Nachricht | Div. (Hg.): Oktoberrevolution 1917. Ereignis, Rezeption, künstlerische Deutung; Heidelberg 2020

Rezeption der Oktoberrevolution, insbesondere in der Kunst, steht im Zentrum

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Bereits das Cover dieses Sammelbandes gibt zu erkennen, dass es sich hier um eine Zusammenstellung von Texten handelt, die über reine Ereignisgeschichte hinausragt: Ein Bestandteil aus El Lissitzkys (1890-1941) konstruktivistischem Plakat «Mit dem roten Keil schlage die Weißen» (1919/20) geht in das Layout der Heidelberger Reihe über, in der dieser Band erschienen ist. Die Rezeption der Oktoberrevolution, insbesondere in der Kunst, steht im Zentrum. «Die Bolschewiki wussten um die Bedeutung der Kunst für den revolutionären Kampf und sahen in ihr eine starke Verbündete, um die neue Gesellschaft zu formen.» (S. 12). Dabei sind – abgesehen von Gerd Koenen – sämtliche Beitragende Angehörige der Universität Heidelberg, da es sich um die Niederschrift einer Ringvorlesung des Zentrums für Europäische Geschichts- und Kulturwissenschaften (ZEGK) aus dem Wintersemester 2017/18 handelt.

Koenens Essay, der von der Hinführung der drei Herausgeberinnen zum eigentlichen Inhaltsteil überleitet, stellt eine Zusammenfassung der Geschichte des 20. Jahrhunderts aus kommunistischer Perspektive dar. Mit rund 22 «Volksrepubliken» oder vergleichbaren Herrschaftsformen erreichte der Kommunismus 1979/80 seinen Zenit, als er rund ein Drittel des Weltsystems regierte. Dabei appelliert Koenen trotz des anschließend einsetzenden Niedergangs dafür, die «geläufige Formel vom ‚Ende des Kommunismus‘ mindestens zu relativieren» (S. 20). Wenn China die Sowjetunion als zweite Hegemonialmacht nach den USA abgelöst hat und dies durch einen intensivierten Wirtschaftsimperialismus manifestiert, so stelle dies keinen Widerspruch dar, sondern versinnbildliche vielmehr die Neuerfindung der Ideologie im 21. Jahrhundert. Wenn heute noch gleichermaßen Marx, Lenin, Mao und Konfuzius in der Kommunistischen Partei Chinas verehrt werden, so ist die Oktoberrevolution als eine Wurzel des gemeinsamen Narrativs klar erkennbar. Doch bei allem Erfolg dieser Herrschaftsform bleibt für Koenen die Frage offen: Wo finden sich heute «eigentlich die ‚Klassenkämpfe‘ der Arbeiterklasse, des Proletariats? In den Anfängen der russischen Revolution der Jahre 1905 und 1917 waren die konzentrierten und organisierten Arbeiterschaften sehr präsent und realer Akteur gewesen.» (S. 30f.).

Heinz-Dietrich Löwe beginnt seinen Beitrag über die drei liberalen Zeitungen Reč (Die Rede), Russkija Vedomosti (Die Russischen Nachrichten) und Utro Rossii (Der Morgen Russlands) treffender Weise mit einer indirekten Referenz auf Walter Benjamin: «Sieger machen und schreiben Geschichte.»1 (S. 37). Gleichzeitig weist er darauf hin, dass die Oktoberrevolution nicht voraussetzungslos entstanden sei. Die Geschichtsschreibung sei hierbei einer Erzählung in Kontinuitäten verpflichtet, da doch der politische Liberalismus ebenso als Vorläufer des Sozialismus/Kommunismus gelten müsse wie die Februarrevolution als Conditio sine qua non für die Oktoberereignisse 1917. Obwohl sich russische Liberale gelegentlich selbst als «evolutionäre Sozialisten» bezeichneten, war die Gewaltfrage («Diktatur des Proletariats») für sie ein unüberbrückbares Hindernis im Rahmen der Revolution. Und so «haben die Liberalen 1917 nicht deshalb verloren, weil sie ihre Versprechen gebrochen haben, sondern weil sie sie erfüllt hatten.» (S. 60).

Auch Joachim Steinheuer behandelt einen Aspekt zur Rezeption der Revolutionsereignisse und kommt zu dem Schluss, dass die Meldungen über die Entwicklungen in Russland in Westeuropa anfangs kaum Resonanz erzeugten. Sein musikwissenschaftlicher Beitrag versteht sich als der erste in einem interdisziplinären Potpourri, der auf die Geschichte durch die Linse einer anderen Geisteswissenschaft blickt. Ähnlich gehen auch die letzten fünf Beiträge des Sammelbandes von Bettina Kaibach, Henry Keazor, Mauro Fosco Bertola, Dorothea Redepenning und Barbara Mittler vor, wenn sie etwa Perspektiven via Film, Kunst und Literatur präsentieren.

Tanja Penter untersucht schließlich die Gewaltfrage im Kontext der «Revolutionstribunale» und konstatiert, dass diese weit weniger grausam waren als die Tscheka, durch die sie irgendwann abgelöst wurden. Wo anfangs noch Arbeiter- und Bauerndeputierte selbst entscheiden konnten, wie sie mit der «Bourgeoisie» verfahren wollten, regierte später der «Rote Terror». Sofern es unter Lenin noch eine gewisse Offenheit der Entwicklungen gegeben habe, der Weg in den «Archipel Gulag» (Alexander I. Solschenizyn) also nicht vorgezeichnet war, ließ Stalin keine Alternativen mehr zu. Aus dem prinzipiell offenen Theater des Revolutionstribunals seien schließlich die totalen Inszenierungen der Schauprozesse geworden. Felicitas Fischer von Weikersthal wiederum stellt politische Plakate in den Fokus und gesteht den Bolschewiki zu, dass sie aufgrund einer ideologischen Agenda die weitaus wirkungsvolleren Werbeelemente gestalteten als etwa die «Weißen», die ihnen im Bürgerkrieg vorzugsweise mit taktischen oder strategischen Bildwerken entgegentraten und dabei keinen größeren Rückhalt aus der Künstlerszene erhielten. Trotzdem: In der russischen Peripherie, das heißt primär im östlichen Asien, hatten damit beide Lager keinen Erfolg, denn wie Ivan Sablin schreibt, sei dort im Oktober 1917 nicht einmal spürbar gewesen, dass im europäischen Teil Russlands inzwischen die Bolschewiki zur Regierungsgewalt aufstrebten.

Der Rezeption der Revolutionen von 1905 und 1917 innerhalb der heterogenen deutschen Arbeiterbewegung widmet sich Katja Patzel-Mattern. Nach einer Relektüre älterer Forschungsarbeiten zum Thema führt die Autorin die Thesen zusammen: «Die Entwicklung der revolutionären Ereignisse bis Oktober 1917 führte dazu, dass die erhoffte einigende Wirkung auf die gespaltene deutsche Arbeiterbewegung verloren ging.» (S. 167). Abschließend sei noch auf den Beitrag von Manfred Berg eingegangen, der die Frage danach stellt, ob die Jahre 1917 bis 1920 womöglich eine Art «Ersten Kalten Krieg» darstellten, wozu ihm Woodrow Wilson und Wladimir I. Lenin als Prota- bzw. Antagonisten dienen. Letztlich schließt sich der Autor nicht dieser These an, die seiner Meinung nach in die Irre führe, indem sie Nationalsozialismus und Faschismus lediglich als Geplänkel des großen Dualismus aus Kapitalismus und Kommunismus begreifen. Berg tritt damit dezidiert und zurecht den Lehren der revisionistischen Schule Lloyd Gardeners, N. Gordon Levin, Arno J. Mayer und Wiliam A. Williams entgegen.

Ungeschickt wirkt in mehreren Beiträgen die wiederholte Verwendung des Begriffes «Machtergreifung» für die Ereignisse in Russland im Oktober und November 1917 (S. 10, 30, 32, 87, 105 usw.). Hier wäre eine geschichtssensiblere Sprache in Abgrenzung zu jenen Termini, die durch Selbstbezeichnungen der Nationalsozialisten besetzt sind, wünschenswert gewesen.

Felicitas Fischer von Weikersthal/Tanja Penter/Dorothea Redepenning (Hrsg.): Oktoberrevolution 1917. Ereignis, Rezeption, künstlerische Deutung (= Reihe: Heidelberger Abhandlungen zur Mittleren und Neueren Geschichte. Bd. 25), Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2020, 285 S., 48 EUR