Globale Kontexte erzeugen eine gemeinsame Wahrnehmung von Problemlagen. Und daraus können, sagt Boris Kanzleiter, auch gemeinsamer Protest und Veränderung wachsen.
Dieses Interview ist in einer verkürzten Version Teil der «maldekstra #10», dem Auslandsjournal für globale Perspektiven von links.
Dem Arabischen Frühling folgte ab 2011 eine Welle von Massenprotesten in vielen anderen Ländern. Da lagen die sozialen Proteste gegen neoliberale Globalisierung bereits zehn Jahre zurück. Gibt es so etwas wie transnationale Bewegungszyklen – also Protestwellen mit internationalen Bezügen oder sogar grenzüberschreitende soziale Bewegungen?
Ja, definitiv gibt es solche transnationalen Bewegungszyklen und sie sind keineswegs ein neues Phänomen. Historisch sind etwa die Demokratiebewegungen von 1848 in Europa, die weltweiten Massenaufstände am Ende des Ersten Weltkriegs und im Gefolge der Russischen Revolution 1917-21 oder die globalen Proteste von 1968 zu nennen. Auch 1989 war in mancher Hinsicht ein globales Protestereignis. In den 1990er Jahren entwickelte sich ausgehend vom Aufstand der Zapatistas in Chiapas und linker Bewegungen in anderen lateinamerikanischen Ländern die «Anti-Globalisierungsbewegung» oder besser gesagt, eine Bewegung für eine alternative Globalisierung. Sie richtete sich primär gegen neoliberale Strukturreformen und die Liberalisierung der Finanzmärkte. Ihre Höhepunkte waren die internationalen Protestmobilisierungen gegen die Welthandelsorganisation WTO in Seattle 1999 und den G8-Gipfel in Genua 2001. Mit den Weltsozialforen gelang es der Bewegung sogar, ein globales Netzwerk zu schaffen, das über mehrere Jahre die Gelegenheit für Austausch, Kooperation und Vernetzung zwischen linken und progressiven Akteuren weltweit bot und bis heute existiert. Im Gefolge des Angriffs auf das World Trade Center in New York 2001 und des «Krieges gegen den Terror» wurde diese Bewegung allerdings schwächer. Nach der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise 2009 kann es aber wieder zu einem Aufschwung von Protestbewegungen wie dem «Arabischen Frühling» ab Ende 2010, der einen transnationalen Bewegungszyklus einleitete, der sich unter anderem in Occupy Wallstreet 2011, den Dauerprotesten auf dem Syntagma Platz in Athen 2011, der Bewegung der Indignados (Empörte) in Spanien 2011/12 oder den Sozialprotesten in Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina 2011-2014 manifestierte. Diese Bewegungen richteten sich alle gegen die neoliberale Austeritätspolitik und bezogen sich mehr oder weniger stark aufeinander. Zu einem zweiten Zyklus globaler Proteste gegen Austerität und Autoritarismus kam es 2019: Wieder gingen in Ecuador, Sudan, Ägypten, im Libanon und in vielen anderen Ländern Hundertausende und sogar Millionen, wie in Chile, auf die Straße, um gegen Austerität, Korruption und Autoritarismus zu protestieren. Dieser Bewegungszyklus wurde durch den Ausbruch der COVID-19 Pandemie im Frühjahr 2020 unterbrochen.
Mit Boris Kanzleiter, Direktor des Zentrums für internationalen Dialog der Rosa-Luxemburg-Stiftung, sprach Kathrin Gerlof.
Aber sind das wirklich transnationale Bewegungen? Oder handelt es sich lediglich um zeitgleiche Proteste in verschiedenen Ländern?
Sicher muss man aufpassen, keine Gemeinsamkeiten zu konstruieren, die nicht bestehen. Ich würde beispielsweise die Proteste in Hongkong oder die Proteste in Belarus nicht ohne weiteres in den Protestzyklus gegen Austerität und Autoritarismus einordnen, der im zweiten Halbjahr 2019 seinen Höhepunkt erreichte, obwohl es durchaus Bezüge gab. Aber ich halte es für richtig, von transnationalen Bewegungen zu reden. Solche Bewegungszyklen bestehen jeweils aus vielen lokalen Protestereignissen, die sich in einem spezifischen Kontext artikulieren und durchaus erhebliche Unterschiede aufweisen können. Aber die lokalen oder nationalen Ereignisse verbinden sich nicht nur durch die Synchronität, sondern auch durch gemeinsame Begriffe und Symbole, den Transfer von bestimmten Protestformen, wie den Sit-ins 1968 oder der Platzbesetzungen 2011. Diese Gemeinsamkeiten entwickeln sich aufgrund bestimmter globaler Problemlagen und Konflikte, die jeweilige lokale und nationale Kontexte betreffen. 1917-21 waren das die Folgen des Ersten Weltkrieges und die Hoffnung auf eine Internationalisierung der Russischen Revolution. 1968 ging es um die anti-kolonialen und anti-imperialistischen Befreiungskämpfe in Asien, Afrika und Lateinamerika, das Demokratiedefizit in den sozialistischen Staaten und soziokulturelle Umbrüche in den westlichen Industriestaaten. Für das Verständnis vom «Arabischen Frühling» und der nachfolgenden Protestwelle in vielen anderen Ländern im Süden Europas und den USA 2011 sind die Folgen der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise von 2009 zentral.
Erwächst aus dem Globalen dann aber auch wirkliche Gemeinsamkeit, also gemeinsames Tun?
Ja, diese globalen Kontexte erzeugen auch eine gemeinsame Wahrnehmung von Problemen, die Entwicklung einer gemeinsamen Symbolsprache und die Möglichkeit zur Entwicklung gemeinsamer Alternativen. Das gelingt mal mehr und mal weniger. In jedem Fall bieten die transnationalen Bewegungszyklen die Möglichkeit für die Entwicklung einer konkreten internationalistischen Politik der Linken. Das gilt vor allem auch für transnationale Bewegungen, die sich anhand eines spezifischen Problems oder eines Unterdrückungszusammenhangs entwickeln, wie die Klimagerechtigkeitsbewegung, die feministische Bewegung oder die Bewegung für globale Arbeitsrechte. Diese Bewegungen sind wesentlich stabiler als die oft spontanen Sozialproteste. Der Klimagerechtigkeitsbewegung ist es in den vergangenen Jahren gelungen, globale Netzwerke und einen globalen Diskurs zu entwickeln. Die feministische Bewegung konnte sich durch die Proteste gegen die Einschränkung reproduktiver Rechte weltweit erneuern und verfügt in vielen Ländern von Polen über Spanien bis Argentinien über hohe Mobilisierungsfähigkeit. Mittlerweile gibt es auch effektive Ansätze für den transnationalen Kampf um Arbeitsrechte, wie die Kampagnen gegen Amazon oder die Organisierungsstrategien von UNI global union in transnationalen Konzernen zeigen. Dasselbe gilt für die Vernetzung von Kleinbauern in Netzwerken wie «Via Campesina». Großes transnationales Potenzial hat die neue Bewegung gegen Rassismus und für Dekolonisierung, die von «Black Lives Matter» in den USA ausgeht und in vielen europäischen Ländern aufgegriffen wird.
In diesen Monaten jährt sich der Arabische Frühling zum zehnten Mal. Du hast ihn als Ausgangspunkt für einen transnationalen Bewegungszyklus in den folgenden Jahren bezeichnet. Was waren die Ursachen und was ist geblieben?
Der Arabische Frühling und der folgende transnationale Protestzyklus in 2011-12 waren im Kern Bewegungen für soziale Gerechtigkeit und demokratische Rechte. Sie reagierten auf die neoliberale Austeritätspolitik im Gefolge der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise, die durch den Zusammenbruch der US-amerikanischen Großbank Lehman Brothers im September 2008 ausgelöst wurde. Die Proteste wandten sich auch gegen die repressiven Strukturen in den autoritären, oligarchischen und klientelistischen Regimen in den arabischen Ländern. Sie adressierten zudem Demokratiedefizite in den südeuropäischen Ländern und den USA. In Spanien wurde die politische Elite von den Protestierenden als eine «Kaste» bezeichnet, welche die Gesellschaft unterdrücke. In den USA prägte «Occupy Wallstreet» den Slogan «We are the 99 percent» und wies damit nicht nur auf die extrem ungleiche Verteilung des Reichtums sondern auch auf die Abgehobenheit der politischen Eliten hin. In den arabischen Ländern endete die Protestwelle mit der brutalen Repression durch das Assad-Regime in Syrien, die den Bürgerkrieg einleitete, und den Militärputsch 2013 in Ägypten. In anderen Ländern konnten die Proteste aber zunächst auch positive Veränderungen erzielen. In Tunesien mündete die Revolution in einen verfassungsgebenden Prozess und einer begrenzten Demokratisierung. In Griechenland wuchs die linke Parteienkoalition SYRIZA stark an und konnte Anfang 2015 die Parlamentswahlen gewinnen. In Spanien entstand die neue Linkspartei PODEMOS aus den Protesten. Auch in Slowenien konnte sich mit der neu gegründeten LEVICA eine neue linke Partei dauerhaft in der politischen Landschaft etablieren. Fast vergessen ist der erste parallele Generalstreik in mehreren europäischen Ländern im November 2012. Ausgehend vom Aufruf zu einem Generalstreik des der portugiesischen Gewerkschaftsbund CGTP, schlossen sich unter dem Druck der Indignados Bewegung die spanischen Gewerkschaften CC.OO und UGT an. Auch Gewerkschaften in Italien und Griechenland folgten der Initiative. Zum ersten Mal in der Geschichte der Europäischen Union wurden nationale Streikaktionen synchronisiert. Auch in den USA hatte die Bewegung wichtige Folgen. Der neue linke Flügel um Bernie Sanders in der Demokratischen Partei und andere linke Organisationen wurden gestärkt. Gleichzeitig muss konstatiert werden, dass die Bewegungen ihre Ziele nirgends wirklich erreichen konnten. Der Bewegungszyklus von 2011-12 hat allerdings die Protestkultur in vielen Ländern verändert. Die Proteste vom Herbst 2019 konnten sich in vielen Ländern darauf beziehen. Leider ist diese transnationale Bewegung an Deutschland weitgehend vorbeigegangen und bildet daher auch keinen Referenzpunkt im politischen Bewusstsein.
Gibt es nicht auch eine neue Qualität im schlechten Sinne, dass im Zuge dieser progressiven transnationalen Bewegungen auch immer rechte, fundamentalistische, antidemokratische Gegenbewegungen erstarken?
Tatsächlich ist der Internationalismus längst nicht mehr das Monopol der Linken, aber das war er eigentlich auch noch nie. Gerade die faschistischen Bewegungen in den 1920er und 1930er Jahren waren in gewisser Hinsicht auch transnationale Bewegungen. Sowohl Ideologien als auch Symbole verbanden die Falange von Francisco Franco in Spanien mit der Bewegung Benito Mussolinis in Italien und der nationalsozialistischen Bewegung in Deutschland. Auch in Großbritannien, den USA, Argentinien und vielen anderen Ländern gab es faschistische Bewegungen, die sich gegenseitig als Bündnispartner wiedererkannten. In den vergangenen Jahren sehen wir, wie eine neue transnationale Bewegung der Rechten entsteht. In dieser Bewegung mischen sich ein aggressiver Anti-Feminismus und Rassismus mit der Leugnung des menschengemachten Klimawandels und der Verbreitung von Verschwörungstheorien. Die Bewegung wird gestärkt durch die Tendenz zu mehr Autoritarismus und rechtem Populismus durch Regierungsprojekte wie dem von Donald Trump, Jair Bolsonaro oder der PiS in Polen sowie Parteien wie der AfD in Deutschland. Insofern gab und gibt es tatsächlich auch so etwas wie eine transnationale Rechte.
Der 2019 gestorbene Weltsystemtheoretiker Immanuel Wallerstein setzte große Hoffnung in die neuen sozialen Bewegungen, die im Gefolge von 1968 entstanden sowie in die Bewegung gegen neoliberale Globalisierung der 1990er und 2000er Jahre. Er bezeichnete sie als antisystemische Bewegungen mit einem großen politischen Potenzial für eine erneuerte Linke. Gilt das auch für die transnationalen Protestzyklen im Kontext des arabischen Frühlings?
Wallerstein und seine Mitkämpfer*innen haben mit der Weltsystemanalyse großes geleistet. Aus heutiger Sicht muteten aber einige der Hypothesen etwas schematisch und zu optimistisch an. Der Kapitalismus hat viele Impulse der neuen sozialen Bewegungen für seine Modernisierung inkorporiert. Die Welle der globalisierungskritischen Bewegung konnte trotz der temporären Erfolge der Linksregierungen in Lateinamerika um die Jahrtausendwende die weltweiten politischen Kräfteverhältnisse nicht positiv verändern. Das gilt leider auch für die Welle der Proteste gegen Austerität und Autoritarismus seit 2010. Sicher stimmt es allerdings, dass alle diese Bewegungen das Selbstverständnis der Linken tendenziell positiv verändert haben. Die Ökologiebewegung, die zweite und dritte Welle des Feminismus aber auch die globalisierungskritische Bewegung haben die Linke in den vergangenen Jahrzehnten demokratischer und pluraler gemacht. Die Sozialproteste gegen Austerität und Autoritarismus haben in vielen Ländern dazu geführt, dass sich linke Parteien revitalisieren und stärken konnten. Das strategische Konzept der „Bewegungspartei“ wurde entwickelt. In einigen Ländern wie Griechenland, Spanien und Portugal gelang es ihnen sogar Regierungen zu stellen oder sich an mitte-links Regierungen zu beteiligen. Schnell wurde allerdings klar, dass wer die Regierung stellt nicht unbedingt auch die Macht hat. Auch die Möglichkeiten für die Entwicklung einer internationalistischen Politik dieser neuen linken Kräfte schien sehr begrenzt zu sein.
Wie wird sich aus Deiner Sicht die COVID-19 Pandemie auswirken? Welche globalen Bewegungen und Kämpfe werden die Pandemie nicht nur überleben und überdauern, sondern durch die Pandemie möglicherweise sogar – ob der Dringlichkeit ihrer Anliegen – einen neuen Aufschwung erleben? Wird es eine neue historische Konjunktur globaler Proteste geben?
Im Zuge der COVID-19 Pandemie und der nun anstehenden globalen Rezession vertiefen sich alle bereits bestehenden sozialen Ungleichheiten und gesellschaftlichen Konflikte. Die kapitalistische Vielfachkrise radikalisiert sich vor unseren Augen in atemberaubender Geschwindigkeit. Die Folgen von COVID-19, oder besser gesagt des gesellschaftlichen und politischen Umgangs mit COVID-19, sind natürlich noch nicht wirklich absehbar. Tatsächlich hat die Krise im globalen Maßstab auch sehr unterschiedliche und widersprüchliche Auswirkungen. Sicher ist auf jeden Fall, dass es sich um eine Zäsur handelt. Es wird wie im Fall der Depression von 1929 ein Davor und Danach geben. Die Wahrscheinlichkeit, dass es in den kommenden Jahren zu neuen transnationalen Wellen von Sozialprotesten kommt, ist dabei groß. In vielen Ländern werden derzeit hunderte von Millionen Menschen ihrer Existenz beraubt. Nach Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO wurden 2020 weltweit 255 Millionen Vollzeitjobs vernichtet, viermal mehr als in der globalen Finanzkrise 2009. Das Einkommen der weltweiten Arbeiter*innenklasse ging im vergangenen Jahr um 3,7 Trillionen US-Dollar zurück. Dass sind 8,3 Prozent des weltweiten Gesamteinkommens aus bezahlter Lohnarbeit. Gleichzeitig wächst die Verschuldung von Staaten und Privatpersonen rapide. Der Internationale Weltwährungsfonds (IWF) geht vom schnellsten Anstieg von Staatsschulden in den vergangenen drei Jahrzehnten aus und warnt vor einer neuen Schuldenkrise. Gleichzeitig zeigen die neuen Zahlen von OXFAM, dass das Vermögen der zehn reichsten Männer der Welt während der Pandemie von Februar 2019 bis Dezember 2020 um fast eine halbe Billion US-Dollar auf 1,12 Billionen US-Dollar gestiegen ist. Der Schock der aktuellen Krise wird sicher nicht unmittelbar zu politischen Reaktionen führen. Aber die riesigen Proteste der Kleinbauern in Indien oder die Proteste im Libanon zeigen, wie wahrscheinlich es ist, dass es zu einem neuen Zyklus von Sozialprotesten kommen wird. Sehr wahrscheinlich.