Nachricht | Krieg / Frieden - Libanon / Syrien / Irak - Westasien im Fokus Syrien: Frauen im Kampf um ein selbstbestimmtes Leben

Meine Mutter zwischen zwei Revolutionen

Information

Lailas Familie, ca. 1968 im Yarmouk-Camp, Damaskus. Aisha: in der ersten Reihe, zweite Person von links.
Lailas Familie, ca. 1968 im Yarmouk-Camp, Damaskus. Aisha: in der ersten Reihe, zweite Person von links. Foto: Abdallah Alkhatib

Eine Freundin hat mir gesagt, dass ich als eine Person, die sich als Mann identifiziert, nicht über Feminismus schreiben könne, da ich auch von den Bedingungen des Patriarchats profitiere. Ich schreibe diese Zeilen also in Anerkennung dieser Verantwortung.

Dies ist der Versuch, die Geschichte meiner Mutter zu verstehen und wie große politische Entwicklungen, insbesondere die beiden Revolutionen – die syrische und die palästinensische – ihr ganzes Leben und ihre Entscheidungen sowie ihre gesellschaftliche Rolle beeinflusst haben. Die im Text erwähnten Dialoge sind nicht an einem einzigen Tag entstanden und auch nicht als offizielles Interview für diesen Artikel, sondern Umformulierungen unser morgendlichen Unterhaltungen bei einer Tasse Kaffee.

Dieser Text ist also das Ergebnis einer gemeinsamen Arbeit, in der es meine Aufgabe ist, den Teil zu tun, den meine Mutter und ich hassen, und das ist das Schreiben.

«Was meinst du mit dem patriarchalen System?», so antwortete Aisha, meine Mutter, 55 Jahre alt, mit einem sarkastischen Lachen auf die Frage, ob sie die Arbeit, die sie während der Belagerung von Yarmouk gemacht hat, als eine Rebellion gegen das patriarchale System sehe, das sie während ihres Ehelebens in eine beschränkte gesellschaftliche Rolle als Hausfrau gezwungen hatte, bevor es 2011 zum Ausbruch der syrischen Revolution kam, die ihr Leben auf den Kopf stellte.

Abdallah Alkhatib ist ein palästinensisch-syrischer Menschenrechtsaktivist aus Yarmouk, Damaskus. Seit 2011 war er Teil der friedlichen Bewegung gegen das Assad-Regime. 2017 gründete er mit anderen Aktivist*innen den literarischen Blog «sard.network». Sard hat sich zum Ziel gesetzt, einen Raum für syrische Narrative zu Revolution, Vertreibung, Exil, Krieg zu schaffen und so am Aufbau und der Dokumentation eines syrischen kollektiven Gedächtnisses teilzuhaben. Seit Anfang 2019 lebt Abdallah in Deutschland. Derzeit arbeitet er an einem Dokumentarfilm zur Belagerung von Yarmouk mit dem Titel «Little Palestine. Diary of a Siege».

Übersetzung des Textes aus dem Arabischen: Ansar Jasim

Die syrische Revolution hat den Weg zur Entstehung einer neuen syrischen feministischen Bewegung geebnet. Diese unterscheidet sich in ihrer Natur von der baathistischen Frauen-Bewegung, die von der syrischen Frauenunion vertreten wird. Die Frauenunion ist Teil mehrerer Gewerkschaften und Föderationen, die von der von Hafiz Al-Assad geführten Baath-Partei gegründet wurden, um das syrische Volk zu kontrollieren. Die Frauenunion gilt quasi als Regierungsorganisation. Zum einen, weil ihre Funktion auf die Propagierung der Errungenschaften des syrischen Regimes und der Forderung nach einigen formellen Rechtsansprüchen beschränkt ist, die der Politik der Partei nicht widersprechen, und zum anderen, weil sie keine wirkliche Unterstützung für die Frauen geleistet hat, in deren Namen sie arbeitet. Sie hat nicht einmal die Freilassung weiblicher Gefangener gefordert, die sich in Hunderten Gefängnissen des syrischen Geheimdienstes befinden. Sie hat zu den schwerwiegenden Verbrechen gegen Frauen in Syrien, sei es vor oder während der Revolution, geschwiegen.

Die neue feministische Bewegung unterscheidet sich auch von der ersten Welle des Feminismus, die bereits existierte, bevor die Baath-Partei die Macht in Syrien übernahm, und in gewisser Weise einem «weißen Feminismus» am nächsten kommt. Dieser Feminismus der ersten Welle konzentrierte sich nur auf die Erfahrungen von Frauen aus der Mittelklasse und ignorierte die «sich überschneidenden» Realitäten und Erfahrungen der Unterdrückung von Frauen anderer nationaler Identitäten und sozialer Schichten. Dies wird in der Analyse der Diskurse jener Zeit und der Art der Forderungen deutlich, die sich hauptsächlich auf verfassungsrechtliche und rechtliche Fragen konzentrierten, die vor allem für die Mittelklasse von Belang waren.

Was die sich im Entstehen befindliche feministische Bewegung im Kontext der syrischen Revolution auszeichnet, war erstens, dass an ihr Frauen unterschiedlicher nationaler Hintergründe und sozialer Schichten teilnahmen – insbesondere aus ländlichen, marginalisierten und auch sehr konservativen Gebieten wie den Regionen Damaskus und Aleppo. Sie ist vielfältig, aber nicht einheitlich. Weder sind alle an der Bewegung beteiligten Frauen Feministinnen – wie meine Mutter, die die Bedeutung dieses Begriffs nicht kennt –, noch sind sich alle Feministinnen hinsichtlich der Definition des Feminismus und ihrer Vision oder der Form des Kampfes gegen das patriarchale System einig.

Zweitens zeichnet sie sich durch ihre Vielschichtigkeit aus: Sie ist eine soziale Bewegung gegen ein tief verwurzeltes patriarchales System, das Frauen ihrer grundlegendsten Rechte beraubt und sie als Geiseln für die sozialen Funktionen hält, die ihnen von Bräuchen und Traditionen auferlegt werden. Dieses System sperrt Frauen in Stereotypen ein, die ihnen von einer männlichen, kulturellen, diktatorischen Autorität aufgezwungen werden.

Gleichzeitig ist es eine politische Bewegung gegen ein diktatorisches Regime, das alle Syrer*innen ihrer Rechte beraubt. Dennoch unterdrückt das Regime die syrischen Frauen noch intensiver, denn es entzieht ihnen selbst jene Rechte, die es männlichen Syrern gewährt, wie zum Beispiel das Recht, die Staatsangehörigkeit zu übertragen.

Mit seiner Sozial-, Rechts-, Wirtschafts- und sogar Bildungspolitik stärkt das Regime die Autorität des Mannes gegenüber der Frau, und seine repressive Praxis gegen das gesamte syrische Volk erzeugt schreckliche Gewaltzyklen, in denen die syrischen Frauen den höchsten Preis zahlen, weil sie das schwächste Glied sind.

Auf der anderen Seite richtet sich dieser Feminismus auch gegen die männlichen Strömungen in der syrischen Opposition selbst und ihre Organisationen wie die syrische Koalition (gemeint ist die «Nationalkoalition syrischer Revolutions- und Oppositionskräfte») und andere, die versuchen, die Rolle der revolutionären Frau zu marginalisieren und sie von Machtpositionen fernzuhalten. Sie nutzen es aus, dass Frauen vor allem in die praktische Arbeit vor Ort, insbesondere die humanitäre Arbeit, involviert sind. So versuchen sie, die Aktivistinnen in ein neues Rollenklischee hineinzudrängen. Eine Studie des Jusoor Research Center gibt den Prozentsatz der Frauenbeteiligung am Syrischen Nationalrat, der ersten politischen Einheitsorganisation der Opposition, mit 7,1 Prozent an, während der Anteil später auf 12 Prozent anstieg, bevor das politische Gremium in der Syrischen Koalition am 26. April 2016 beschloss, eine Frauenquote von 15 Prozent festzulegen. Diese bleibt noch weit unter dem emanzipatorischen Anspruch der feministischen Bewegung der syrischen Revolution.

Die neue feministische Bewegung richtet sich ebenfalls gegen einige zivilgesellschaftliche Organisationen feministischer Ausrichtung, die versuchen, Frauenrechte in ihrem Kampf zu monopolisieren und ihre Führung auf gebildete und intellektuelle Frauen zu beschränken. Sie verweigern Frauen wie Aisha – meiner Mutter – ihr demokratisches Recht, zu beeinflussen, statt beeinflusst zu werden. Diese Frauen werden als «Opfer» behandelt, die «Ermächtigung» brauchen, und nicht als Personen, die selbst Subjekte ihrer Taten sind und unterstützt werden sollten. Darüber hinaus tragen Frauen weiterhin die Lasten des Haushalts, der Kinder und der zusätzlichen Not, die durch den Krieg verursacht wurde.

Um aber zu meiner Mutter und ihrer Frage zurückkehren, was ich unter Patriarchat verstehe, so habe ich ihr einfach geantwortet: «Die Autorität meines Vaters über dich» – und die hat vor langer Zeit begonnen.

Damals, als ich frei war

Ich habe nicht viele Erinnerungen an meinen Großvater und meine Großmutter mütterlicherseits, weil sie gestorben sind, als ich noch klein war. All meine Erinnerungen an sie beziehen sich auf eine Gruppe von Bildern, die meine Mutter immer noch in einer Süßigkeitenbox aus Metall aufbewahrt. Als ich diese Schachtel zum ersten Mal sorgfältig im Schrank meiner Mutter versteckt sah, war ich so glücklich, weil ich erwartet hatte, dass ich Kekse in ihr finde. Tatsächlich enthielt sie nur eine Reihe von Erinnerungsfotos. In derselben Schachtel befinden sich Bilder von meiner Mutter und ihren vier Schwestern, die die Tracht der palästinensischen Pfadfinder und Mädchenführer, eine Jugendorganisation der World Organization of the Scout Movement, tragen. Zu jener Zeit trug sie keinen Hijab und ihre Haare waren sehr kurz, ähnlich dem stereotypischen Aussehen eines jungen Mannes.

Meine Mutter gehört zu einer Familie, die im Yarmouk-Camp lebte, einem Viertel im Süden der syrischen Hauptstadt Damaskus mit der weltweit größten Anzahl palästinensischer Flüchtlinge. Die Familie bestand aus neun Kindern, einem Vater und einer Mutter. Der Vater musste, wie so viele palästinensisch-syrische Flüchtlinge Anfang der 1970er Jahre, in die Emirate reisen, um Arbeit zu finden. Die Mutter trug die Last, neun Kinder, darunter fünf Mädchen, zu erziehen und zu betreuen. Entsprechend der Verantwortung meiner Großmutter wird die Familie meiner Mutter bis heute bezeichnet: «Lailas Familie». Dies ist im regionalen Kontext nicht üblich, wo Familien nach den männlichen Familienmitgliedern benannt werden. Es ist aber eine implizite Anerkennung der großen Rolle, die meine Großmutter beim Schutz und bei der Erziehung ihrer neun Kinder gespielt hat.

Vielleicht war die Abwesenheit des Vaters eine gute Gelegenheit für meine Mutter, unter dem Einfluss einer starken Frau wie meiner Großmutter aufzuwachsen, die ihren Töchtern den Raum gab, relativ frei in ihren Lebensstilen und Entscheidungen zu sein – einschließlich der politischen. So entschloss sich meine Mutter, der Jugend der Fatah-Bewegung beizutreten. Auch alle ihre Schwestern taten dies – außer Rajaa, die sich für die «Demokratische Front» entschied, weil sie sich als Linke sah. Meine Tante sagte mir eines Tages, dass alle Frauen links sein müssten und ich lachte damals, weil ich die Bedeutung ihrer Worte nicht verstand, und fragte sie, ob sie ein paar Kekse habe.

Das Yarmouk-Camp – der Ort, mit dem sich meine Mutter verbunden fühlte – war in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts ein wesentlicher Hort der Unterstützung der palästinensischen Befreiungsbewegung, die 1965 begann und von der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) gegen Israel geführt wurde. Aus Yarmouk kamen nicht nur Fedajin (Mitglieder bewaffneter palästinensischer Gruppen), sondern auch eine intellektuelle Elite und Zivilkader für alle Arten von Arbeit (Medizin, humanitäre Hilfe, Bildung, Medien). Das Ziel war die Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge in ihre Heimat, aus der sie im Zuge des Krieges von 1948 vertrieben wurden, sowie der Aufbau eines palästinensischen Staates.

Yarmouk war damals Schauplatz einer großen politischen Bewegung, in der Frauen eine wichtige Rolle spielten, aber als Teil einer allgemeinen politischen Bewegung, die sich zu dieser Zeit auf den Aufbau des palästinensischen Staates konzentrierte und nicht explizit feministisch war. Dennoch hatten die palästinensischen Frauen in den Camps in Syrien im Vergleich zu syrischen Frauen zu jener Zeit einen großen Beteiligungsspielraum.

Meine Mutter sagt über diese Zeit: «Ich war frei genug, um an Jugendcamps teilzunehmen, lange Tage außerhalb des Hauses zu verbringen und mich mit Jungen, eher als mit Mädchen, anzufreunden. Wir haben damals an Workshops und Demonstrationen teilgenommen, in denen das Recht der Palästinenser*innen auf Selbstbestimmung gefordert wurde. Es gab riesige Demonstrationen, genau wie in der syrischen Revolution.» Und sie fügt hinzu: «Wenn abends das Feuer im Hof des Pfadfinderlagers angezündet wurde, haben sich alle darum versammelt und eines der schönsten und berühmtesten Lieder der palästinensischen Revolution gesungen. Unsere Stimmenbänder rissen fast, als wir die Strophe erreichten ‹Wenn der Freie und die Freie zu Liebenden werden auf deinem Weg, oh Revolution› (yom al-hurr yilaqi al-hurra ashaaq bi-darbak ya thawra).» Dann fährt sie fort: «Ich erinnere mich genau an die Blicke der Jungs, als ich und meine vier Schwestern einmal aus dem Lager zurückkamen und wir sie flüstern hörten ‹Das sind Lailas Mädchen› – mit den Hinweis auf meine Mutter. Wir lächelten und gingen erhobenen Hauptes weiter.»

Aisha in einem Pfadfinder-Camp, ca. 1980
Aisha in einem Pfadfinder-Camp, ca. 1980 Bild: Abdallah Alkhatib

«1982 war ich 16 Jahre alt, als dein Vater um meine Hand anhielt. Ich stimmte direkt zu. Ich war sehr jung und er war sehr nett. Ich begann den Hijab zu tragen, gab meine früheren Aktivitäten mit den Pfadfindern auf und konzentrierte mich auf meine Aufgaben, die Hausarbeit, eure Geburten und eure Erziehung.» Sie sagt diesen Satz mit leiser Stimme und mit weniger Begeisterung als bei ihrem Bericht über ihre «revolutionäre Vergangenheit». Als ich sie fragte, warum sie den Antrag meines Vaters angenommen hat, obwohl sie einen vergleichsweise großen Spielraum an Freiheit genoss, antwortet sie, dass der Grund «die soziale Norm in unserer Gesellschaft» sei. Es sei diese Norm, die der Frau ihren Wert gibt, wenn sie zum «Anhang» einer männlichen Person wird, das Haus putzt und sich um die Kinder kümmert, Essen zubereitet und die Finanzen der Familie wie auch ihre intimen Beziehungen verwaltet. Diese Norm war es, aus der die wichtigste existenzielle Frage für Frauen in unserer Gesellschaft hervorging: «Wann wollen wir uns über dich freuen?». Als ob die Ehe die größte Errungenschaft sei, die eine Frau erreichen muss. Ich glaube nicht, dass das die Antwort meiner Mutter gewesen wäre, hätte ich sie damals gefragt.

Ich glaube auch, dass die Niederlage der PLO im Libanon nach der Belagerung von Beirut durch die israelische Armee und die «Libanesischen Kräfte» sowie die Tatsache, dass die PLO gezwungen war, den Libanon in Richtung Tunesien, Griechenland und Jemen zu verlassen, eine große Rolle gespielt hat – ebenso wie die Entstehung eines Konflikts zwischen der PLO und dem syrischen Regime im gleichen Zeitraum sowie die Schließung aller palästinensischen zivilen Institutionen in Syrien und die Verhaftung Hunderter Palästinenser*innen, die Arafat unterstützt hatten.

Dies erzeugte einen allgemeinen Niedergang im politischen Leben der Palästinenser*innen und warf einen Schatten auf ihr Leben und ihre Entscheidungen. Und während mein Vater neben ihr sitzt, fügt meine Mutter mit einer Stimme, die nicht frei von Sarkasmus ist, hinzu: «Ich war frei, bevor ich dich heiratete.»

Mein Vater antwortet scherzhaft: «Als ich um dich anhielt, spieltest du Dahl [ein populäres palästinensisches Spiel mit Murmeln] auf der Straße und einer der Jungs hat dich mit dem Namen ‹Ahmed› statt Aisha gerufen. Du kannst froh sein, dass ich um dich angehalten habe!»

Ein freudiges Lächeln umspielt das Gesicht meiner Mutter, als sie ihren alten Namen «Ahmed» hört. Übrigens nannte sie einen meiner fünf Brüder auch Ahmed.

Ich bin wieder frei

Die Haltung meiner Mutter zur Revolution in Syrien war klar und eindeutig. Sie war inmitten der palästinensischen Revolution aufgewachsen, dort war sie frei. Daher verstand sie auch die Bedeutung der syrischen Revolution. Instinktiv wusste sie, dass die Revolution der Weg war, ihre persönliche Freiheit wiederzuerlangen. Deswegen schloss sie sich von Anfang der Revolution an, leistete medizinische und humanitäre Hilfe und nahm an Demonstrationen gegen die mit dem syrischen Regime verbündeten palästinensischen Fraktionen teil.

Nachdem das syrische Regime Yarmouk 2013 vollständig belagerte, den Bewohner*innen des Camps das Betreten und Verlassen des Lagers komplett verwehrt wurde, sie keinen Zugang zu Wasser, Strom, Medikamenten und Lebensmitteln hatten und mein Vater wegen «Finanzierung des Terrorismus» durch das Regime verhaftet wurde, blieb meine Mutter allein in Yarmouk. Sie entwickelte sich von einer Krankenpflegerin zu einer mobilen Pflegestation für jene älteren Menschen, die noch im damaligen Palästina geboren worden waren und lieber in Yarmouk blieben, als ein weiteres Mal vertrieben zu werden.

Unter den Bedingungen einer Belagerung, die alle Formen sozialer Bindungen zerstörte, agierten meine Mutter und der Rest der Frauen, die im Lager arbeiteten, völlig anders als zuvor. Es schien ganz so, als ob die Leute sie mit einer neuen Härte sahen. Zum Beispiel zögerte meine Mutter nicht lange, bevor sie mitten im Lager ohne irgendeinen sozialen Druck mit dem Motorradfahren anfing, um sich einfacher zu bewegen und die im ganzen Camp verstreuten älteren Menschen versorgen zu können – und dies selbst in der Zeit, als Daesh (ISIS) das Camp kontrollierte.

Aisha 2017 während der Belagerung von Yarmouk. Das Camp war damals schon von Daesh besetzt.
Aisha 2017 während der Belagerung von Yarmouk. Das Camp war damals schon von Daesh besetzt. Bild: Hamada Hameed

Am Anfang war sie die Krankenschwester Aisha, die ihren Tag nicht beginnen würde, bevor sie nicht eine morgendliche Tour zu allen Verwundeten des Lagers gemacht, ihnen Witze erzählt und ihnen Essen und Medizin gegeben hatte. Es dauerte nicht lange, bis sie ihre Idee eines Komitees umsetzte, das sich um die älteren Menschen im Lager kümmerte. Ihre Rolle nicht auf die humanitäre Arbeit beschränkt, sondern sie engagierte sich auch organisatorisch und politisch, was ihr und vielen Frauen ermöglichte, an den politischen Entscheidungen im Camp teilzunehmen.

Aishas Teilnahme an der gemeinschaftlichen Arbeit war für viele Frauen im Camp eine Motivation, sich gesellschaftlich und politisch zu engagieren und neue soziale Rollen zu übernehmen.

Shadia war die einzige Landwirtin, die Urban Farming in Yarmouk (Yarmouk ist ein urbanes Gebiet mit wenigen Grünflächen. Um Nahrungsmittel zu anpflanzen zu können, wurden Anbauflächen durch das Entfernen von Teer auf Straßen oder aber das Reinigen eines ehemaligen Sportstadions, das zur Müllkippe geworden war, geschaffen. Saatgut musste teilweise in das Stadtviertel geschmuggelt werden und auch die Wasserversorgung blieb schwierig.) betrieb, um die Belagerten mit Lebensmitteln zu versorgen. Einmal fiel eine Granate auf das Feld, auf dem wir alle arbeiteten. Alle rannten zu einem leeren Gebäude, um sich zu verstecken – außer Shadia, die in die andere Richtung lief, um zu sehen, ob es Verletzte gab.

Nada war für die Verteilung von Nahrungsmitteln verantwortlich und die Sprecherin auf den Fernsehbildschirmen.

Nawal leitete die erste alternative Schule in Yarmouk – unter der Erde. Sie entfernte alle Lehrmaterialien, die Stereotypen von Frauen aufrechterhalten und die die Familie in Bildern und Worten darstellen, die auf geschlechtsspezifischen Rollen in der Gesellschaft basieren: Die Mutter kocht, bügelt, wischt und wäscht ab, und der Vater arbeitet außerhalb des Hauses in verschiedenen Berufen. Ohne die Revolution wäre es ihr nicht möglich gewesen, diese Dinge aus dem Curriculum zu streichen.

Rana war die Direktorin des ersten Zentrums für psychologische Unterstützung von Kindern während der Belagerung.

Nawar war die erste Kämpferin in den Reihen der Freien Syrischen Armee.

Aisha und die Frauen des Camps konnten sich Räume neu aneignen und die soziale Rolle von Frauen in Syrien neu definieren. Sie und Hunderte andere Frauen bilden das Rückgrat der neuen feministischen Bewegung, die auf Frauen als Heldinnen und nicht als Opfern beruht.

Wenn die Belagerung von Yarmouk heute vor meiner Mutter erwähnt wird, stürzt sie sich mit Begeisterung in Erzählungen über ihre Erfahrungen und das, was sie dort getan hat. Damit erinnert sie mich an denselben Impuls, mit dem sie über ihre Zeit in der palästinensischen Revolution gesprochen hat. Ihre Erzählungen sind Teil der oral history und des lebendigen Archives der syrischen Revolution. Während meine Mutter sich in ihren Erzählungen und den Errungenschaften während der Revolution verliert, denke ich bei mir, «wenn es diese Revolution nicht gegeben hätte, dann könnten meine Mutter und Tausende Frauen heute nicht über ihre Errungenschaften und Erfahrungen als unabhängige und selbstständige Persönlichkeiten, die kein ‹Anhang› einer männlichen Person sind, erzählen. Sie hätten nicht über Dinge jenseits von Kindererziehung oder Hausarbeit sprechen können, die leider oft als zweitrangige Arbeit gesehen wird. Und dann wäre mir die Seite meiner Mutter vorenthalten worden, die die Quelle meiner Kraft war in den acht Jahren, die ich während der Revolution in Syrien verbracht habe.»

Für viele Europäer*innen, Forschungszentren und westliche Medien ist es eine einfache Sache, die syrische Szenerie auf einen Bürgerkrieg zu reduzieren, ohne zu erkennen, dass die syrische Revolution nicht nur eine soziale Bewegung gegen ein Unterdrückungsregime ist, die darauf abzielt, es zu stürzen und durch ein demokratisches System zu ersetzen, sondern eine gesellschaftliche Revolution gegen die vorherrschenden Normen und gegen ein tief verwurzeltes patriarchales System, das vom syrischen Regime genährt und unterstützt wird. Was für euch durch eine Wortwahl negiert wird, ist eine Realität für Menschen, die ihr ganzes Leben nicht die geringste Möglichkeit hatten, ihre Wünsche, Bedürfnisse, Träume, Meinungen auszudrücken.

Das Problem mit dem Begriff «Bürgerkrieg» beschränkt sich nicht nur auf die semantische Ebene des Wortes, welches sich lediglich auf Männer bezieht – da diese normalerweise assoziiert werden mit den Kämpfenden im Krieg –,sondern es verdeckt die Existenz von Frauen komplett – außer als Opfer. Es stellt eine Gleichheit zwischen Opfer und Henker in vager und unklarer Sprache her und missachtet die kollektiven und individuellen Opfer der Syrer*innen, die ihre politische Freiheit erlangen und einen demokratischen Staat aufbauen wollten. Es ignoriert gezielt, was Frauen getan haben, um sowohl ihre politische als auch ihre soziale Freiheit zu erlangen.

Meine Mutter hat die Freiheit, die sie sich in ihrem Leben wünscht, zweimal gelebt, einmal als Kämpferin in der palästinensischen Revolution und einmal als Aktivistin in der syrischen Revolution. In beiden Fällen war mein Vater nicht da und wir Kinder spielten auch keine Rolle.

Heute neutral vor den Ereignissen in Syrien zu stehen und dem syrischen Regime zu erlauben, die Revolution endgültig niederzuschlagen, bedeutet zwangsläufig, die Rückkehr zu alten sozialen Strukturen zuzulassen. Mit einem kleinen Unterschied: diese Strukturen werden grausamer und härter zurückkommen als vorher.

Die Ersten, die den Preis zahlen werden, sind die Frauen und meine Mutter, so wie es auch geschah, als die palästinensische Revolution besiegt wurde.

Trotzdem findet das Narrativ meiner Mutter keinen Weg in den öffentlichen Raum, weil es nicht dem Diskurs der palästinensischen feministischen Bewegung entspricht, die dazu neigt, die syrische Revolution zu ignorieren. Genauso wenig entspricht es der an NGOs orientierten Rhetorik einiger syrischer feministischer Organisationen. Diese erheben einen Monopolanspruch und nehmen damit den Frauen, die praktisch vor Ort kämpfen, das Recht, auf ihre Weise zu sprechen. Deren Erzählungen werden in einen Rahmen von Projektrhetorik gepresst und ihre Erfahrungen wie Bilder in einer Fotoausstellung vorgeführt.

Dies ist der zehnte Jahrestag der syrischen Revolution und meine Mutter befindet sich weit weg von ihrem Haus in Yarmouk, das Mitte 2018 vom syrischen Regime zerstört wurde, und weit weg von ihrer zweiten Heimat Syrien. Als meine Mutter gezwungen war, Yarmouk zu verlassen, flüchtete sie im Schutz der Dunkelheit aus Angst vor dem wahnsinnigen Bombardement der syrischen und russischen Kampfflugzeuge. Sie vergaß, ihre offiziellen Papiere und ihren Ausweis mitzunehmen. Aber sie vergaß nicht, die metallene Süßigkeitenkiste mit ihren Bildern mitzunehmen.

Die Schachtel, von der ich damals dachte, dass sie Süßigkeiten enthielt, war nichts anderes als die Identität meiner Mutter, die Identität von Aisha.