Beide Ansätze organisieren Menschen und Ressourcen – sie sind der strategische Einsatz von Ressourcen, aber setzen eben unterschiedliche Prioritäten.
Es gibt natürlich sehr spezifische Organizing-Modelle, wie das von Jane McAlevey. Hier werden sehr klar definierte Praktiken, Mechanismen und Techniken in einer ziemlich fest definierten Folge angewendet. Ja, ich kann durchaus erkennen, dass man dieses Modell als einen Export beschreiben kann. Allerdings würde ich auch sagen, die Entwicklung dieses sehr spezifischen Wissens, um Klassenkonflikte lässt sich keinen methodologischen Nationalismus unterordnen. Mir erscheint es absurd, dass Deutsche sich darüber beschweren könnten, dass Organizing ein fremdes Wissen sei. Die meisten dieser Konzepte und Idee sind doch Ideen, die sich zurückführen lassen auf die frühen Jahre der SPD. Es gibt eine gar nicht so kleine Gruppe bei DSA, die sich intensiv mit der SPD vor dem Ersten Weltkrieg befassen um das verlorengegangene Wissen um Praktiken der Organisierung wiederzuerlangen. Die Zirkulation von solchen Konzepten ist weder einzigartig noch neu.
Wie die Arbeiter*innenklasse selbst, so haben auch ihr Wissen, ihre Kunst und ihre Waffen keine (nationale) Heimat (homeland).
Antje: Ich glaube Daniel hat zu diesem Punkt fast alles Wichtige gesagt. Ein letzter Einwand vielleicht, aus der Perspektive einer Person, deren erste Sprache Deutsch ist: Ich sehe natürlich den Unterschied zwischen der Bedeutung von organizing als englischem Wort und organizing als einem englischen Begriff, der in der deutschen Linken verwendet wird. Mir ist bei diesem Statement aber immer etwas unklar, warum die Frage nach der Migrationsroute des Konzeptes für die Praxis relevant sein sollte.
In unserem Podcast konzentrieren wir uns darauf, voneinander zu lernen – wenn wir dafür nicht über den eigenen Tellerrand schauen, dann gibt es da nicht viel zu holen. Wir müssen uns doch anschauen, was andere Organisationen tun, und zwar über staatliche Grenzen hinweg. Was nicht funktioniert ist, dass wir einfach eine exakte Kopie einer Technik oder eines Models erstellen und dann hoffen genau so wieder zu gewinnen. Das ist allerdings nicht nur ein Problem für den Blick in anderen Ländern, das funktioniert auch nicht von einem Konfliktfeld ins nächste, von einer Epoche in die nächste. Wir müssen immer Anpassungen vornehmen, unseren exakten Kontext betrachten und dann anpassen.
Welche (politischen) Unterschiede seht ihr vor allem zwischen den US-amerikanischen Ansätzen. Und welchem Verhältnis stehen diese Versuche zu den Projekten in anderen Teilen der Welt und auch in Deutschland?
Daniel: Ich finde es schwierig über konkrete, einzelne Unterschiede zu sprechen. Letztendlich geht es um Kämpfe die immer mit unterschiedlichen Strategien und Aktivitäten gekämpft werden. Und natürlich zirkulieren diese Strategie und Praktiken auch. Natürlich gibt es Unterschiede in der Organisierung. Ich habe bereits über die Unterschiede zwischen Mobilisierung und base-building gesprochen. Und wir können in dem Bereich base-building oder eben organizing verschiedene Modelle identifizieren: das IWW organizing Modell, McAlevey’s Modell, Zach Exley’s and Becky Bond’s Modell und andere mehr.
Antje: Ich sehe ernste Probleme, wenn wir ein Modell nehmen, dass in einem Kampf oder einer Auseinandersetzung funktioniert hat, und es einfach eins zu eins in ein völlig neues Feld pflanzen. Dafür muss man sich immer den konkreten Kontext, die Machtverhältnisse anschauen in denen ein Kampf stattfindet. Deshalb sehe ich grundsätzlich kritisch, wenn man versucht einzelne Modelle gegen- oder nebeneinander zu stellen. Das setzt letztendlich voraus, dass man diese Modelle als fast schon ritualisierte Anordnung von Praktiken für relativ statisch erklärt.